Kontroversen in Militärethik und Sicherheitspolitik
Militärethik und militärische Ethikausbildung: Auf der Suche nach einem „europäischen Ansatz“
Einleitung
Gibt es ein spezielles europäisches Verständnis von Militärethik? Die vorliegende Ausgabe von „Ethik und Militär“ behandelt diese Frage anhand verschiedener Grundsatzthemen, von gerechtem Krieg und gerechtem Frieden bis hin zu soldatischer Professionalität und Leitbildern. Die Frage nach einer europäischen Militärethik, die auch zentrales Thema der EuroISME-Konferenz 2024 ist[1], wird in der vorliegenden Einführung nicht beantwortet. Vielmehr bietet sie einen Überblick, der als Grundlage für die Beantwortung dienen kann, sowie einen ersten Vergleich zwischen den Niederlanden und Australien.
Die Militärethik legt ganz allgemein einen normativen Standard speziell für die Bediensteten der Streitkräfte fest, die befugt sind, im Namen des Staates Gewalt anzuwenden. Es geht, so George Lucas, „um die moralischen Grundlagen des Militärberufs und um die Grundwerte und Leitprinzipien der Männer und Frauen, die in diesem Beruf gedient haben oder jetzt dienen“[2]. Ted van Baarda und Désirée Verweij definieren sie als „eine Ethik, die sich auf das Wesen, den Inhalt, die Werthaltigkeit und die Wirkung von Moral in einem militärischen Kontext bezieht. In diesem Sinne umfasst die Militärethik sowohl die konzeptionelle Bildung einer wissenschaftlichen Theorie als auch die angewandte Ethik einschließlich der Kasuistik.“[3] Diese Definition verdeutlicht, dass die Militärethik zwar ein akademisches Forschungsgebiet ist, aber auch die (Aus-)Bildung und Erziehung des militärischen Personals deutlich betont.
Vergleicht man verschiedene Auffassungen von Militärethik, zeigen sich starke Ähnlichkeiten hinsichtlich der Grundwerte und Leitprinzipien. Durch Besonderheiten in den Bereichen Kultur, staatliche und politische Ordnung, Organisation der Streitkräfte und historische Erfahrungen sind jedoch auch Unterschiede festzustellen. Die militärische Ethikausbildung unterscheidet sich im Einzelnen hinsichtlich der angestrebten Funktion, des Zwecks, der theoretischen Grundlagen, der Themenschwerpunkte und der didaktischen Methoden. Diese Aspekte müssen zunächst innerhalb einzelner europäischer Länder analysiert und anschließend miteinander verglichen werden, um festzustellen, ob es ein gemeinsames Verständnis gibt. Sollte dies der Fall sein, muss anschließend eine vergleichende Betrachtung mit weiteren Ländern und Regionen erfolgen – etwa mit Amerika, Australien, Asien, Afrika und dem Nahen Osten. Hierbei wären jeweils die unterschiedlichen Aspekte des militärischen Ethikunterrichts zu betrachten: der Zweck, die theoretischen Grundlagen, der Inhalt und die didaktischen Methoden. Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick über die genannten Aspekte, zeigt auf, wie sie interpretiert werden können, und vergleicht dann kurz die niederländische und die australische Sichtweise.
Zweck
Was als zentrale Funktion oder Zweck der militärischen Ethikausbildung angesehen wird, wirkt sich auf die weiteren hier behandelten Aspekte aus. Die wichtigste Funktion der Militärethik besteht darin, „die [militärischen] Berufsgruppen bei der Reflexion der moralischen Herausforderungen und Dilemmata ihrer beruflichen Tätigkeit zu unterstützen und die Angehörigen des Berufsstandes durch ein besseres Verständnis der an sie gestellten ethischen Anforderungen zu befähigen und zu motivieren, bei der Erfüllung ihrer beruflichen Pflichten angemessen zu handeln“[4]. Sie sollte mindestens Kriegsverbrechen und andere schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht eindämmen, zum Beispiel dadurch, Soldaten die Verweigerung von Befehlen zu gestatten, die einen Verstoß gegen humanitäres Recht (bzw. eine ethisch unangemessene Handlung) zur Folge hätten.[5] Dabei wird es auch zu vielen unklaren Situationen kommen, in denen Angehörige der Streitkräfte mit konkurrierenden Verpflichtungen oder Werten oder mit vagen bzw. sogar widersprüchlichen Regeln konfrontiert sind.[6] Um diese Situationen bewältigen zu können, soll die militärische Ethikausbildung die Fähigkeiten des militärischen Personals verbessern, die moralische Dimension von Problemen zu erkennen, Handlungsoptionen zu erwägen, Entscheidungen zu treffen und zu handeln. So werden Soldaten auf komplexe ethische Dilemmata vorbereitet, denen sie im Einsatz begegnen könnten.
