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Die Rücktransformation soldatischer Identitäten

Seit der offenen Eskalation des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine am 24. Februar 2022 ist der Begriff der Zeitenwende in aller Munde.[1] Die neue Normalität hat vermeintliche Gewissheiten westlicher Gesellschaften der letzten 30 Jahre erschüttert. Politik und Streitkräfte, aber auch zivile Institutionen suchen nach neuen Antworten. So stellt etwa das Zentrum Glaube & Gesellschaft der Universität Freiburg i. Ue.[2] zur „Zeitenwende in der Friedensethik“ in einer gleichnamigen Podcast-Serie die berechtigte Frage: „War der Pazifismus eine naive Idee?“[3] Es liegt daher nahe, sich auch mit der Zeitenwende in der Militärethik zu befassen.

Militärethik kann Dieter Baumann zufolge nach den vier Ebenen der jeweiligen Verantwortungsakteure aufgeschlüsselt werden: Staat, Armee, militärischer Führer und Soldat.[4] Im Folgenden werde ich die möglichen Auswirkungen der Zeitenwende zunächst getrennt nach diesen Akteuren skizzieren. Dabei werden Scherkräfte zwischen den einzelnen Ebenen sichtbar. Die gleichzeitige Betrachtung der anstehenden Transformation auf allen Ebenen bedingt einen integrativen Ansatz und damit zwangsläufig eine gewisse Vereinfachung. Gerade deshalb eignet sich das I/O-Modell nach Charles C. Moskos[5], das in den 1970er-Jahren den Diskurs um die Transformation der amerikanischen Streitkräfte von der Wehrpflicht zur Berufsarmee prägte[6]. Wenn dessen bekannte konzeptionelle und empirische Schwächen[7] von Beginn weg adressiert und entsprechende Forschungsstränge aus anderen Wissenschaftszweigen aufgenommen werden, öffnet sich eine Perspektive zur Weiterentwicklung der militärethischen Erziehung und Ausbildung, die sich an empirischen Befunden heutiger Streitkräfte orientiert.

Transformation auf vier Ebenen

Auf der staatlichen Ebene sind die strategischen Transformationen der Zeitenwende offensichtlich. Die NATO ist dem Hirntod[8] entgangen – wieder einmal leben Totgesagte länger. Debatten beidseits des Atlantiks zu den Waffenlieferungen an die Ukraine zeugen von einer wiederbelebten militärethischen Auseinandersetzung im öffentlichen Raum. Die Militärausgaben nehmen wieder zu, um die Versäumnisse der Vergangenheit wenigstens teilweise zu kompensieren. Die entsprechend zu erwartenden innenpolitischen Verteilungskämpfe zeichnen sich bereits ab.

Getrieben vom Primat der Politik und den veränderten finanzpolitischen Rahmenbedingungen sind es die Streitkräfte an sich, welche eine eigentliche Rücktransformation anstreben: Deutschland erhöht seine Fähigkeiten zur Landes- und Bündnisverteidigung mittels Sondervermögen[9], Österreich diskutiert die Verdoppelung seiner Verteidigungsausgaben bis 2027[10] und die Schweizer Armee will mit einem Zielbild für den Aufwuchs „die Fähigkeiten, die Organisation, die Ausbildung und die Infrastruktur konsequent auf die Verteidigung ausrichten“[11]. Mit dieser Rückbesinnung verschieben sich auch die militärethischen Fragen; der Diskurs zur auf Auslandseinsätze[12] fokussierten „Einsatzarmee“[13] rückt in den Hintergrund und klassische Themen, etwa der Kampf im überbauten Gelände[14], gewinnen wieder an Bedeutung.

Während begründete Zweifel bestehen, wie konsequent die Politik in Westeuropa ihren Worten auch Taten folgen lässt[15], steht für die militärischen Führungskräfte aller Stufen außer Frage, dass die Transformation auf dem ukrainischen Gefechtsfeld heute Realität ist – und in einem allfälligen Krieg mit westlicher Truppenbeteiligung ebenso unvermeidlich wäre. Massive Luftschläge[16] und erbitterte Infanteriekämpfe[17] haben wenig mit dem zu tun, woran wir uns militärisch seit der letzten Wende, dem Mauerfall, gewöhnt hatten. Das verloren gegangene Wissen westlicher Unteroffiziere und Offiziere über das Gefecht der verbundenen Waffen wiederzuerlangen, wird jedoch noch Jahre in Anspruch nehmen.

