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Ethische Bildung in den Streitkräften – Überbrückung oder Vertiefung der Kluft?

Huntingtons Paradigma und die europäischen Streitkräfte 

Seit Jahrhunderten ist sich die Menschheit der Tatsache bewusst, dass Wissen Macht bedeutet (Scientia potestas est). Der Umfang unseres Wissens – das machtvollste Instrument des Menschen und unsere wichtigste Ressource – nimmt mit dem Hinzukommen mehr und mehr Wissens in allen Bereichen des menschlichen Lebens von Generation zu Generation beständig zu. Trotz dieses unbestreitbar kontinuierlichen Prozesses der Wissensanhäufung in jedem einzelnen Lebensbereich, an dem Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen im Lauf der Jahrtausende beteiligt waren, gibt es immer wieder Momente, in denen Einzelne das System und den „Rahmen“ bestehenden Wissens durch „Revolutionen“ in ihren Grundfesten erschüttern und so neue Paradigmen wie Rahmen, Systeme oder Wissenshorizonte erschaffen. Diese extrem vereinfachte Darstellung von Kuhns Sicht auf die Anhäufung und Nutzung von Wissen durch den Menschen soll weniger die historische Entwicklung von Wissenschaft und Wissen erklären, sondern vielmehr die Bedeutung einzelner Individuen unterstreichen, die unsere Wahrnehmung bestimmter, für verstanden gehaltener Aspekte der Welt verändern. Diese Individuen führen nicht nur neue, erklärungsmächtigere Paradigmen ein, sondern prägen damit auch normativ und präskriptiv, wie der Mensch die Realität interpretiert – und bis zu einem gewissen Grad sogar, wie er Institutionen und Gesellschaften organisiert. Kaum jemand bestreitet, dass das heute geltende Paradigma der Beziehungen zwischen modernen Streitkräften und Zivilgesellschaften seine Existenz Samuel P. Huntingtons wegweisendem Buch The Soldier and the State verdankt. Brooks bezeichnet Huntingtons Verständnis der zivil-militärischen Beziehungen inzwischen als den „Standard“, an der alle weiteren Perspektiven gemessen werden.

Huntingtons Paradigma basiert im Wesentlichen auf dem Begriff der „objektiven Kontrolle“, welche auf der strikten, tiefgehenden und klar definierten Trennung von Militär und Politik beruht, um den unpolitischen Charakter der Streitkräfte zu gewährleisten. Diese dienen im Idealfall höchst professionell der Politik, das heißt, sie ordnen sich loyal und gehorsam den Interessen der Gesellschaft unter und sind ausschließlich auf die Maximierung ihrer Schlagkraft ausgerichtet. Huntingtons hehre Vision ist darauf ausgerichtet, die katastrophalen Folgen unangemessener Beziehungen zwischen Gesellschaft und Militär, wie es sie in der Vergangenheit immer wieder gegeben hat, zu verhindern. Denn diese Beziehungen neigten bisweilen zu einer übermäßigen Verflechtung oder gar Angleichung. Man könnte sein Konzept der objektiven Kontrolle auch so verstehen, dass es auf der Notwendigkeit einer Trennung des Militärischen von der Politik und nicht so sehr von der Gesellschaft insgesamt basiert, selbst wenn er an einigen Stellen durchblicken lässt, dass er auch diese Trennung bis zu einem gewissen Punkt für wünschenswert hält. Manche behaupten nicht zu Unrecht, er habe eine vollständige Trennung der militärischen Kaste vom Rest der Gesellschaft, besonders in einer Demokratie, sogar als Idealfall angesehen. Jedenfalls hat Huntingtons Paradigma in den knapp sieben Jahrzehnten seit Erscheinen seines Buches zu einer beunruhigenden Trennung der Streitkräfte von der Zivilgesellschaft insgesamt beigetragen, nicht nur von der Politik. Diese offensichtliche und anscheinend größer werdende Kluft in den heutigen europäischen Gesellschaften – vielleicht sogar als Krise der zivil-militärischen Beziehungen zu bezeichnen – stellt nicht nur eine große Herausforderung für die Streitkräfte, sondern auch für die Gesellschaften dar. Darüber, wie sich wandelnde kulturelle Strategien in (post-)modernen Gesellschaften zur Abwendung, ja sogar Entfremdung von militärischer Kultur, Werten und Identität beitragen, ist bereits viel geschrieben worden. Viel mehr sollte dagegen wohl noch über die militärische Seite dieser Kluft gesprochen und diskutiert werden, also darüber, was die Streitkräfte selbst zu deren Vertiefung beitragen. Die ethische Bildung in den Streitkräften nimmt eine sehr zwiespältige, vielleicht sogar heikle Position in dieser Dynamik ein und kann sogar Schaden anrichten, wenn sie nicht richtig verstanden und umgesetzt wird.