Über den allgemeinen Zweck der militärischen Ethikausbildung besteht wohl in den Streitkräften vieler Länder Einigkeit – beim entsprechenden Umfang hingegen dürften die Vorstellungen auseinandergehen. Hier ist die von Jessica Wolfendale eingeführte Nennung zweier konträrer Zielsetzungen hilfreich, die für die Bestimmung des Ausbildungsumfangs entscheidend sind: Wird die militärethische Ausbildung primär funktional oder eher persönlichkeitsorientiert gesehen?[7] Die funktionale Sichtweise sieht den Hauptzweck darin sicherzustellen, dass sich Soldaten korrekt und angemessen verhalten. Charakterentwicklung wird daher als überflüssig betrachtet, wenn dies der Fall ist. Soldaten werden in erster Linie in ihrer beruflichen Rolle gesehen, und die militärethische Ausbildung trägt zur moralisch verantwortlichen, professionellen Berufsausübung bei. Die persönlichkeitsorientierte Sichtweise will die ethische Kompetenz bzw. die Charakterbildung im Allgemeinen fördern. Die militärethische Ausbildung ist breiter angelegt; sie ist persönlicher und die Charakterentwicklung ist entscheidend. Die Ansichten darüber, ob militärethische Ausbildung und Schulung „militärisches Personal hervorbringen sollte, das sowohl einen tugendhaften Charakter hat als auch effektiv kämpft“[8], gehen entsprechend auseinander. Asa Kasher beispielsweise steht dem persönlichkeitsorientierten Ansatz kritisch gegenüber: „Die Streitkräfte eines demokratischen Staats, zu denen Wehrpflichtige, Reserveoffiziere und Unteroffiziere gehören, sollten [...] jeden Versuch vermeiden, deren Charakter tiefgreifend und umfassend zu verändern [...].“[9]
Theoretische Grundlagen
Die Militärethik ist in erster Linie ein philosophisches Fachgebiet. Sie ist jedoch insofern interdisziplinär ausgerichtet, als sie beispielsweise Überschneidungen und Zusammenhänge mit dem humanitären Recht, der politischen und Moralphilosophie, der Führungstheorie und der (Moral-)Psychologie aufweist. Genauso wie die Funktion und der Schwerpunkt werden wahrscheinlich auch die theoretischen Grundlagen der militärethischen Ausbildung je nach Region bzw. Land variieren. Der 2008 erschienene Band Ethics Education in the Military[10]vergleicht zehn demokratische Staaten: Australien, Großbritannien, Kanada, Frankreich, Deutschland, die Niederlande, Israel, Japan, Norwegen und die Vereinigten Staaten. Die Studie kommt zu dem klaren Ergebnis, dass „die philosophischen Grundsätze, die diesen [nationalen] Programmen zugrunde liegen, [...] von Land zu Land oft sehr unterschiedlich sind, was zu beträchtlichen Unterschieden bei den Methoden führt, mit denen das gemeinsame Problem angegangen wird“[11].
Als theoretischer Ausgangspunkt stehen meist drei bekannte ethische Theorien im Mittelpunkt der militärethischen Ausbildung: Der Konsequentialismus beurteilt den moralischen Wert einer Handlung aufgrund ihrer Folgen; die moralische Entscheidungsfindung beinhaltet im Wesentlichen eine Kosten-Nutzen-Analyse, bei der die positiven Folgen gegen die negativen abgewogen werden. Die Deontologie hingegen konzentriert sich als regelbasierter Ansatz eher auf die Absichten und die intrinsische Natur von Handlungen. Manche Handlungen sind inhärent falsch, unabhängig von ihren positiven Auswirkungen. Der Kategorische Imperativ von Immanuel Kant ist ein Beispiel für Deontologie: Er beinhaltet das strikte Gebot, andere Menschen (und sich selbst) als Selbstzweck und nicht als Mittel zum Zweck zu behandeln. Die Tugendethik schließlich befasst sich mit der Person als handelndem Subjekt. Tugenden wie Mäßigung, Weisheit und Gerechtigkeit werden als wesentlich für ein moralisch rechtschaffenes Leben angesehen. Anstatt spezifische Regeln vorzuschreiben, geht die Tugendethik davon aus, dass der moralische Charakter durch die Kultivierung der genannten Tugenden entwickelt werden kann und tugendhafte Menschen das Richtige tun. Unterschiede in der militärethischen Ausbildung können mit einem bestimmten theoretischen Schwerpunkt zusammenhängen, da jeder der genannten Ansätze die Frage nach dem moralisch Richtigen oder Falschen anhand unterschiedlicher Kriterien beantwortet: Der Konsequentialismus bewertet Handlungen vom Ergebnis her, die deontologische Ethik betont deren intrinsische Natur sowie die Bedeutung der handlungsbegleitenden Absicht, und die Tugendethik konzentriert sich auf die Entwicklung des persönlichen Charakters.