Tatsächlich ist die Abdankung des konventionellen Krieges[18] und seine Ablösung durch den Cyberwar[19] nicht eingetroffen. Zugleich stellen die aktuellen Entwicklungen mehr als eine bloße Rückkehr zu den Mustern des Kalten Krieges dar. Was die Ukraine im Jahr 2023 erleidet, erinnert eher an den Ersten Weltkrieg. Dies war durchaus bereits 2015 zu erahnen, etwa anhand der französischen Videoreportage, in welcher ein junger ukrainischer Soldat urteilte: „Ich glaube nicht, dass sich das Leben in diesen Schützengräben wesentlich von dem im Ersten Weltkrieg unterscheidet.“[20] Wer direkt betroffen – oder ganz konkret: beschossen – wird, lernt dies schnell. Die Transformation der soldatischen Perspektive in den westlichen Streitkräften dauert jedoch noch an. Ihrer muss sich die Militärethik als eigentliche Berufsethik annehmen, um das notwendige Fundament der Persönlichkeitsbildung zu legen.

Diese Übersicht kann auf dem gegebenen Raum notgedrungen nur oberflächlich sein; sie reicht jedoch aus, um zwei Dinge aufzuzeigen: Einerseits kommt es auf jeder Ebene, verglichen mit den vorangehenden drei Dekaden, zu einer Gegenbewegung. Andererseits erfolgen diese Bewegungen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit.

Tabelle 1: Westliche Streitkräfte sind seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine Veränderungen ausgesetzt, die militärethische Debatten nach sich ziehen.

Ebene

Veränderung des Kontextes

Beispielhafte militärethische Debatten

Staat

Rückkehr der Machtpolitik

 
  • Qualität und Quantität von Waffenlieferungen
  • Neuauflage von Bündnisoptionen, Hinterfragung neutraler Positionen (FIN, SWE, CHE, …)
  • Steigende Rüstungsausgaben („Guns vs. Butter“)
 

Armee

Rückbesinnung auf Landes- und Bündnisverteidigung

 
  • Kollateralschäden im eigenen Land (Bevölkerung, Kulturgüterschutz)
  • Rückbesinnung auf die ursprüngliche Raison dʼÊtre
 

Militärischer Führer

Rückausrichtung auf das konventionelle Gefecht (mit hybrider Komponente)

 
  • Urbane Kriegsführung im eigenen Raum
  • Flächendeckender Einsatz bewaffneter Drohnen
 

Soldat

Rückkehr zur originären Aufgabe als Landesverteidiger

 
  • Landesverteidiger in Ausbildung statt bewaffneter Entwicklungshelfer im Einsatz
  • Wehrpflicht und Reservistenwesen
  • (Extrinsische und intrinsische) Motivation („Dulce et decorum est pro patria mori“)
 

Tabelle 1 nennt beispielhaft einige militärethische Debatten, die aus diesen Entwicklungen folgen mögen; diese sind jedoch an anderer Stelle zu führen[21]. Der Fokus soll hier auf den bereits postulierten Scherkräften liegen. Dazu eignet sich das Institution/Occupation-Modell von Charles C. Moskos als Ausgangspunkt. Es sei deshalb kurz erläutert.[22]

Das Institution/Occupation-Modell und seine Umkehr

Um den 1973 erfolgten Wandel der amerikanischen Streitkräfte von der Wehrpflicht zur „All-Volunteer Force“ zu beschreiben, stellte Charles C. Moskos, der als Vater der Militärsoziologie gelten kann, das sogenannte I/O-Modell vor. In seiner Wahrnehmung wandelten sich die Streitkräfte von einer Institutionsui generis hin zu einer Organisation, die nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten funktioniert. Für diesen Pol der Entwicklung wählte Moskos den Begriff der Occupation. Bereits in der Terminologie wird die später kritisierte Unschärfe deutlich: Während Institution der Makroebene zuzuordnen ist, fokussiert Occupation auf die Mikroebene, konkret das Berufsverständnis des einzelnen Soldaten, wie es Moskos selbst in seinem Aufsatz „The all-volunteer military: Calling, profession, or occupation?“ ausgearbeitet hat[23]. Dessen ungeachtet hat das I/O-Modell die militärsoziologischen Debatten, primär in den Vereinigten Staaten, nachhaltig geprägt.