Trennung, Abschottung und Entfremdung

Das Konzept eines relativ strikten militärischen Professionalismus beinhaltet die Trennung und sogar Isolation des Militärs vom Rest der Gesellschaft in so gut wie allen Aspekten, einschließlich der physischen Abtrennung militärischer Einrichtungen. Daraus folgt auch die Notwendigkeit separater, paralleler Institutionen innerhalb militärischer Einrichtungen, die „zivile“ Dienstleistungen für Militärbedienstete anbieten. Denn wenn so gut wie alles vor Ort zu bekommen ist, müssen diese Dienstleistungen nicht außerhalb der Streitkräfte bezogen werden. In gewisser Weise ist eine solche Trennung bis hin zur bewussten Abschottung auch ratsam und sinnvoll – wegen ihres besonderen Auftrags, der einzigartigen Mittel zu seiner Erfüllung, der besonderen Herausforderungen, des charakteristischen Wertesystems und der idiosynkratischen Kultur der Streitkräfte. Um es mit Huntingtons Begriffen auszudrücken, ist das „militärische Denken“ notwendige Voraussetzung für militärische Effektivität und somit klar vom nicht militärischen zu unterscheiden. Das „normale“ Denken wäre  schlicht und ergreifend nicht in der Lage, die Erwartungen im spezifischen militärischen Umfeld voll zu begreifen und sich ihnen zu stellen. Doch die notwendige Trennung des Militärischen von der Gesellschaft beinhaltet nicht zwangsläufig ihre Entfremdung – eine solche ist fast undenkbar, wenn die Gesellschaft durch eine Form des zeitlich begrenzten Wehrdiensts ihrer Bürger aktiv am Militär teilhat. Wenn sich Gesellschaften jedoch von den verschiedenen traditionellen Modellen eines vorübergehenden verpflichtenden Militärdienstes für alle Bürgerinnen und Bürger (zumindest für die männlichen) und der Einberufungspraxis verabschieden, kann diese dauerhafte Trennung und Abschottung in der Tat zu einem Auseinanderleben und zur Entfremdung führen.

Zweifellos hat ein solches Modell kleiner, voll professionalisierter Streitkräfte, die „außerhalb“ der Gesellschaft funktionieren, seine Vorteile