Die militärethische Ausbildung gründet sich im Wesentlichen auf philosophische Ansätze, die einen speziellen Bezug zum Militärberuf aufweisen.[12] Die wesentlichen Punkte der genannten ethischen Strömungen finden sich in der angewandten Theorie des Krieges und der Kriegsführung wieder, nämlich in der Theorie des gerechten Krieges und in der militärischen Tugendethik. Michael Walzers Just and Unjust Wars steht vermutlich an vielen Militärakademien auf dem Lehrplan.[13] Auch wenn das jus ad bellum in erster Linie für politische Führungskräfte Relevanz entfaltet, ist anzunehmen, dass Offiziere dennoch die ethischen Grundsätze ihrer Aufgaben, die Gründe für ihre Missionen und die in der öffentlichen Debatte verwendeten Argumente verstehen müssen. Das jus in bello, das die Ethik des Militärberufs behandelt, richtet sich speziell an Angehörige der Streitkräfte. Es bestimmt und legitimiert den Unterscheidungsgrundsatz: Diesem zufolge sind Nichtkombattanten immun, dürfen also nicht absichtlich angegriffen werden. Kombattanten jedoch können getötet werden und dürfen ihre Gegner ebenfalls töten (Deontologie). Angriffe auf Kombattanten und militärische Ziele müssen allerdings dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit folgen: Kollateralschäden dürfen nicht im Übermaß eintreten und müssen durch den erwarteten militärischen Vorteil aufgewogen werden können (Konsequentialismus).[14] Dieser Grundsatz findet sich auch im humanitären Völkerrecht, dessen Rechte und Pflichten für alle Beteiligten gleichermaßen gelten.
Auch die militärische Tugendethik wird an vielen Militärakademien als theoretische Grundlage der Charakterbildung vermittelt, was auch diejenigen Tugenden einschließt, die professionellen Militärangehörigen zu guten Leistungen verhelfen.[15] Die militärischen Tugenden sind eng miteinander verzahnt und in komplexen ethischen Situationen gegeneinander abzuwägen.[16] Einzelne Tugenden wie Respekt, Mut oder Loyalität können enger oder weiter ausgelegt werden: Mut kann ausschließlich körperlich, aber auch moralisch definiert werden, Loyalität kann sowohl gegenüber einem Prinzip als auch gegenüber einer Person, Gruppe oder Nation bewiesen und Respekt gegenüber Kollegen oder gegenüber „Außenstehenden“ gezeigt werden.[17] Die Tugenden spiegeln sich häufig in den von den Streitkräften offiziell verkündeten „Werten“ wider, die vorschreiben, wie ein Mensch sein sollte. Die niederländischen Streitkräfte beispielsweise betonen Verantwortung, Kameradschaft, Vertrauen und Sicherheit in einem eigenen Verhaltenskodex (obwohl diese Tugenden in den Streitkräften der westlichen Demokratien ohnehin zum gemeinsamen Wertekanon gehören).[18] Ähnlich wie bei einigen Streitkräften im Ausland folgen die Einheiten der verschiedenen niederländischen Teilstreitkräfte ihren jeweils eigenen Werten, etwa Mut, Loyalität und Disziplin. Die Werte der australischen Streitkräfte (Australian Defence Force) lauten ähnlich: Einsatz, Mut, Respekt, Integrität und Exzellenz – allesamt Tugenden oder tugendähnliche Werte.
