Kontroversen in Militärethik und Sicherheitspolitik
Die russische Invasion der Ukraine: Keine Spur von konventioneller Extremgewalt
Auch nach mehr als anderthalb Jahren bleiben das Ausmaß und die unfassbare Grausamkeit des russisch-ukrainischen Kriegs bemerkenswert. Doch nur wenige dürften mit einer derartigen entfesselten Gewalt gerechnet haben. Offenbar hat Russland nicht erwartet, dass sich dieser Krieg zum größten militärischen Konflikt in Europa seit 1945 entwickeln würde. Dem Eindruck nach wollte die politische und militärische Führung Russlands Clausewitzʼ These vom Krieg als „Spiel der Wahrscheinlichkeit und des Zufalls“ bestätigen. In der Tat geschieht in diesem Krieg viel Unvorhergesehenes, worüber noch in aller Klarheit und mit besonderem Augenmerk zu diskutieren sein wird. Die Invasion selbst kam unerwartet. Trotz aller Warnungen hatte man sich im Vorfeld mit dem Argument beruhigt, die russische Regierung nutze aggressive Rhetorik zwar als diplomatische Taktik, sei aber auf eine tatsächliche Invasion nicht vorbereitet. Der Ausbildungsstand und die Gefechtsbereitschaft der russischen Armee erwiesen sich als überraschend niedrig, die Fähigkeiten der der ukrainischen Streitkräfte und die die Kampfbereitschaft der ukrainischen Gesellschaft hingegen als unerwartet groß. Die Solidarisierung vieler Staaten mit der Ukraine und die harten (wenn auch nicht ausreichend entschlossenen bzw. umfangreichen) Sanktionen gegen Russland überraschten die russischen Behörden. Vielleicht waren die unterschiedslosen Angriffe des russischen Militärs und die daraus resultierenden zahlreichen offensichtlichen Kriegsverbrechen das einzig tatsächlich Erwartbare an diesem Krieg. Besonders überraschend war jedenfalls, dass der Krieg so lange andauern würde und, da sich die Parteien inzwischen in einer Pattsituation befinden, sich noch über Jahre hinziehen könnte.
Das umfangreiche Nachdenken über Rückgang und schwindende Bedeutung zwischenstaatlicher Kriege und das Aufkommen neuer Kriege in letzter Zeit scheint plötzlich aus der Zeit gefallen. Der vorliegende Beitrag zeigt jedoch anhand der Merkmale und Praktiken des umfassenden russisch-ukrainischen Kriegs auf, dass die Debatten über die Entwicklung von Kriegen keinesfalls irrelevant geworden sind. Eine meiner Thesen lautet, dass der russisch-ukrainische Krieg die Relevanz einer aktualisierten Theorie des gerechten Krieges – der sogenannten revisionistischen Theorie – unter Beweis stellt (wobei es mir lieber wäre, es gäbe gar keinen Krieg, um irgendeine Theorie zu bestätigen).
Eine Rückkehr zum altvertrauten „klassischen“ Krieg?
Von Anfang an haben sowohl die Art und das Ausmaß dieses Kriegs als auch sein Verlauf und das Spektrum der eingesetzten Waffen die gesamte Literatur zum Wandel des Kriegsbilds infrage gestellt, die mit dem Ende des Kalten Krieges zu erscheinen begann. Martin van Creveld, Mary Kaldor, Herfried Münkler und John Mueller (um nur einige der bekanntesten Namen zu nennen) haben die dramatischen Veränderungen von Kriegen und militärischer Kultur der letzten Jahrzehnte umfangreich behandelt. Vielleicht trifft Mary Kaldor den Nagel auf den Kopf, wenn sie Clausewitzʼ berühmte These auf den Kopf stellt und konstatiert, Kriege seien in unserer Zeit nicht die Fortsetzung, sondern eher die Ablehnung von Politik. Diese neuen Kriege stellen jegliche Ordnung in Frage. Ziel der kriegführenden Parteien ist es, das politische Chaos so lange wie möglich aufrechtzuerhalten, weil sie von den Kriegswirren nur profitieren können. Die Kultur der neuen Kriege ist somit antipolitisch und antisozial.
