Die Rücktransformation soldatischer Identitäten
Der offene Einmarsch Russlands in die Ukraine wird in westlichen Staaten als Zeitenwende wahrgenommen und stellt die Militärethik sowohl in der Forschung als auch in der praktischen Anwendung, etwa in der Persönlichkeitsbildung, vor neue Herausforderungen. Die Aufschlüsselung nach den vier Ebenen „Staat, Streitkräfte, Militärische Führer und Soldat“ zeigt dabei, dass die Veränderungen des sicherheitspolitischen Kontextes auf allen Ebenen eigentliche Rücktransformationen auslösen, die sich in der jeweiligen Geschwindigkeit unterscheiden. Während die europäischen Staaten sich rasch auf Bündnis- und Landesverteidigung rückbesonnen haben, wird es Jahre dauern, um die europäischen Streitkräfte wieder in den konventionellen Fähigkeiten zu stärken. Offen bleibt dabei, wie rasch sich die soldatische Identität den neuen Rahmenbedingungen anpassen wird. Als Scharnier zwischen diesen Ebenen liegt es an den militärischen Führern, diese Scherkräfte zu absorbieren. Ein ganzheitliches Transformationsmodell kann dabei helfen, die Debatte zu führen und das erforderliche Bewusstsein zu schaffen. In Umkehr des historischen I/O-Modells des Vaters der Militärsoziologie, Charles C. Moskos, wird dazu ein O/I-Modell beschrieben. Dieses postuliert eine Rücktransformation von der funktionalen Organisation zur normativen Institution, die mit einem entsprechenden Identitätswandel des Soldaten einhergehen soll. Wenn die konzeptionellen und empirischen Schwächen des ursprünglichen Modells von Beginn weg korrigiert werden, öffnet sich eine Perspektive zur Weiterentwicklung der militärethischen Erziehung und Ausbildung, die sich an empirischen Befunden heutiger Streitkräfte orientiert.
Originalartikel