Einzelne Tugenden wie Respekt, Mut oder Loyalität können enger oder weiter ausgelegt werden
Obwohl die Theorie des gerechten Krieges und die militärischen Tugenden aus unterschiedlichen akademischen Richtungen stammen, werden sie manchmal miteinander in Verbindung gebracht. Allen Buchanan zufolge etwa sollte das Ziel der Theorie des gerechten Krieges nicht nur darin bestehen, eine „Checkliste“ von Kriterien anzubieten. Sie müsse einerseits auch „direkt handlungsleitende Regeln“ umfassen und andererseits Leitlinien für die Bewertung institutioneller Prozesse, Kriterien für die Bewertung von kriegsrechtlichen Bestimmungen, Führungsentscheidungen und sozialen Praktiken sowie eine Auflistung der Tugenden von Führungskräften beinhalten.[19] A.J. Coates betont darüber hinaus, der wichtigste Faktor für die Gerechtigkeit im Krieg sei die moralische Disposition der Kombattanten.[20] Selbst wenn jemand wisse, was zu tun sei, bedeute dies nicht unbedingt, dass er auch danach handele. In der Theorie des gerechten Krieges geht es also nicht nur um Regeln und Prinzipien, sondern auch um Tugenden und Laster. Da Tugenden Ausdruck der persönlichen Moralvorstellungen der Kämpfer sind, stellen sie einen wichtigen Anreiz für moralisches Verhalten dar.
Inhalt
Welche Themen werden im Rahmen der Aus- und Weiterbildung der Streitkräfte behandelt? Die Militärethik kann ein breites Spektrum an Themen und Fragestellungen abdecken. Eine wichtige Unterscheidung ist etwa die zwischen friedens- und einsatzbezogenen Themen. Der Bereich der Militärethik, der im Zusammenhang mit dem Kampfeinsatz und der (Konfrontation mit der) Anwendung von Gewalt steht, behandelt die moralischen Standards der Kriegsführung, das heißt das jus in bello. Hier gibt es einen engen Zusammenhang mit dem humanitären Völkerrecht, dem Mandat der Mission und den Einsatzregeln (Rules of Engagement). Insbesondere wären die folgenden Themen zu nennen: der Unterscheidungsgrundsatz, die Rechtfertigung ziviler Opfer, Guerillakriege, Kriegerkodizes, das kulturelle Bewusstsein, die Wahrnehmung des „Anderen“, die Gefahr der Entmenschlichung sowie in jüngster Zeit auch die Rolle der Technologie und die Möglichkeit einer sinnvollen Kontrolle durch den Menschen, Methoden und Techniken der Leistungssteigerung von Soldaten sowie autonome Waffensysteme.[21] Die Loslösung von moralischen Ansprüchen („moral disengagement“) ist ein weiteres gemeinsames Thema in der einsatzbezogenen Ethikausbildung: Dieser Mechanismus bringt militärische Einheiten auf die schiefe Bahn des Fehlverhaltens. Gründe dafür sind fehlende Kontrollen und moralische Selbstrechtfertigung.[22] Die nicht einsatzbezogene Militärethik weist große Überschneidungen mit der Organisationsethik auf, doch auch hier gibt es Fragen, die fast ausschließlich militärische Organisationen betreffen. Mögliche Ausbildungsthemen in Streitkräften sind etwa Integrität, Korruption, Whistleblowing, Machtbeziehungen, soziale Sicherheit, Integration, sexuelle Belästigung, Führungsqualitäten und moralische Urteilsbildung. Vertiefend können militärische Verhaltenskodizes, die Befehlsverantwortung, außerdienstliches Verhalten, Schikanen und demütigende Rituale, militärische Traditionen sowie Führung im Militär behandelt werden.
Im Allgemeinen fallen alle diese Themen in den Bereich der militärischen Berufsethik. Bestimmte Berufe innerhalb der Streitkräfte haben besondere Herausforderungen zu meistern, etwa das Sanitätspersonal, der Grenzschutz oder der Nachrichtendienst. Außerdem hat die Tätigkeit beim Militär immer auch eine wichtige politische Dimension, da die Streitkräfte ein „Instrument des Staates“ sind. Fragen des jus ad bellum sind also ebenso relevant wie zivil-militärische Beziehungen, die politischen Ziele bestimmter Missionen oder auswärtige bzw. internationale Angelegenheiten. Dabei werden nationale oder regionale Erfahrungshorizonte, Kulturen und Prioritäten auch zu unterschiedlichen Themenschwerpunkten in den verschiedenen militärethischen Curricula führen.