Und natürlich waren sich all diese Theoretiker darin einig, dass der klassische umfassende Krieg in der heutigen Zeit kein geeignetes Mittel der Politik mehr sei. Er berge zu viele soziale, wirtschaftliche und politische Risiken. Daher versuchen moderne Staaten, den Umfang ihrer militärischen Operationen zu begrenzen – selbst im Krieg. Selbst Einsätze von längerer Dauer, wie im Irak oder in Afghanistan, werden mit relativ kleinen Kontingenten durchgeführt. Mit anderen Worten: Der Krieg hat sich verändert, die Großmächte sind nicht zu einer umfänglichen Militarisierung und Mobilisierung fähig – was sich in den gesunkenen Militärbudgets und Truppenstärken vieler Staaten widerspiegelte.
Und plötzlich beginnt der russisch-ukrainische Krieg, der uns in die Kriegskultur vergangener Zeiten zurückzukatapultieren scheint.
Die Versuchung, den russisch-ukrainischen Krieg so zu interpretieren, liegt tatsächlich nahe. Es handelt sich um einen zwischenstaatlichen, nicht um einen asymmetrischen Konflikt. Eine der Parteien führt einen imperialistischen Krieg, in dem die gegnerische Seite entweder als Kolonie oder als angestammtes und daher legitim beanspruchtes Territorium betrachtet wird. Sie versteht sich selbst als Großmacht bzw. Hegemonialmacht. Folglich bedeutet ein Eindringen in ihre Einflusszone eine tödliche Gefahr – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Die Anzahl der Todesopfer in diesem Krieg ist unglaublich hoch, vergleichbar mit der von Kriegen, an denen irreguläre oder paramilitärische Kräfte beteiligt sind. Auch wenn beim Umgang mit diesen Zahlen Vorsicht geboten ist, müssen wir davon ausgehen, dass auf russischer Seite bislang 120.000 Menschen[1] und auf ukrainischer Seite 70.000 Menschen[2] ums Leben gekommen sind. Die hohen Opferzahlen erinnern an den Krieg in Afghanistan, in dem ebenfalls zwischen 65.000 und 70.000 afghanische Soldaten getötet wurden, die an der Seite der Vereinigten Staaten kämpften. Die USA selbst verloren 6200 Soldaten – über einen Zeitraum von 20 Jahren.[3] Die russische Armee verzeichnet somit gegenwärtig deutlich mehr Gefallene pro Tag als die USA damals pro Monat.
Auch die Tatsache, dass Russland vom Konzept der Souveränität geradezu besessen ist, könnte für einen Krieg alter Art sprechen. Putin und sein Machtzirkel verstehen Souveränität so, wie man sie vor einem oder zwei Jahrhunderten verstand. Auch auf ukrainischer Seite, wo politischer Nationalismus zur Mobilisierung dient, finden sich politische Instrumente aus der Ära der Moderne. All diese Punkte lassen an die Konstellation eines klassischen zwischenstaatlichen Kriegs denken.
Trotz allem ist es ein neuer Krieg!
Denn eine Reihe Faktoren deuten dennoch darauf, dass sich in der Ukraine keineswegs alte Formen der Extremgewalt bzw. ein klassischer Krieg abspielen, was die Debatte über neue Kriege überflüssig oder absurd machen würde.