Ein Abgleich mit den Akteuren des Baumann’schen Ansatzes offenbart, dass das I/O-Modell gleichzeitig die zweite Ebene „Armee“ und die vierte Ebene „Soldat“ anspricht. Gerade diese Verschränkung dürfte aber Moskosʼ Kernaussage sein: Als entschiedener Befürworter der Wehrpflicht glaubte er in deren Aufhebung den wesentlichen Treiber für die schwindende Rolle der Streitkräfte in Staat und Gesellschaft zu erkennen[24], womit auch Baumanns erste Ebene „Staat“ tangiert wird (Abbildung 1). Der „militärische Führer“ als Akteur der dritten Ebene kann schließlich als Scharnier zwischen den Hauptakteuren gesehen werden, der besonders gefordert ist, wenn Scherkräfte zwischen Organisation und Individuum aufkommen.

Abbildung 1: Charles C. Moskos beschreibt mit seinem I/O-Modell eine Transition von der Institution (links) zur Occupation (rechts). Letztlich beinhaltet dies aber sowohl einen Wandel auf der Ebene „Streitkraft“ (unten) als auch auf der Ebene „Soldat“ (oben), was Moskos nicht explizit unterschieden hat.

Auch wenn Moskos seine Konzeption später zum Modell der postmodernen Streitkräfte[25] verfeinert hat, bleibt die Strahlkraft seiner Vereinfachung bestehen. So sahen sich etwa Nina Leonhard und Heiko Biehl 2012 bei der deutschen Debatte zur Aussetzung der Wehrpflicht an das I/O-Modell erinnert.[26] Dies soll allerdings nicht dazu verleiten, das Modell nur auf den Wechsel zu einer Berufsarmee anzuwenden. Auch die Entwicklung in der Schweiz, welche die Wehrpflicht nie abgeschafft hat, kann als Trend von einer normativ geprägten Institution zu einer rein funktionalen Organisation verstanden werden: 1988 schrieb der Schweizerische Bundesrat in seiner Botschaft zur Armeeabschaffungsinitiative: „Die Schweiz hat keine Armee, sie ist eine Armee.“[27] 20 Jahre später führte er im „Sicherheitspolitischen Bericht 2010“ die Armee nur noch als zweites von insgesamt acht sicherheitspolitischen Instrumenten auf. Aus diesem Kontext stammt folgendes Beispiel für die bereits erwähnten Scherkräfte: Als die Schweizer Armee sich ab 2004 auf subsidiäre Einsätze im Inneren ausrichtete, führte dies zu Kündigungen von Berufsmilitärs, welche die Entwicklung nicht mit ihrem Selbstverständnis im Dienst der Landesverteidigung in Einklang bringen konnten.[28]

Natürlich kann eine solche anekdotische Evidenz die größte Schwäche von Moskosʼ Konzeption nicht wettmachen: Dem I/O-Modell mangelt es, wie auch der Nachfolgekonzeption der postmodernen Streitkräfte, an theoretischem Fundament, konzeptioneller Schärfe und letztlich empirischer Überprüfung. Dessen ungeachtet sind beide Modelle „in der militärsoziologischen Diskussion auf breite Resonanz gestoßen“[29] und wurden entsprechend zur Beschreibung der Transformationen europäischer Streitkräfte nach der Wende 1989 bis hin zur Zeitenwende 2022 herangezogen.

Unter Vorbehalt dieser berechtigten Kritik drängt sich nun aber die Frage auf, ob wir seit dem offenen Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 Zeitzeugen einer umgekehrten Transformation werden. Der Versuch sei unternommen, dies zunächst im Sinne eines O/I-Modells, also in Moskosʼ Begriffen von der Occupation zurück zur Institution, zu diskutieren, um anschließend das geeignete theoretische Fundament und eine mögliche empirische Herangehensweise vorzuschlagen, um die Fehler der letztmaligen Diskussion zu vermeiden.