Didaktischer Ansatz
Militärethik kann auf unterschiedliche Weise, sowohl aktiv als auch passiv, gelehrt werden, etwa durch Vorlesungen, (interaktiven) Präsenzunterricht, (persönliche) Fallstudien und Diskussionen, War Games und Selbstreflexion bzw. Fremdeinschätzung durch Peers. Die Auffassungen darüber, ob die militärethische Ausbildung vorwiegend theoretisch gestaltet sein sollte (Vermittlung ethischer Konzepte und Grundsätze) oder eher praktisch (mit Schwerpunkt auf Situationen, die Soldaten im Gefecht oder im Friedenseinsatz möglicherweise erleben werden), gehen auseinander. Ziel der theoretischen Ausbildung ist es, die Soldaten für die Legitimation von Regeln und die ihnen zugrunde liegenden Werte zu sensibilisieren. Das auf diese Weise vermittelte moralische Verständnis bietet ihnen eine Grundlage für den Umgang mit ethisch herausfordernden Situationen in der Einsatzrealität. Die praktische Ausbildung verfolgt ein ähnliches Ziel, das die Soldaten jedoch durch den Aufbau von Kompetenzen in ethischer Entscheidungsfindung (ethical decision making, EDM) durch Erfahrungslernen erreichen sollen. Die moralischen Kompetenzen werden anhand von Beispielen aus der Geschichte, Fallstudien und Erfahrungen aus dem Einsatz gefördert. Dazu gehören (ausführliche) Erörterungen ethischer Dilemmata und Fälle. Die Rolle ethischer Theorien ist hier eingeschränkter und dient dazu, ethische Problemstellungen zu verdeutlichen. Das persönliche Wertesystem der Soldaten ist in diese Erörterungen sinnvoll einzubeziehen.[23]
Die Auffassungen darüber, ob die militärethische Ausbildung vorwiegend theoretisch oder eher praktisch gestaltet sein sollte, gehen auseinander
Die Rolle und Wirksamkeit der passiven Ausbildung findet weniger Beachtung. Robinson (2007) spricht von einem Prozess der „Osmose“: Die militärische Institution trage durch ihre Natur, Kultur und das ausbildende Personal dazu bei, die Werte der militärischen Profession zu vermitteln. Diese Form der Ausbildung wird nur selten als Ergänzung zum theoretischen und praktischen Unterricht in die Gestaltung des Ethikunterrichts einbezogen.
Die Niederlande und Australien
Der obige Überblick zeigt, dass Auffassungen von Militärethik je nach Land und Region unterschiedlich sein können. Diese Besonderheiten werden anhand des Vergleichs der Zielvorstellungen, theoretischen Grundlagen, des Inhalts und der didaktischen Methoden deutlich. In diesem Abschnitt unternehmen wir eine erste Analyse der Unterschiede und Gemeinsamkeiten der niederländischen und australischen Positionen vor, um zu zeigen, wie ein solcher Vergleich aussehen kann.
Die Charta der Australian Defence Force Academy (ADFA) sieht vor, dass die Kadetten im Rahmen ihrer militärischen Ausbildung die von Offizieren der ADF erwarteten beruflichen Fähigkeiten und Charakter- und Führungsqualitäten entwickeln.[24] Dieser doppelte Fokus auf das Verständnis der Kernbegriffe militärischer Ethik einerseits und die Charakterentwicklung andererseits zeigt, dass die australischen Streitkräfte die militärethische Ausbildung sowohl als funktional wie auch als persönlichkeitsorientiert begreifen bzw. dass (und diese Vermutung liegt möglicherweise näher) der Zweck der militärethischen Ausbildung in den australischen Streitkräften nicht klar definiert ist. Eine ähnliche Kombination funktionaler und persönlichkeitsorientierter Ziele findet sich im niederländischen Curriculum. Die Niederländische Verteidigungsakademie (NLDA) unterscheidet zwischen Grund-, Aufbau- und Spezialisierungslehrgängen. Die Analyse von Dokumenten und Gespräche mit Ausbildern und Dozenten zeigen, dass die meisten Lehrgänge gemischte Zielsetzungen aufweisen, also sowohl funktionale als auch persönlichkeitsorientierte Elemente enthalten.[25]
Die theoretischen Grundlagen und Inhalte sind in einem Grundsatzdokument aus dem Jahr 2021 beschrieben: Neben der Tradition des gerechten Krieges begründen drei ethische Theorien den Ansatz der australischen Streitkräfte: die Naturrechtstheorie, die Deontologie und die Tugendethik. Interessanterweise gehört der Konsequentialismus nicht dazu. In der militärethischen Ausbildung der niederländischen Streitkräfte kommen je nach Studiengang verschiedene Theorien zum Einsatz; der Schwerpunkt liegt jedoch auf der (militärischen) Tugendethik. Die Bachelor-Lehrveranstaltungen kombinieren im Rahmen der Basisausbildung (Long Track Officer Program) verschiedene Theorien. Der allgemeine Lehrgang „Military Leadership and Ethics“ befasst sich mit Führungstheorien im Allgemeinen, beinhaltet jedoch im Abschnitt zur moralischen Führung die drei ethischen Theorien sowie weitere Abschnitte zu militärischen Tugenden und der Theorie des gerechten Krieges. Im Rahmen von Wahlmodulen können weitere Themen vertieft werden, etwa die Tradition des gerechten Krieges und die psychosoziale Dynamik in den Streitkräften (in Verbindung mit Ethik, Moralpsychologie und Anthropologie). Das Spezialisierungsangebot enthält unter anderem einen Train-the-trainer-Lehrgang zur Stärkung der moralischen Kompetenzen. Ein wirksamer Umgang mit moralischen Dilemmata, so der Ausgangspunkt, setze voraus, „dass man sich der eigenen moralischen Werte genauso bewusst ist wie der Werte, die für die militärische Organisation wichtig sind. Dies kann durch eine grundlegende moralische Ausbildung mit Schwerpunkt auf Charakterbildung gefördert werden.“[26] Dieser Lehrgang baut auf der Tugendethik auf.