Die meisten europäischen Länder haben zwischen dem Ende des Kalten Krieges und dem Ende der 2010er-Jahre diese Wandlung vollzogen. Deutschland war im Jahr 2011[1] eines der Schlusslichter. Es mag einige Ausnahmen[2] geben, aber die meisten europäischen Streitkräfte sind inzwischen zumindest teilweise in Berufsarmeen überführt worden und somit vollständig vom Rest der Gesellschaft separiert bzw. von dieser praktisch isoliert. Moderne, voll professionalisierte Streitkräfte entsprechen vielleicht dem Idealbild von Huntingtons Vision unpolitischer, in allen Aspekten von der Politik getrennter Streitkräfte. Es hat sich jedoch leider herausgestellt, dass diese nicht nur von der Politik völlig getrennt und entfremdet sind, sondern von allem wesenhaft Politischen. Dies wiederum spiegelt sich in der Entfremdung vom Rest der echten und grundlegenden Kommunität wider. Zweifellos hat ein solches Modell kleiner, voll professionalisierter Streitkräfte, die „außerhalb“ der Gesellschaft funktionieren, seine Vorteile, besonders im Zeitgeist unserer postmodernen individualistischen „Anspruchsgesellschaften“, wie sie der italienische Politologe Giovanni Sartori genannt hat. Doch die bis zur Entfremdung reichende Trennung der Streitkräfte von der Gesellschaft bringt offensichtlich und unbestreitbar viele Herausforderungen mit sich und hat zahlreiche unvorteilhafte Folgen, die zur genannten Krise der zivil-militärischen Beziehungen führen und die Kluft zwischen der Gesellschaft und der sie beschützenden Institution tiefer werden lassen.

Herausforderungen militärischer Entfremdung

 Die Herausforderungen und Folgen der militärischen Entfremdung wurden bereits hinlänglich diskutiert, besonders im Zusammenhang mit der sich vertiefenden zivil-militärischen Kluft in den Vereinigten Staaten von Amerika. Dass die Vereinigten Staaten bereits im Jahr 1973 von der Wehrpflicht- auf eine Berufsarmee aus Freiwilligen umstellten – also historisch gesehen relativ früh im Vergleich zu den europäischen Ländern (mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs) –, hat zum Umfang und Tiefgang dieser Debatten beigetragen, die sich auf die jahrzehntelangen Erfahrungen mit der Trennung und Abschottung des US-Militärs vom Rest der amerikanischen Gesellschaft stützen konnten. Obwohl die Folgen im amerikanischen Kontext und vor dem Hintergrund spezifischer Erfahrungen untersucht werden, scheinen sie doch universell für Gesellschaften mit professionalisierten Streitkräften ohne Wehrpflicht zu gelten. Es ist kaum von der Hand zu weisen, dass Europa aus den Erfahrungen der USA viel lernen kann. US-amerikanische Autoren haben sich mit den Problemen beschäftigt, die in Folge der vollständigen Trennung der Streitkräfte von der Gesellschaft und der daraus unweigerlich folgenden Entfremdung entstanden sind. Sie konnten eine Reihe von Faktoren, die potenziell zur Vertiefung der Kluft beitragen, als auch damit einhergehende praktische Probleme identifizieren.

Besonders wenn die Trennung bzw. Entfremdung der Streitkräfte von der Gesellschaft über einen langen Zeitraum andauert, kommt es zu einem vollständigen Abwendung der Zivilisten von den Streitkräften als wesentlicher gesellschaftlicher Institution. Die mangelnde Sichtbarkeit des Militärs im „normalen” Alltag und das Fehlen jeglichen persönlichen Kontakts mit Uniformierten führt zur praktischen Unkenntnis von Wesen, Rolle, Funktion oder sogar Sinn und Zweck der Streitkräfte. Wie zu erwarten, entsteht dadurch völliges Desinteresse am Militärdienst, massiven Rekrutierungsproblemen sowie zur Abwertung des sozialen Status von Angehörigen der Streitkräfte. Hinzu kommt, dass die hochrangigen Politiker, die die Streitkräfte kontrollieren, einsetzen und für sie zuständig sind, selbst oft über keinerlei militärische Erfahrung verfügen und nie selbst den Streitkräften angehört haben. Gleichzeitig verlieren unpolitische Streitkräfte, deren Verbindungen zum politischen Leben ihrer Gesellschaften gekappt wurden, das Interesse an den politischen Folgen ihres Handelns und ihrer Entscheidungen. Schlussendlich führen diese und viele andere Probleme dazu, dass die Streitkräfte tendenziell außerhalb der „normalen“ Zivilgesellschaft verortet werden und mit der Zeit zum „Staat innerhalb des Staats“ werden – ein bereits von vielen Experten thematisiertes Problem. Wir interessieren uns an dieser Stelle allerdings mehr für die militärische Seite der Kluft, das heißt, wir erforschen und diskutieren nur von militärischer Seite aus gesehen die Faktoren, die zu diesem Entfremdungsprozess beitragen. Insbesondere erörtern wir das leider zunehmend manifeste Misstrauen, die Verachtung und sogar latente Feindseligkeit der Streitkräfte gegenüber der Zivilgesellschaft. Diese Einstellungen sind eng mit einem Überlegenheitsgefühl in puncto Organisation, Prozesse, Kultur und sogar Moral verbunden.