Um die offensichtliche Unschärfe der Begriffsebenen bei Moskos zu korrigieren, soll dabei ein Thesenpaar aufgestellt werden:

  1. Die Rückbesinnung westlicher Streitkräfte auf die (Bündnis- und) Landesverteidigung geht mit einer Rücktransformation von Interventionsarmeen zu Verteidigungsarmeen einher.
  2. Dies bedingt parallel eine Rücktransformation der soldatischen Identität vom aktuellen, funktionalen Selbstbild des Soldaten als Berufstätigkeit zur normativen Rolle als Garant staatlicher Souveränität.

Die erste These ist dabei nicht als Tautologie zu verstehen; tatsächlich soll damit eine Umkehr der in den vergangenen 30 Jahren beobachtete Transformation von Streitkräften auf der Makro- und Mesoebene angesprochen werden.[30] In diesem Sinne adressiert die zweite These also die Umkehr auf der Mikroebene.

Abbildung 2: Das O/I-Modell postuliert eine Transition von der Organisation (rechts oben) zur Institution (links unten), die mit einem entsprechenden Identitätswandel des Soldaten einhergehen soll. Im Gegensatz zu Moskos’ I/O-Modell werden dabei die Ebenen „Soldat“ (vertikal) und „Streitkraft“ (horizontal) von Beginn weg unterschieden und die idealtypische Identität ist noch offen, da Gegenstand empirischer Forschung.

Wiederum anekdotisch kann hier herangezogen werden, dass sich im Jahr 2022 die Anzahl der Kriegsdienstverweigerer in Deutschland gegenüber dem Vorjahr von 209 auf 951 verfünffacht hat[31], obwohl die Bundeswehr heute mit freiwillig Dienstleistenden, Zeit- und Berufssoldaten sowie Reservisten eine „All Volunteer Force“ darstellt. Dies kann durchaus als Scherkraft zwischen den Ebenen Streitkraft und Soldat gedeutet werden und zeigt exemplarisch auf, dass der Ansatz hilfreich sein kann, um die anstehenden militärethischen Herausforderungen zu thematisieren. Freiwillige Soldaten, welche den Dienst verweigern, dürften hierbei lediglich ein Extrembeispiel auf der untersten Ebene des Baumann’schen Modells darstellen. Zuoberst stellt sich die grundlegende Frage nach dem Verhältnis von Demokratie und Wehrsystem[32] nach der Zeitenwende, und dies unabhängig von militärisch-operativen Überlegungen.

Eine mögliche Konzeption

Die empirische Begleitung der Betrachtung soldatischer Identitäten stellt eine Notwendigkeit dar, denn die Thematik ist anfällig für Narrative, soziale Erwünschtheit und andere Verzerrungen.[33] Eine kritische Betrachtung des gedanklichen Vorläufers zeigt zudem, dass eine evidenzbasierte Überprüfung des I/O-Modells zunächst lange Zeit ausblieb und dann eklatante Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern zeigte, die spezifischer Erklärungen bedurften.[34]

Eine empirische Betrachtung der vorliegenden Identitäten bedarf also einer sauberen Konzeption. Verschiedene Wissenschaftszweige haben hier unterschiedliche, aber überlappende Typologien hervorgebracht. Während Moskos Calling,Profession und Occupation[35] unterschied, hat sich in der Arbeits- und Organisationspsychologie die Triade Calling, Career und Job etabliert[36]. In der Berufssoziologie wurde hingegen schon früher der Missionary,Professional und Careerist unterschieden.[37] Die Überlappungen sind in Abbildung 3 dargestellt; entsprechende Items sind in deutscher, französischer, italienischer sowie englischer Sprache getestet und verfügbar.[38]

Abbildung 3: Die verschiedenen Typologien von Arbeitsorientierungen auf einen Blick. † Der innere Kreis zeigt die Arbeitsorientierungen nach Wrzesniewski et al. ‡ Der mittlere Ring zeigt die Konzeption nach Moskos. § Der äußere Ring zeigt die Rollenorientierungen nach Wilensky. Ein Gedankenstrich zeigt, dass in der jeweiligen Typologie kein Gegenstück existiert. Die Hintergrundfärbung zeigt inhaltliche Übereinstimmung.