An erster Stelle lässt sich dies anhand einer Analyse der russischen Kriegsführung verdeutlichen. Schon mit Blick auf das angestrebte Ziel wird der Unterschied zum traditionellen Krieg augenfällig. Ich hoffe, nicht missverstanden zu werden, wenn ich im Folgenden vielleicht wie der russische Nationalist und Militarist Igor Strelkov klinge. Doch weder die politische noch die militärische Führung Russlands haben es bislang gewagt, einen vollumfänglichen Krieg zu beginnen. Weder der Regierungsapparat noch die russische Bevölkerung waren auf einen lang andauernden bewaffneten Konflikt vorbereitet – ebenso wenig die russischen Streitkräfte. Um gegen einen erkennbar so starken Gegner wie die ukrainischen Streitkräfte einen militärischen Erfolg zu erringen, wären mehrere Mobilisierungswellen erforderlich. Russland hat zwar eine Mobilmachung durchgeführt, jedoch nur sehr zögerlich und erst nach einer ganzen Reihe militärischer Niederlagen. Gleichzeitig sollte eine Mobilmachung eigentlich nicht nur die Rekrutierung der Streitkräfte umfassen, sondern auch weitere Maßnahmen im Sinne einer Strategieentwicklung für einen längeren Krieg und der Ausrichtung der Wirtschaft auf militärische Bedürfnisse. Um einen Sieg zu bestimmen, müssten klare militärische Ziele definiert werden. Obwohl sich der russische Staat schrittweise immer stärker militarisiert – dies wird vor allem im Bildungswesen sichtbar, das als Erstes der ideologischen Indoktrination zum Opfer fiel –, wurden bislang keine abgestimmten Maßnahmen ergriffen, um den Staat in ein Militärregime zu verwandeln. Verschiedene Gründe könnten hierfür ausschlaggebend sein. Möglicherweise gibt es in der politischen und militärischen Führung Russlands keine echten Strategen mehr, und es fehlt – anders als bei den ukrainischen Gegnern – das Wissen über eine klassische konventionelle Kriegsführung. Denkbar ist auch, dass die russische Führung ursprünglich davon ausging, lediglich eine Militäroperation durchzuführen und nicht einen Krieg zu beginnen – dies spräche aber eher für einen asymmetrischen Konflikt. Die dritte Option wäre, dass die russische Regierung den Krieg gar nicht im üblichen Sinn des Wortes gewinnen will. Wahrscheinlich wertet sie bereits das Einfrieren des Konflikts und die Aufrechterhaltung einer Spannungszone in der Ukraine als Erfolg. Jedenfalls hat sich Russland in einen Krieg begeben, in dem es weder militärische Ziele erreichen kann noch strategisch der Logik eines militärischen Sieges folgt.
Um einen Sieg zu bestimmen, müssten klare militärische Ziele definiert werden
Zweitens – und das ist in der Tat sehr ungewöhnlich für einen modernen Staat – hat die russische Führung bewusst die Auflösung des Gewaltmonopols in die Wege geleitet. Dieser Prozess, dessen vorläufiger Höhepunkt mit Prigoschins Meuterei erreicht war, hat sich im Kriegsverlauf immer weiter intensiviert. Monat für Monat wird über die Organisation nationaler Bataillone, Freiwilligenbrigaden und privater Militärunternehmen (die in Russland übrigens gesetzlich verboten sind) berichtet. Die Idee des modernen Nationalstaats basiert auf der Schaffung geeinter, streng kontrollierter Streitkräfte mit starren hierarchischen Strukturen und der Ausschaltung jeglicher nicht staatlicher Kommandozentralen. Russland dagegen – ein Staat, der von der Souveränitätsidee geradezu besessen scheint– spaltet die eigenen Streitkräfte und toleriert oder fördert gar die Schaffung gesetzlich verbotener Kampfeinheiten, die parallel zu den regulären Streitkräften kämpfen und finanziert werden. Das birgt das Risiko einer zukünftigen Eskalation. Mit anderen Worten: Der russische Staat tut, was ein starker Staat prinzipiell unterlassen sollte, insbesondere in einer Kriegssituation. Sicherlich profitiert Russland auch von der Existenz von Kampfeinheiten, die permanent im Graubereich operieren. Sollte sie jedoch beginnen, sich gegenseitig zu bekämpfen, besteht die Gefahr eines Bürgerkriegs. Das Rekrutieren von Söldnerführern mit ihren Truppen ist typisch für die Kultur der neuen Kriege und unterstreicht deren nicht militärischen Charakter. Präsident Putin lässt zu, dass diese paramilitärischen Einheiten auftreten, um das Regime nach der Logik von divide et impera zu stärken. Auch wenn Russland dadurch keinen klaren militärischen Vorteil auf dem Schlachtfeld erzielt, eignet sich diese Taktik, um die politische Stellung der Militärführung zu schwächen.