Misstrauen, Verachtung und Überlegenheit

Mehrere US-amerikanische Autoren haben das Phänomen der „militärischen Überlegenheit“ nicht nur benannt, sondern auch empirische Studien und Umfragen durchgeführt, um es auszuloten[3]. Die Ergebnisse der in den Vereinigten Staaten durchgeführten Studien sind – vorsichtig ausgedrückt – besorgniserregend für die amerikanische Gesellschaft. Denkt man an den bereits erwähnten Prozess der Professionalisierung der Streitkräfte in Europa im Zuge der Aussetzung der Wehrpflicht, so sollten die Ergebnisse der US-Studien – und das ist genauso wichtig – auch den europäischen Gesellschaften zu denken geben. Die Studienergebnisse gewähren Einblicke in die potenziellen langfristigen Probleme einer zunehmenden Trennung und Entfremdung der europäischen Streitkräfte von ihren Gesellschaften. In sämtlichen empirischen Studien bestätigte sich die Hypothese, dass die vollständige Abtrennung der Streitkräfte nicht nur zu ihrer Abschottung und Entfremdung von der Gesellschaft führt, sondern auch zum Entstehen von Misstrauen, einem Gefühl von moralischer Überlegenheit und sogar Verachtung für die Zivilgesellschaft.

Es muss hier noch einmal hervorgehoben werden, dass Streitkräfte bei einer vollständigen Trennung und Abschottung vom Rest der Gesellschaft und ohne nennenswerten beruflichen Kontakt mit der Zivilsphäre dazu neigen, in fast allen Aspekten ein Gefühl der Überlegenheit zu entwickeln und zu kultivieren – auf organisatorischer, kultureller, ethischer und sogar moralischer Ebene. Leider trägt die Entstehung dieses Gefühls nur noch weiter zur Entfremdung vom Rest der Gesellschaft bei, da sich die Streitkräfte abschotten, ja sogar abkapseln und zunehmend selbstbezogen, ungläubig, misstrauisch und sogar herablassend werden gegenüber denen, die sie in vielerlei Hinsicht als „unterlegen“ ansehen. Das eigentliche Gefühl der Überlegenheit ist daher keine Folge von Misstrauen und Verachtung, sondern vielmehr deren Ursache. Es scheint daher alles andere als abwegig, den Blick auf den abnehmenden gesellschaftlichen Status und Respekt für Militärangehörige und ihre zunehmende Bedeutungslosigkeit außerhalb ihrer Institution zu richten und den potenziellen Einfluss auf die Entstehung jenes Besonderheits- und Überlegenheitsgefühls in Betracht zu ziehen – als eine Art spontaner und unbewusster Abwehrmechanismus, um sich der eigenen Auffassung von Werten sowie der eigenen Bedeutung, Relevanz und Exzellenz rückzuversichern. Die zunehmende praktische Bedeutungslosigkeit militärischen Personals, selbst hochrangiger Offiziere, außerhalb ihrer Kasernen und Einrichtungen in der „zivilen Welt“ wird in erster Linie von der Abschaffung der Wehrpflicht und des Wehrdienstes sowie durch die vollständige Gleichgültigkeit gegenüber den Streitkräften im „Rest der Gesellschaft“ verursacht. In Gesellschaften, in denen alle jungen Menschen oder zumindest alle jungen Männer einen nicht unerheblichen Teil ihres Lebens in Uniform verbringen, unter dem Kommando von Offizieren, die eine im zivilen Kontext nicht existierende Macht über die Soldaten haben, werden Offiziere meist sehr respektiert, geschätzt oder sind zumindest relevant in allen Sphären der Gesellschaft. Dagegen haben in Gesellschaften, die sich für eine Berufsarmee der einen oder anderen Form entschieden haben, noch nicht einmal die hochrangigsten Offiziere außerhalb der Streitkräfte irgendeine faktische Macht, Einfluss oder Bedeutung – besonders nicht Ländern, in denen die überwältigende Mehrheit der Menschen nie Wehrdienst geleistet hat und jeglichem Militärischen relativ unwissend gegenübersteht.