Die Befragung von über 2600 Kadern der Schweizer Armee widerlegt verschiedene in ihr geläufige Narrative, etwa, dass die Arbeit des Berufsoffiziers für die älteren Generationen noch eine Berufung, für die Jungen aber „nur noch ein Job“ sei. Dem Narrativ entsprechend ist die Forderung, der Beruf des Berufsoffiziers müsse wieder zur Berufung werden, omnipräsent.[39] Der Berufungs-Anteil variiert aber über sämtliche Altersgruppen hinweg nur insignifikant, zwischen 5,6 % und 7,3 %. Dasselbe gilt für die Job-Orientierten, deren Anteil zwischen 1,8 % und 3,3 % schwankt.[40] Mit 54,7 % bei den Berufsmilitärs, 33,7 % bei den Milizkadern und 46,0 % bei den zivilen Vorgesetzten ist hingegen die Professions-Orientierung in allen Gruppen vorherrschend. Weitere Thesen konnten widerlegt werden, etwa gängige Vorurteile zu unterschiedlichen Truppengattungen. Moskos zufolge sollten die techniknahen, „zivileren“ Waffengattungen wie die Luftwaffe oder Logistik zum Job und Kampftruppen zur Berufung neigen; dies ist zumindest in der Schweizer Armee nicht der Fall. Die Tatsache, dass der Anteil an Karriere-Orientierten bei den Milizkadern, also dem Wehrdienst leistenden Führungspersonal, mit 16,2 % deutlich höher liegt als bei den Berufsmilitärs mit 5,2 %, geht wiederum mit der Beobachtung von Janowitz einher[41], auch wenn dies dem gängigen Narrativ in der Truppe diametral entgegensteht.

Die obigen Beispiele zeigen unmissverständlich, dass die eben erst eröffnete Diskussion über die (Rück-)Transformation der Streitkräfte von Beginn weg empirisch zu begleiten ist. Dies hat nicht zuletzt eine militärethische Perspektive, ist doch denkbar, dass Job- und Karriere-Orientierte mit Blick auf die Bündnis- und Landesverteidigung andere Grundhaltungen einnehmen könnten als Berufungs- und Professions-Orientierte. Die Notwendigkeit der Empirie zeigt sich bereits darin, dass selbst dieser naheliegende Zusammenhang bisher weder validiert noch falsifiziert wurde.

Natürlich gibt es auch berechtigte Einwände gegen den Ansatz der Typologisierung überhaupt. Aber in der Kultur von Streitkräften spielen sie, gerade zur Binnendifferenzierung, durchaus eine prägende Rolle – egal, wie zutreffend die Klischees sind. Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer empirischen Aufarbeitung zusätzlich, damit Maßnahmen der Erziehung und Persönlichkeitsbildung auf den richtigen Annahmen basieren. Die Vierertypologie bietet somit auf Grundlage der militärsoziologischen Tradition den Ausgangspunkt für eine vertiefte Analyse. Die Rückkehr zur (Bündnis- und) Landesverteidigung führt nicht nur zu einer Rücktransformation auf der Ebene von Staat und Streitkräften. Ausführende Akteure bleiben am Ende des Tages, im Donbass wie auf allen Schlachtfeldern der Geschichte zuvor, der militärische Führer und letztlich der einzelne Soldat.