Krieg als Frage des öffentlichen Gewissens
Ein weiteres Merkmal dieses Krieges, das gesondert behandelt werden sollte, ist die nicht mehr steigerbare Moralisierung des Konflikts. In meinen Augen ist dies ein empirischer Beweis für die Relevanz der revisionistischen Theorie des gerechten Krieges.
Die revisionistische Theorie des gerechten Krieges (Revisionist just war theory, RJWT) wird von zahlreichen Autoren vertreten, allen voran Jeff McMahan und David Rodin. Diese Theorie hinterfragt die Relevanz und Rechtfertigung mehrerer Grundannahmen der traditionellen Theorie des gerechten Krieges, deren Hauptvertreter Michael Walzer ist. Für die Revisionisten steht die traditionelle Theorie des gerechten Krieges mit ihrer starken Ausrichtung auf den Staat im grundsätzlichen Widerspruch zur heutigen Zeit, in der die meisten Kriege asymmetrisch verlaufen und von nicht staatlichen Akteuren geführt werden. Dementsprechend betrachtet die revisionistische Theorie des gerechten Krieges nicht mehr den Staat als Hauptakteur, sondern unterzieht vielmehr die Handlungen und Entscheidungen einzelner Personen einer Analyse und moralischen Bewertung. Überkommene Gruppenzugehörigkeiten, wie Zivilisten und Kombattanten, werden dekonstruiert. Ausschlaggebend ist die (Nicht-)Beteiligung einzelner Personen an einer ungerechten militärischen Aggression. Dies führt zu einer weiteren bezeichnenden Aussage des Revisionismus: Die Regeln des ius in bello sind nicht unabhängig von den Grundsätzen des ius ad bellum zu betrachten. Das hat mehrere Konsequenzen, vor allem die, dass Soldaten nicht nur für Kriegsverbrechen, sondern auch für ihre Beteiligung an einem ungerechten Krieg moralisch verantwortlich gemacht werden können.
Die traditionelle Theorie geht von der moralischen Gleichheit unter Kombattanten aus: Solange sich Teilnehmer eines ungerechten Kriegs an die Regeln der Kriegsführung halten, sind sie aus moralischer Sicht nicht im Unrecht. Für die revisionistische Theorie ist dagegen die Unterscheidung zwischen den an einem Angriffskrieg Teilnehmenden und den davon Betroffenen wesentlich: Wer angreift, verwirkt ihr zufolge das moralische Recht sowohl auf einen Angriff als auch auf Verteidigung und verliert gleichzeitig die eigene Immunität vor Angriffen. Der Status der Kriegsteilnehmer wird somit asymmetrisch: Während die Handlungen von Opfern ungerechter Angriffe als moralisch richtig oder falsch bewertet werden können, verwirken Kombattanten in einem ungerechten Krieg allein durch ihre Beteiligung an den Kampfhandlungen jegliche Möglichkeit, moralisch integer zu handeln.[4]
Der russisch-ukrainische Krieg hatte von Anfang an eine moralische Konnotation. Dass sich Kriegsgegner gegenseitig unmoralisches Verhalten vorwerfen oder das eigene Volk bzw. die eigenen Streitkräfte für moralisch höherwertig erklären, ist nichts Ungewöhnliches und kommt in jedem Krieg vor. Der russisch-ukrainische Krieg zeichnet sich jedoch durch einen sehr ungewöhnlichen Diskurs aus. Zwei traditionelle rhetorische Strategien (moralische Rechtfertigung des Rechts auf Selbstverteidigung und moralische Kritik am Gegner) werden vom Appell der ukrainischen Seite an das Gewissen derjenigen Russen begleitet, die die Invasion nicht unterstützen. Die russische Bevölkerung wird aufgefordert, die Unmenschlichkeit und Immoralität dieses Kriegs zu erkennen und ihm ein Ende zu setzen.