 Unabhängig von den Gründen liegt es auf der Hand, dass das Entstehen eines Überlegenheitsgefühls in den Streitkräften, welches zu Misstrauen und Verachtung für den Rest der Gesellschaft führt, nicht nur die sprichwörtliche Kluft vertieft, sondern auch zu einer ganzen Reihe praktischer Schwierigkeiten und großen potenziellen Problemen führt. Das kann damit beginnen, dass politische Entscheidungsträger, deren Mandat ja gerade die Kontrolle und Führung der Streitkräfte ist, als moralisch unzulänglich und verachtenswert wahrgenommen werden und sich in der Ablehnung sinnvoller Zusammenarbeit mit Zivilinstitutionen fortsetzen – bis hin zu dem Gefühl, die Gesellschaft, der die Streitkräfte eigentlich dienen und die sie beschützen sollen, sei es in Wirklichkeit nicht wert, für sie zu kämpfen oder sich für sie zu opfern, sondern sie verdiene sogar Verachtung.

Die besondere Rolle ethischer Bildung in den Streitkräften

Unter Berücksichtigung der oben beschriebenen großen Herausforderungen, Risiken und potenziellen Gefahren sowohl für die Streitkräfte als auch für die „zivile Welt“, die durch die Entfremdung vom Rest der Gesellschaft, durch das Entstehen eines Überlegenheitsgefühls in den Streitkräften und insgesamt durch die bedrohliche Vertiefung der zivil-militärischen Kluft entstanden sind, haben Wissenschaftler und Experten aus der Praxis verschiedene Schlüsselmechanismen und Ansätze identifiziert, um diesem Prozess entgegenzuwirken oder ihn zumindest aufzuhalten. Ungeachtet der Vielzahl unterschiedlicher Herangehensweisen und Ansätze sind sie sich bei zwei wichtigen Instrumenten einig: (Wieder-)Einführung eines (wie auch immer gearteten) Wehrdienstmodells sowie Anpassung und Verbesserung der Bildung von Militärangehörigen, besonders des Offizierskorps. Beim ersten Instrument spielen natürlich zahlreiche Faktoren und Umstände eine Rolle, welche die Entscheidung über die (Wieder-)Einführung der Wehrpflicht oder zumindest die Förderung einer breiteren öffentlichen Debatte beeinflussen. Trotz einiger Entwicklungen in diese Richtung in vielen europäischen Ländern im Laufe der letzten Jahre setzt Europa im Grunde jedoch nach wie vor auf kleine Berufsarmeen. Dies bedeutet wiederum, dass man sich vorrangig die zweite Handlungsoption ansehen muss, um die Kluft zu überbrücken, bevor sie sich in einen tiefen Abgrund verwandelt. Daher ist es notwendig, die sozial- und geisteswissenschaftliche Bildung in den Streitkräften zu stärken, um mithilfe einer deutlich gesünderen und nachdrücklicheren Beziehung zwischen Militärangehörigen und Zivilinstitutionen bzw. der Zivilbevölkerung generell sich wieder anzunähern. Die ethische Bildung in den Streitkräften spielt natürlich eine besonders wichtige, sogar entscheidende (!) Rolle in diesem Prozess. Genauso offensichtlich ist es jedoch, dass diese Rolle prima facie unglaublich heikel, ambivalent und vieldeutig ist.