Es geht also darum, unsere Militärangehörigen zu verstehen, denn es scheint durchaus denkbar, dass diese in Abhängigkeit von ihrer soldatischen Identität unterschiedlich auf ethische Argumente im Rahmen der Wertevermittlung reagieren. Ethisches Verhalten etwa mit einem Appell an eine professionelle Grundhaltung einzufordern, dürfte wenig greifen, wenn sich die betreffenden Soldatinnen und Soldaten nicht als Profis, sondern als „Vaterlandsverteidiger“ sehen und für eine eher sachlich-nüchterne Perspektive vielleicht weniger zugänglich sind. Darüber hinaus kann die nach militärisch-operativen und ethischen Gesichtspunkten erwünschte Identität nur gefördert und gefordert werden, wenn die Verhältnisse überhaupt erst bekannt sind. Letztlich muss der Anspruch also lauten, sowohl die Sinn-, Werte- und Ordnungsvermittlung im Rahmen der Erziehung[42] evidenzbasiert auszurichten als auch ethisch und strategisch ungünstige Narrative in den Streitkräften, aber auch militärspezifische Narrative in der Gesellschaft zu korrigieren. Dies dürfte ein Kampf um Aufmerksamkeit sein, sind doch beide Debatten in den westlichen Ländern heute eher von identitären Ideologien als von soldatischen Identitäten geprägt. Würde das Maß an Aufmerksamkeit, das aktuell verschiedensten Minderheiten in den Streitkräften geschenkt wird, den individuellen Beweggründen der Mehrheit zuteilwerden, wäre der ethischen Frage deutlich besser gedient.

Indem sie ihre Aufmerksamkeit den drängenden Fragen der klassischen Militärethik widmen, können die militärischen Sozialwissenschaften die anstehende Rücktransformation westlicher Streitkräfte begleiten. Im besten Fall kann die Militärwissenschaft damit diese Veränderungen begünstigen und sogar beschleunigen. Im schlechtesten Fall, falls die Rücktransformation der Streitkräfte aus finanz- oder gesellschaftspolitischen Gründen ausbleiben sollte, können sich die Streitkräfte wenigstens in Sachen der Führung, Erziehung und Ausbildung militärethisch evidenzbasiert ausrichten. Sollte es zu einem konventionellen Krieg unter Beteiligung westlicher Militärangehöriger kommen, hätten die Streitkräfte damit das Mindeste getan, um ihrer militärethischen Pflicht gegenüber der Gesellschaft, aber auch gegenüber der einzelnen Soldatin und dem einzelnen Soldaten, nachzukommen.

 

 


[1] GfdS wählt „Zeitenwende“ zum Wort des Jahres 2022. Pressemitteilung der Gesellschaft für deutsche Sprache e. V. vom 9. Dezember 2022. https://gfds.de/wort-des-jahres-2022/ (Stand aller Internetbelege: 20.11.2023).

[3] Schliesser, Christine et. al.: Zeitenwende in der Friedensethik (Krieg & Frieden 1). https://www.youtube.com/watch?v=-kbeNI_m2lY&t=24s.

[4] Baumann, Dieter (2007): Militärethik. Theologische, menschenrechtliche und militärwissenschaftliche Perspektiven. Stuttgart.

[5] Moskos, Charles C. (1988): Institutional and Occupational Trends in Armed Forces. In: Moskos, Charles C. (Hg.): The Military – More Than Just a Job? London, S. 15−26.

[6] Leonhard, Nina und Biehl, Heiko (2023): Soldatsein als Beruf. In: Leonhard, Nina und Werkner, Ines-Jacqueline (Hg.): Militärsoziologie – Eine Einführung. 3., aktualisierte und ergänzte Auflage. Wiesbaden, S. 555–593.

[7] Segal, David R. (1986): Measuring the Institutional/Occupational Change Thesis. Armed Forces & Society, 12(3), S. 351−375.

[8] Emmanuel Macron warns Europe: NATO is becoming brain-dead. The Economist vom 7. November 2019. https://www.economist.com/europe/2019/11/07/emmanuel-macron-warns-europe-nato-is-becoming-brain-dead.

[9] Fritz, Philipp und Steckel, Dominik: Mindset LV/BV: Das geistige Rüstzeug für die Bundeswehr in der Landes- und Bündnisverteidigung. Arbeitspapier 9/2022 der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. https://www.baks.bund.de/sites/baks010/files/arbeitspapier_sicherheitspolitik_2022_9.pdf.

[10] Heeresbudget soll 2027 auf 1,5 Prozent des BIP steigen. Österreichischer Rundfunk vom 6. Oktober 2022. https://orf.at/stories/3288376/.

[11] Schweizer Armee (Oktober 2023): Die Verteidigungsfähigkeit stärken – Zielbild und Strategie für den Aufwuchs. Dokumentation 81.298d.