Die russische Bevölkerung wird aufgefordert, die Unmenschlichkeit und Immoralität dieses Kriegs zu erkennen und ihm ein Ende zu setzen
Präsident Selenskyj appellierte gleich am ersten Tag des Krieges an die russische Bevölkerung: „Ihr seid Russen. Jetzt hat euer Militär einen Krieg begonnen. Den Krieg in unserem Staat. Bitte sprecht auf dem Roten Platz oder anderswo auf den Straßen eurer Hauptstadt, in Moskau, St. Petersburg oder anderen russischen Städten darüber. Nicht nur auf Instagram – es ist sehr wichtig.“[5] Es gab wiederholt ähnlich lautende Erklärungen auf offizieller Ebene, vor allem in den ersten Kriegsmonaten. Ukrainische Persönlichkeiten und einfache Bürger schlossen sich dem an. Sviatoslav Vakarchuk, Frontmann der populären Rockband Okean Elzy, postete auf Facebook: „RUSSEN!!! SCHWEIGT NICHT! Putin ist verrückt geworden und macht euch alle zu internationalen Verbrechern! Geht auf die Straßen, fordert das Ende des KRIEGS GEGEN DIE UKRAINE!“[6] Ein weiteres Beispiel war auf meiner eigenen Facebook-Seite zu finden, wo mein ukrainischer Freund am Tag des Einmarschs folgende Botschaft teilte: „An alle Russen, rational denkende Menschen, von denen ich hoffe, dass es sie noch in Russland gibt, einschließlich meiner Verwandten und Freunde ... – stoppt DIESEN Wahnsinn! Protestiert, blockiert, tut irgendwas, um das Unumkehrbare aufzuhalten, hört nicht auf die Fake News! Eure Truppen haben heute die Ukraine angegriffen! Fragt, wen ihr wollt in der Ukraine, was hier wirklich passiert. Wir hatten hier Explosionen und Angriffe an unseren Grenzen seit dem frühen Morgen! Brüder gegen Brüder! Schaut genau hin! Wir wollen keinen Krieg, aber wir sind gezwungen, uns zu verteidigen, wenn man auf uns schießt … Auf eurer Seele wird eine schwere Sünde lasten, wenn ihr stumm und untätig bleibt.“[7]
Diese Art Dialog mit dem Gegner ist an sich schon ungewöhnlich. Er zeigt jedoch auch, dass ein Zivilist in den heutigen Kriegen nicht in der Position des passiven Beobachters verharren kann. Wie jeder und jede Einzelne sein Leben in diesem Krieg führt, erhält eine Bedeutung. Entscheidungen und Einschätzungen von Privatpersonen, die nichts mit der Regierung oder der Armee zu tun haben, werden relevant. Mit anderen Worten: Einzelne werden entweder zu Subjekten des Widerstands gegen einen ungerechten Krieg oder zu Komplizen.
In seinen Überlegungen zu den moralischen Pflichten der Russen sagt Michael Walzer: „Krieg ist eine besondere Situation, in der außerordentlicher Zwang ausgeübt wird. Über die Menschen, die darin verwickelt werden, wird unter Berücksichtigung der tatsächlichen Umstände zu urteilen sein.“[8] Ich stimme dem zu: Wenn wir individuelle Entscheidungen verstehen wollen, müssen wir die persönlichen Umstände in Betracht ziehen. Allerdings bin ich nicht davon überzeugt, dass dieses Problem nach dem traditionellen Verständnis einer Trennung von Zivilbevölkerung und Militär gelöst werden sollte oder dass individuelle Umstände die persönliche Verantwortung oder Schuld, die direkte oder indirekte Mittäterschaft am Krieg oder das Begehen von Verbrechen entkräften.