In beiden Ländern ist der Ausbildungsansatz recht ähnlich; die Bedeutung von Fallstudien wird betont. Die australische Militärakademie ADFA ist wichtigster Adressat des sehr umfangreichen Ethik-Ausbildungsprogramms der australischen Streitkräfte, das die University of New South Wales (UNSW) Canberra in Form einer einsemestrigen Lehrveranstaltung zur Einführung in die Militärethik („Introduction to Military Ethics“) anbietet. Traditionell wird hier das zu diesem Zweck verfasste Lehrbuch von Stephen Coleman durchgearbeitet, dessen Ansatz bereits im Titel enthalten ist: Military Ethics: An Introduction with Case Studies (Oxford University Press, 2012). Bei der Überarbeitung des Ethikkonzepts als Teil des Ausbildungsprogramms der australischen Streitkräfte (Joint Professional Military Education, JPME) ermittelte Martin Cook (2004) zwei Hauptthemen: ethische Fragen der Angemessenheit und Legitimität der Gewaltanwendung für Streitkräfte und allgemeinere ethische Fragen zur militärischen Berufspraxis und zivil-militärischen Beziehungen.[27] Die Bachelor-Lehrveranstaltungen an der Niederländischen Verteidigungsakademie NLDA umfassen sowohl Hörsaalveranstaltungen (Vorlesungen) als auch interaktive Tutorien und studentische Präsentationen. Die Anwendung der Theorien wird anhand historischer Fallstudien diskutiert. Die behandelten Themen variieren je nach Studiengang. Im Kurs über psychosoziale Dynamiken von Streitkräften werden etwa die Themen Technologieethik, demütigende Rituale und Schikanen sowie moralische Verletzungen behandelt. In den Aufbau- und Spezialisierungskursen liegt der Schwerpunkt mehr auf Austausch und Reflexion zu (persönlich erlebten) Fällen und weniger auf der Vermittlung akademischen Wissens. Als Beispiel verdient der Train-the-trainer-Kurs Erwähnung; er verbindet eine sokratische Haltung mit dem Erfahrungslernen („lived learning“). Er behandelt insbesondere die Themen Machtbeziehungen (Foucault), moralische Verletzungen, gerechte Kultur und das humanitäre Völkerrecht.