[12] Bredow, Wilfried von (2014): Das Mandat der Streitkräfte für den bewaffneten Auslandseinsatz. In: Bohrmann, Thomas, Lather, Karl-Heinz und Lohmann, Friedrich (Hg.): Handbuch Militärische Berufsethik, Band 2: Anwendungsfelder. Wiesbaden, S. 157−176.

[13] Naumann, Klaus (2014): Politik in Verantwortung für die Einsatzarmee. In:  Bohrmann, Thomas, Lather, Karl-Heinz und Lohmann, Friedrich (Hg.), s. Endnote 12, S. 141−156.

[14] Stanar, Dragan und Tonn, Kristina (Hg.) (2022): The Ethics of Urban Warfare: City and War. Leiden.

[15] Hehre Ziele, kaum Ergebnisse: Deutschlands „Zeitenwende“ in der Verteidigungspolitik ist steckengeblieben. Neue Zürcher Zeitung vom 26. Februar 2023. https://www.nzz.ch/international/zeitenwende-deutschlands-verteidigungspolitik-steckt-fest-ld.1727430.

[16] Wucht der Angriffe in Mariupol größer als Atombombe in Hiroshima. Frankfurter Rundschau vom 20. Mai 2022. https://www.fr.de/politik/ukraine-krieg-mariupol-angriffe-atombombe-hiroshima-russland-telegram-news-zr-91560890.html.

[17] Blutige Schlacht um Bachmut: Russland und Ukraine kämpfen „wie in Verdun“. Frankfurter Rundschau vom 16. Februar 2023. https://www.fr.de/politik/verdun-ukraine-news-bachmut-kampf-russland-soldaten-truppen-militaer-erster-weltkrieg-92086220.html.

[18] Creveld, Martin van (1998): Die Zukunft des Krieges. München.

[19] Maschmeyer, Lennart und Dunn Cavelty, Myriam (2022): Goodbye Cyberwar: Ukraine as Reality Check. CSS Policy Perspectives 10(3).

[20] „Je ne pense pas que la vie dans ces tranchées soit beaucoup plus différente de celle lors de la première guerre mondiale.“ Ukrainischer Soldat in der Videoreportage „Ukraine : la guerre est une pute. “, 0:50−1:02, von L'autre JT. 16. Oktober 2015. https://www.youtube.com/watch?v=xZYAZfr4HI8&t=51s.

[21] Für die übergeordneten Ebenen siehe etwa Lohmann, Friedrich (2022): Zeitenwende in der Friedensethik? Der Pazifismus im Angesicht des russischen Angriffs auf die Ukraine. Ethik und Militär 2, S. 18−25. www.ethikundmilitaer.de/ausgabe/2022-02/article/zeitenwende-in-der-friedensethik-der-pazifismus-im-angesicht-des-russischen-angriffs-auf-die-ukraine.

[22] Für eine vertiefte Übersicht sei auf Leonhard und Biehl (2023), s. Endnote 6, S. 562−566 verwiesen.

[23] Moskos Jr, Charles C. (1977): The all-volunteer military: Calling, Profession, or Occupation? The US Army War College Quarterly: Parameters 7(1), S. 2−9.

[24] Moskos, Charles C. (1977): From institution to occupation: Trends in military organization.Armed Forces & Society, 4, S. 41−50.

[25] Moskos, Charles C. und Burk, James (1998): The Postmodern Military. In: Burk, James (Hg.): The Military in New Times. Adapting Armed Forces to a Turbulent World. New York/Abingdon, S. 141−162.

[26] Leonhard, Nina und Biehl, Heiko: Beruf: Soldat. In: Leonhard, Nina und Werkner, Ines-Jacqueline (Hg.): Militärsoziologie – Eine Einführung. 2., aktualisierte und ergänzte Auflage. Wiesbaden, S. 393−427, S. 407.

[27] Schweizerischer Bundesrat: Botschaft über die Volksinitiative „für eine Schweiz ohne Armee und für eine umfassende Friedenspolitik“ vom 25. Mai 1988. Geschäftsnummer 88.041, veröffentlicht im Bundesblatt, Band 2, Heft 24, S. 967−995, Seite 975.