Es geht um Streitkräfte, die aus ihrem Volk heraus entstehen, ohne jemals aufzuhören, das Volk zu sein

Wie von vielen Autoren erwähnt, beruht eine optimale Herangehensweise an die ethische Bildung in den Streitkräften auf der Annahme der Entwicklung eines starken und gefestigten Ethos, welches die beiden traditionellen Ansätze ethischer Bildung in den Streitkräften miteinander vereint – den persönlichkeitsorientierten und den funktionalen[4]. Ein militärisches Ethos als spiritus movens der Militärangehörigen herauszubilden sowie ein System spezifischer Werte, Tugenden und Normen zu verinnerlichen, die zum festen Bestandteil der eigenen Identität und des eigenen Charakters werden, hängt davon ab, dass die moralische Exzellenz des Militärberufs wirklich verstanden und dieser nicht nur moralisch legitimiert wird. Das Ziel jedes ernst zu nehmenden Militärethikdozenten muss darin bestehen, seinen Studierenden das Verständnis für die moralische Exzellenz und die aus vielerlei Gründen außergewöhnlich stark ausgeprägte moralische Natur des Militärdienstes zu vermitteln. Genau dieses Verständnis für den moralisch außergewöhnlichen Charakter des Militärdienstes sollte die Hauptmotivation für Militärangehörige sein und ist das Einzige, was in Wirklichkeit sowohl in Friedens- als auch in Kriegszeiten das angestrebte und optimale Verhalten von Männern und Frauen in Uniform bewirken kann. Dabei handelt es sich gewissermaßen um den „Heiligen Gral“ der ethischen Bildung für die Streitkräfte. Mit Bezug auf das Problem von Entfremdung und Überlegenheitsgefühlen der Streitkräfte zeigt sich aber zugleich, dass eine militärethische Bildung mit dem Ziel der Entwicklung eines militärischen Ethos dieses Überlegenheitsgefühl noch zu nähren scheint, indem sie die moralische Außergewöhnlichkeit und Erhabenheit soldatischer Pflicht verdeutlicht.

Kann ethische Bildung in den Streitkräften also dazu beitragen, die Kluft zu schließen, anstatt den Abgrund zwischen Streitkräften und dem Rest der Gesellschaft in den europäischen Ländern ohne Wehrpflicht weiter zu vertiefen? Wir glauben fest daran, dass die ethische Bildung dies leisten kann und auch leisten muss. Allerding darf die potenzielle Entstehung des höchst unerwünschten Besonderheits- und Überlegenheitsgefühl gegenüber dem Rest der Gesellschaft, der das Militär dienen soll, nicht unbeachtet bleiben; eine optimale Herangehensweise an die Vermittlung militärischer Ethik wird daher zwangsläufig einen Huntington geradezu entgegengesetzten Ansatz verfolgen und die wesentliche, fast metaphysische Verbindung zwischen einer Nation und ihren Streitkräften betonen müssen. Streitkräfte existieren oder operieren nicht außerhalb oder abgehoben von der Bevölkerung, selbst wenn sie durchprofessionalisiert, physisch und operativ getrennt und isoliert und aufgrund des Fehlens eines Wehrdienstes voneinander entfremdet sind; Militärangehörige kommen immer aus der Bevölkerung, sind wesentlicher Bestandteil und Produkt ihrer Nation. Streitkräfte sind einfach ausgedrückt die Verkörperung des Willens und der Bereitschaft des Volkes, seine Freiheit und kollektive Lebensweise zu verteidigen, selbst wenn die Soldaten sich dafür in Lebensgefahr begeben und sich tödlicher Gefahr aussetzen müssen, was eine zutiefst ethische Entscheidung ist.

