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BELGIEN

Für das Special dieser Ausgabe hat die Redaktion von „Ethik und Militär“ Expertinnen und Experten aus verschiedenen Staaten einen sechs Punkte umfassenden Fragenkatalog zum Thema Militärethik und Ethikunterricht in ihren jeweiligen Streitkräften vorgelegt. Diese Seiten erheben keinen Anspruch auf Repräsentativität, sondern sollen weiteres Anschauungsmaterial für die Frage nach einem ge­­meinsamen europäischen Ansatz auf diesem Gebiet liefern. 

Was verstehen Sie bzw. was versteht man in Ihrem Land hauptsächlich unter Militärethik? Womit befasst sie sich im Wesentlichen, und was ist ihre Hauptaufgabe?

Eine kritische Reflexion über die Prinzipien, Werte und Normen im Zusammenhang mit der militärischen Praxis und dem Beruf. Die Theorie des gerechten Krieges steht im Mittelpunkt des Lehre zur Militärethik an der Königlichen Militärakademie Brüssel (RMA). In den Lehrveranstaltungen werden hauptsächlich folgende Themen diskutiert: In welchen Fällen ist der Einsatz militärischer Gewalt moralisch zulässig? Wie sollten militärische Operationen durchgeführt werden? Die besondere Herausforderung besteht hier darin zu untersuchen, inwieweit diese uralte Theorie auch heute noch einen angemessenen moralischen Rahmen für die Beurteilung neuer Entwicklungen in Technologie, Politik und Militär schafft.

Gibt es in Ihrem Land eine öffentliche Debatte zu damit zusammenhängenden Fragen? Wenn ja, zu welchen?

Belgien führt eine öffentliche Debatte über den israelisch-palästinensischen Konflikt. Diskutiert werden Fragen wie: „Welche Mittel oder Taktiken sind zur Selbstverteidigung moralisch zulässig?“ oder „Wird dieser Kreislauf der Gewalt jemals enden?“ Ebenfalls kontrovers wird über die sogenannten „Killerroboter“ diskutiert und über die Gefahr, künstliche Intelligenz in bewaffneten Konflikten einzusetzen.

Sehen Sie beim Verständnis von bzw. konkreten Fragen der Militärethik Gemeinsamkeiten in den EU-Mitgliedstaaten und anderen europäischen Ländern? Wenn ja, worin bestehen diese?

Unsere Nachbarländer haben Kurse zur Militärethik in ihre militärische Ausbildung integriert. Auch wenn manche Länder sich ein wenig mehr auf die Theorie konzentrieren als andere – sie alle sehen die Notwendigkeit, auch die ethischen Kompetenzen ihrer zukünftigen Offiziere auszubilden.

Hat der russische Angriff auf die Ukraine Ihrer Meinung nach eine deutliche Veränderung in dieser Hinsicht bewirkt?

Die massiven Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht in diesem Krieg haben uns die Notwendigkeit noch deutlicher vor Augen geführt, unsere Soldaten im Bereich Prinzipien, Normen und Werte auszubilden. Das eigene Handeln an einem starken moralischen Gerüst auszurichten, ist die beste Garantie dafür, dass das humanitären Völkerrecht so weit wie möglich eingehalten wird und im Gefecht die moralisch besten Entscheidungen getroffen werden.

In welchem Umfang und für wen sind Ethik und Militärethik Teil der militärischen Ausbildung? Durch wen wird unterrichtet?

Der Lehrstuhl für Philosophie der Königlichen Militärakademie bietet im Rahmen des akademischen Lehrplans für die Offizierslaufbahn zwei Lehrveranstaltungen zur Militärethik an. Die Studenten belegen auch Kurse zum humanitären Völkerrecht. Während ihrer vier- bzw. fünfjährigen Ausbildung an der RMA sind die Offiziersanwärter aufgerufen, die Normen und Werte des Soldatenberufs im Rahmen ihrer Ausbildungsabschnitte im Militärlager in die Praxis umzusetzen. Ihre Führungsqualitäten werden regelmäßig bewertet. Die Werte der RMA (Ehre, Selbstdisziplin, Engagement, Mut und Respekt) werden bereits im Eingangsbereich der Militärakademie deutlich visuell hervorgehoben.

Die belgischen Streitkräfte heben ihre Werte – Integrität, Loyalität, Respekt und Mut – ebenfalls deutlich hervor und unternehmen große Anstrengungen, um diese Werte innerhalb der Streitkräfte sichtbar zu machen.

Was sind Ihrer Meinung nach die die wichtigsten Fragen bzw. dringlichsten Probleme der Gegenwart, mit denen sich die Militärethik auseinandersetzen sollte?

Der Einsatz von künstlicher Intelligenz in Kriegen hat weitreichende Konsequenzen. Viele Fragen knüpfen sich an dieses Thema, zum Beispiel: Wer ist moralisch verantwortlich, wenn autonome Waffensysteme eingesetzt werden? Ist die menschliche Würde ausreichend gewahrt, wenn Roboter feindliche Soldaten töten?

Michaël Dewyn

Michaël Dewyn, Senior Captain, PhD, Assistenzprofessor, Lehrstuhl für Philosophie, Königliche Militärakademie Brüssel


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Alle Artikel dieser Ausgabe

Militärethik und militärische Ethikausbildung: Auf der Suche nach einem „europäischen Ansatz“
Lonneke Peperkamp, Kevin van Loon, Deane-Peter Baker, David Evered
Gerechter Frieden trotz Krieg? Zur Verteidigung eines in die Kritik geratenen Konzepts
Markus Thurau
Die russische Invasion der Ukraine: Keine Spur von konventioneller Extremgewalt
Arseniy Kumankov
Ethische Bildung in den Streitkräften – Überbrückung oder Vertiefung der Kluft?
Dragan Stanar
Die Rücktransformation soldatischer Identitäten
Patrick Hofstetter
Krieger sind in der Armee fehl am Platz
Christopher Ankersen
„Versuchen Sie, den Unterricht emotionaler zu gestalten“
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