[28] Szvircsev Tresch, Tibor und Merkulova, Natalia (2012): Vorzeitiges Ausscheiden aus dem Berufskader der Schweizer Armee. Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift, 178(12), S. 42−43. Die entsprechenden Aussagen sind im diesem Artikel zugrunde liegenden Bericht zu finden.

[29] Leonhard, Nina und Werkner, Ines-Jacqueline (Hg.), siehe Endnote 6, S. 565.

[30] Kümmel, Gerhard (2023): Die Hybridisierung des Militärs: Militärische Aufgaben im Wandel. In Leonhard, Nina und Werkner, Ines-Jacqueline (Hg.), siehe Endnote 6, S. 195−221.

[31] Antwort der Bundesregierung 21.07.2023 auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Żaklin Nastić, Ali Al-Dailami, Andrej Hunko und der Fraktion DIE LINKE. Drucksache 20/7858.

[32] Werkner, Ines: Wehrsysteme. In Leonhard, Nina und Werkner, Ines-Jacqueline (Hg.), siehe Endnote 6, S. 85−111.

[33] Hofstetter, Patrick (2016): Psychological Contracts and Theoretical Cousins: Promises and Fulfillment, Work Orientations and Commitment in the Swiss Armed Forces. Dissertation an der Universität Zürich.

[34] Caforio, Giuseppe und Nuciari, Marina (1994): The Officer Profession: Ideal-Type. Current Sociology, 42(3), S. 33−56.

[35] Moskos, Charles C. (1977), siehe Endnote 23..

[36] Wrzesniewski, Amy et al. (1997): Jobs, careers, and callings: People’s relations to their work. Journal of Research in Personality, 31(1), S. 21–33.

[37] Wilensky, Harold L. (1964): The professionalization of everyone? American Journal of Sociology, 70(2), S. 137−158.

[38] Hofstetter, Patrick (2016), siehe Endnote 33, Kapitel 6.

[39] Es mag sich um ein helvetisches Spezifikum handeln, aber es ist ein persistentes. Beispiele: (2019) Hptm Sarah Brunner führt als erste Frau eine Inf Kp. Schweizer Soldat, 94(5), S. 38–39. (2021) MILAK: Ein Einblick in die Vielfalt. Schweizer Soldat, 96(5), S. 12−13.

[40] Hofstetter, Patrick (2016), siehe Endnote 33, S. 255.

[41] Janowitz, Morris (1961): The Professional Soldier: A Social and Political Portrait. Glencoe.

[42] Hofstetter, Patrick (2023): Command, Leadership, Management: Ein Thesenpapier zur Führung in der Armee und darüber hinaus. In: Stratos, 3(2), S. 126–135.

Zusammenfassung

Patrick Hofstetter

Dr. oec. Patrick Hofstetter ist seit dem 01.01.2023 Dozent für Führung und Kommunikation der Militärakademie an der ETH Zürich. Ursprünglich Physiker und Gymnasiallehrer, studierte er später Militärwissenschaften und war 11 Jahre als Berufsoffizier der Schweizer Armee, zumeist in der Kaderausbildung der Infanterie, tätig. Parallel promovierte er an der Universität Zürich in Betriebswirtschaftslehre. Von 2020 bis 2022 gründete er die Weiterbildungsakademie an der Universität Luzern. Er kommandiert aktuell als Oberstleutnant im Generalstab ein Gebirgsinfanteriebataillon.


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Alle Artikel dieser Ausgabe

Militärethik und militärische Ethikausbildung: Auf der Suche nach einem „europäischen Ansatz“
Lonneke Peperkamp, Kevin van Loon, Deane-Peter Baker, David Evered
Gerechter Frieden trotz Krieg? Zur Verteidigung eines in die Kritik geratenen Konzepts
Markus Thurau
Die russische Invasion der Ukraine: Keine Spur von konventioneller Extremgewalt
Arseniy Kumankov
Ethische Bildung in den Streitkräften – Überbrückung oder Vertiefung der Kluft?
Dragan Stanar
Die Rücktransformation soldatischer Identitäten
Patrick Hofstetter
Krieger sind in der Armee fehl am Platz
Christopher Ankersen
„Versuchen Sie, den Unterricht emotionaler zu gestalten“
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