Daher muss ethische Bildung in den Streitkräften zweifellos darauf abzielen, bei den Militärangehörigen und ganz besonders unter den Offizieren das Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass es einen unauflöslichen Bund zwischen der Bevölkerung und ihren Streitkräften gibt, aber nicht als zwei voneinander getrennte Gebilde. Vielmehr geht es um Streitkräfte, die aus ihrem Volk heraus entstehen, ohne jemals aufzuhören, das Volk zu sein. Das Motto der US-Reserve „Twice the citizens“ gibt diese Verbindung wohl perfekt wieder, indem auf die Doppelrolle von Männern und Frauen in Uniform Bezug genommen wird, die nicht plötzlich aufhören, Bürger und „das Volk“ zu sein, wenn sie ihre Uniform anlegen und sich den Streitkräften anschließen. Sie werden auch nicht zu einer Art „Über-Bürgern“. Ähnliches gilt für die hehre Vorstellung hinter dem deutschen Begriff der Inneren Führung. Die tiefgreifende Kenntnis der ontologischen Einheit der Streitkräfte und ihrer Gesellschaft sollte und darf jedoch nicht durch die Militarisierung der Gesellschaft erreicht werden, sondern muss vielmehr durch die „Zivilisierung“ entfremdeter und entrückter Berufsarmeen unter Zuhilfenahme verschiedener Mittel entstehen, unter anderem durch eine gut konzipierte ethische Bildung. Diese umfasst idealerweise Themen wie den ontologischen Status von Krieg, das tiefere politische Wesen der Streitkräfte, die Friedensethik et cetera und legt den Fokus auf nicht militärische Traditionen und Werte, die von den Streitkräften geschützt werden müssen. Und schließlich könnte die ethische Bildung in den Streitkräften auch von praktischer Unterstützung und Inklusion der „zivilen Welt“, das heißt von zivilen Institutionen und zivilem Personal, enorm profitieren.

 


[1] Interessanterweise wurde die Wehrpflicht im Vereinigten Königreich bereits 1963 abgeschafft.

[2] Bestimmte europäische Staaten innerhalb und außerhalb der EU sehen irgendeine Form von Wehrdienst vor. Einige davon haben die Wehrpflicht nie ausgesetzt, wogegen andere sie nach einer kurzen Aussetzung im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts wieder eingeführt haben.

[3] Die wichtigsten Studien zum Phänomen der militärischen Überlegenheit in den USA sind die TISS-Studie von 1998 bis 99 (TISS= Triangle Institute for Security Studies, veröffentlicht von Feaver und Kohn) und die YouGov-Studie aus dem Jahr 2014 (veröffentlicht von Schake und Mattis). Die jüngste Studie mit West-Point-Kadetten im Jahr 2020 hat frühere Ergebnisse bestätigt, mit anderen Worten, Militärangehörige halten ihre Organisation, Kultur und Werte gegenüber deren zivilen Pendants für überlegen. 

[4] Siehe dazu Stanar, Dragan (2023): Moral education in the military: Optimal approach to teaching military ethics. In: Theoria 66 (1), S. 37−51.

Zusammenfassung

Dragan Stanar

Dr. Dragan Stanar ist Außerordentlicher Professor für Militärethik und Moral an der Militärakademie der Universität für Verteidigung in Belgrad (Serbien). Er promovierte an der Philosophischen Fakultät Belgrad zum Thema Militärethik. Dr. Stanar ist gewähltes Mitglied des Vorstands der Europäischen Gesellschaft für Militärethik (EuroISME).


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Militärethik und militärische Ethikausbildung: Auf der Suche nach einem „europäischen Ansatz“
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