Auch bei anderen, spezifischeren Themen in den niederländischen und australischen Lehrplänen gibt es eine Reihe von Gemeinsamkeiten, etwa bei den Kriterien des jus ad bellum und des jus in bello sowie bei der ethischen Betrachtung neuer Technologien wie der Cyberkriegsführung, der ferngesteuerten Kriegsführung und der autonomen Waffensysteme. Interessanterweise sind Unstimmigkeiten in den Curricula beider Länder festzustellen. Kevin van Loon, einer der Autoren des vorliegenden Beitrags, betont die Notwendigkeit, an einem „gut konzipierten, kontinuierlichen Ethikanteil im Curriculum“ zu arbeiten, um Kohärenz und Konsistenz zu stärken.[28] Ähnlich äußerte sich Jamie Cullens vom Centre for Defence Leadership and Ethics (CDLE) der australischen Streitkräfte im Jahr 2008: „Der derzeitige Ansatz für die Durchführung militärischer Ethikprogramme enthält insgesamt zwar einige gute Ideen und passende Vorstellungen, es mangelt aber an Konsistenz und Schwerpunktsetzungen.“[29]
Abschließende Gedanken
In der Gestaltung der Ethikausbildung durch die Streitkräfte wird es immer Gemeinsamkeiten und Unterschiede geben. Die Unterschiede hängen wahrscheinlich mit der wahrgenommenen Funktion und dem Umfang, den theoretischen Grundlagen, den spezifischen Inhalten sowie der Art und Weise zusammen, wie Ausbildung und Schulungen organisiert sind. Ob es einen spezifisch europäischen Ansatz in der Militärethik gibt oder nicht, ist im Grunde eine empirische Frage. Gibt es in den europäischen Streitkräften ein ähnliches Verständnis von der Rolle der militärischen Ethikausbildung? Gibt es einen funktionalen oder einen persönlichkeitsorientierten, einen theoretischen oder praktischen Schwerpunkt? Ein kurzer Vergleich zwischen den Niederlanden und Australien zeigt große Ähnlichkeiten, weist aber auch auf die internen Unterschiede hin; unterschiedliche Ausbildungsansätze hängen vom Lehrgangsniveau und der Zielgruppe ab, wobei die beiden Länder jeweils auf unterschiedliche Schwerpunkte, Themen und theoretische Grundlagen zurückgreifen. Diese internen Unterschiede bergen die Gefahr von Unstimmigkeiten im Curriculum insgesamt. Eine Analyse der hier erörterten Aspekte der Militärethik – zu Vergleichszwecken oder in der Einzelbetrachtung – könnte das Bewusstsein schärfen und die Streitkräfte bei der Weiterentwicklung ihrer Curricula unterstützen. Es wäre zu diskutieren, ob allein die Analyse und der Vergleich der Ethik-Ausbildungsprogramme die Frage nach einem eigenständigen europäischen Verständnis von Militärethik vollständig beantworten können. Zur Validierung wären weitere Untersuchungen über die Wirksamkeit des Ethikunterrichts und das tatsächliche Verhalten der Soldaten – sowohl in den Kasernen als auch im Gefecht – vermutlich sinnvoll.
[2] Lucas, G. (2015): Routledge Handbook of Military Ethics. London and New York. (Übersetzung aus dem Englischen.)
[3] Van Baarda, T.A., und Verweij, D.E.M. (2006): Military Ethics. The Dutch Approach – A Practical Guide. Leiden. (Übersetzung aus dem Englischen.)
[4] Cook, M. L. und Syse, H. (2010): What Should We Mean by ‘Military Ethics’? In: Journal of Military Ethics 9 (2), S. 119–122, S. 119 f. (Übersetzung aus dem Englischen.)
[5] Coleman, S. (2013): Military Ethics. An Introduction with Case Studies. Oxford.
[6] Van Baarda, T.A., und Verweij, D.E.M. (2006), siehe Endnote 3.
[7] Wolfendale, J. (2008): What is the point of teaching ethics in the military? In: Robinson, Paul, de Lee, Nigel und Carrick, Don (Hg.): Ethics Education in the Military. Aldershot/Burlington, S. 161−174.
[8] Ebd., S. 162. (Übersetzung aus dem Englischen.)
[9] Kasher, Asa (2008): Teaching and Training Military Ethics: An Israeli Experience. In: Robinson, Paul, de Lee, Nigel und Carrick, Don (Hg.), siehe Endnote 7, S. 138−146, S. 139 f. (Übersetzung aus dem Englischen.)
[10] Robinson, Paul, de Lee, Nigel und Carrick, Don (Hg.), siehe Endnote 7.
[11] Robinson, Paul, de Lee, Nigel und Carrick, Don (Hg.), siehe Endnote 7, S. 1.
[12] Dieser Abschnitt stützt sich auf frühere Arbeiten: Peperkamp, L. und Braun, C.N. (2022): Contemporary Just War Theory and Military Education. In: Kramer, E. und Molendijk, T. (Hg.): Confrontations with Violence in Extreme Conditions. New York, S. 101−117. doi.org/10.1007/978-3-031-16119-3_8.
[13] Walzer, M. (1977): Just and Unjust Wars. A Moral Argument with Historical Illustrations. New York.
[14] Natürlich sind diese Grundsätze umstritten. Für diesen Beitrag heben wir lediglich die Kernprinzipien der „herkömmlichen“ Theorie des gerechten Krieges hervor. Für anderslautende Positionen und ethische Grundlage siehe z. B. Benbaji, Y. und Statman, D. (2021): War by Agreement: A Contractarian Ethics of War. Oxford; Frowe, H. (2014): Defensive Killing. Oxford; McMahan, J. (2006): The Ethics of Killing in War. In: Philosophia, 34(1), S. 23−41; Rodin, D. (2003): War and Self-Defense. Oxford; Shaw, W.H. (2016): Utilitarianism and the Ethics of War. London. Für eine vergleichende Analyse dieser Positionen siehe z. B. Peperkamp, L. (2019): De Oorlog in de Theorie van de Rechtvaardige Oorlog. In: Algemeen Nederlands Tijdschrift voor Wijsbegeerte, 111(1), S. 63−94; Lazar, S. (2018): Method in the Morality of War. In: Frowe, H. und Lazar, S. (Hg.): The Oxford Handbook of Ethics of War. New York, S. 21−40.
[15] Ein ausgezeichneter aktueller Überblick findet sich hier: Skerker, M., Whetham, D. und Carrick, D. (Hg.) (2019): Military Virtues. Havant. Und für eine kritische Betrachtung der militärischen Tugendethik siehe: Miller, J.J. (2004): Squaring the Circle: Teaching Philosophical Ethics in the Military. In: Journal of Military Ethics 3(3), pp. 199−215.
[17] Olsthoorn, P. (2013): Virtue Ethics in the Military. In: van Hooft, S. et al. (Hg.) (2014): The Handbook of Virtue Ethics. Abingdon/New York, pp. 365−374.
[22] Van Baarle, Eva und Blom-Terhell, Marjon (2022): ‘The Roof, the Roof, the Roof is on Fire’. Moral Standards and Moral Disengagement in Military Organisations. In Verweij, Désirée, Olsthoorn, Peter und van Baarle, Eva (Hg.): Ethics and Military Practice. Leiden, S. 24−39.
[26] Wortel, E. und Bosch, J. (2011): Strengthening Moral Competence: A ‘Train the Trainer’ Course on Military Ethics. In: Journal of Military Ethics 10 (1). doi.org/10.1080/15027570.2011.562372.
[27] Cook, M. (2004): Perspectives on Ethics Education in Australian Joint Professional Military Education. Leadership Papers. Centre for Defence Command Leadership and Management Studies.
[28] Van Loon, K. (2020), siehe Endnote 23: „Alle Befragten bestätigen, dass die Koordination meist bilateral und zufällig stattfindet, und einige betonen sogar die Notwendigkeit einer übergreifenden Struktur mit zentralen Zielen und Leitlinien. Sie nehmen die Studiengänge und Ausbildungsangebote als Bottom-up-Initiativen innerhalb relativ isolierter Programme wahr.“ (Übersetzung aus dem Englischen.)
[29] Cullens, J. (2008): What ought one to do? Perspectives on military ethics education in the Australian Defence Force. In: Robinson, Paul, de Lee, Nigel und Carrick, Don (Hg.) (2008), siehe Endnote 7, S. 88.
Dr. Lonneke Peperkamp ist Professorin für Militärethik und Führung an der Niederländischen Verteidigungsakademie (NLDA). Sie ist auch am iHub der Radboud Universität Nijmegen und am Zentrum für Militärethik des Kingʼs College London tätig. In ihrer Forschungstätigkeit beschäftigt sie sich mit den Themen Theorie des gerechten Krieges, Peace Building, globale Gerechtigkeit, Menschenrechte und Weltraumsicherheit.
Kevin van Loon
Major Kevin van Loon war als Infanterieoffizier zweimal in Afghanistan stationiert. Aktuell bekleidet er eine Assistenzprofessur an der Niederländischen Militärakademie. Zu seinen Fachgebieten gehören militärische Führung und Ethik, Personalmanagement und Forschungsmethoden.
Deane-Peter Baker
Dr. Deane-Peter Baker ist Außerordentlicher Professor für Ethik an der School of Humanities and Social Science der University of New South Wales (UNSW) in Canberra und Direktor des Military Ethics Research Lab and Innovation Network (MERLIN). Außerdem ist er Senior Visiting Research Fellow am Centre for Military Ethics des Kingʼs College London. Vor seiner jetzigen Tätigkeit war er als Dozent am Department of Leadership, Ethics and Law der US Naval Academy tätig.
David Evered
David Evered diente 47 Jahre lang in der australischen Armee und der Armeereserve. Anschließend trat er in den öffentlichen Dienst ein und war im australischen Verteidigungsministerium sowie im Ministerium für Inneres und Heimatschutz tätig. Zuletzt betrieb er in der Army History Unit Studien in Oral History auf den Salomonen. Er erwarb einen DBA sowie einen MBA an der University of Southern Queensland. Aktuell promoviert er an der University of New South Wales (UNSW) in Canberra.