Eine zivil fundierte Ethik für neue Kriege
In der traditionellen Theorie des gerechten Krieges kommen Zivilisten kaum vor, eine aktive Rolle wird ihnen nicht zugebilligt. Sie werden als Objekte politischer Entscheidungsträger verstanden, die mit Rücksicht auf ihre Belange – und möglicherweise zu ihrem Vorteil – entscheiden. Die traditionelle Theorie des gerechten Kriegs geht von einer klaren Rollenverteilung im Krieg aus. Soldaten können militärische Gewalt gegen gegnerische Soldaten anwenden, sind jedoch auch legitime Kriegsziele, können also angegriffen werden. Entsprechend dieser Theorie sind Soldaten auf beiden Seiten der Front moralisch gleichgestellt – ihr moralischer Status ist symmetrisch. Selbst in einem ungerechten Krieg gilt ein Soldat nicht moralisch als Verbrecher, solange er kein Kriegsverbrechen begeht. Zivilisten dürfen im Krieg grundsätzlich nicht angegriffen werden (Kollateralschäden oder die Doktrin der Doppelwirkung gehören zu den seltenen Ausnahmen). Zivilisten gelten als immun bei Angriffen, da sie unbewaffnet, nicht für den Kampf ausgebildet und nicht organisiert sind. Sowohl in der Theorie des gerechten Krieges als auch im Kriegsrecht wird die Trennung von Kombattanten und Zivilisten als Unterscheidungsprinzip bezeichnet. Soldaten dürfen Zivilisten keinen Schaden zufügen. Zivilpersonen sind vom aktiven Kriegsgeschehen als Akteure also de facto ausgeschlossen.
Der russisch-ukrainische Krieg liefert jedoch viele Beispiele dafür, wie bedeutend die Beteiligung von Zivilisten im Krieg sein kann und wie sehr der Kriegsverlauf auch von Menschen abhängt, die keine Uniform tragen. Ohne Bürgerinitiativen, ohne zivile Freiwillige, die Geld für Waffen, Munition und Medizin sammeln, von der Versorgung abgeschnittene Ortschaften mit Lebensmitteln versorgen oder Menschen helfen, aus ihren Städten zu fliehen, würden sowohl die militärischen Operationen als auch das Schicksal der vom Krieg Betroffenen anders verlaufen. Ebenso deutlich wird, dass der moralische Status von Zivilisten als Komplizen im Krieg sehr zweifelhaft sein kann. Blogger, die Videos über Massaker an Kriegsgefangenen veröffentlichen oder Angriffe auf zivile Infrastrukturen rechtfertigen, bei denen Zivilisten getötet werden, können nicht als Kriegsverbrecher verurteilt werden, wenn sie keine Kriegsverbrechen begangen haben. Aber zumindest sollten sie für die Kriegspropaganda und die öffentliche Rechtfertigung von Kriegsverbrechen zur Verantwortung gezogen werden. Auch gewöhnliche Soldaten können (nochmals zur Klarstellung: sofern sie keine Kriegsverbrechen begangen haben) nicht gerichtlich belangt werden. Doch es ist wichtig zu verstehen, warum sie sich den Streitkräften angeschlossen haben. Gab es alternative Lebensentwürfe und -präferenzen? Warum hielten sie den Militärdienst für eine akzeptable Option, auch wenn Russland in der Ukraine einen ungerechten Krieg führt? Warum hält ein Soldat den eigenen Wehrdienst unter diesen Umständen auch nach 20 Monaten Krieg noch für vertretbar? Auf den ersten Blick erscheinen diese Fragen vielleicht zu soziologisch oder anthropologisch. Sie enthalten jedoch auch eine moralische Komponente und sind im komplexen Kontext des Kriegsgeschehens für die Beurteilung von Richtig und Falsch wichtig.
Wie oben angemerkt, ist die revisionistische Theorie in dieser Debatte besser als der traditionelle Ansatz geeignet, über den Umfang der Kriegsbeteiligung von Individuen zu urteilen. Gegenwärtig gibt es jedoch weder eine grundlegende Theorie noch eine klar erkennbare Politik als Richtschnur für das Handeln von Zivilpersonen im Krieg.
Der revisionistische Ansatz wird oft dafür kritisiert, die (Mit-)Verantwortung für die Beteiligung an einem ungerechten Krieg zu betonen, unabhängig davon, ob es um Militärangehörige oder Zivilisten geht (ein Wissenschaftler, der Massenvernichtungswaffen entwickelt, wäre ein mögliches Beispiel für eine solche zivile Kriegsbeteiligung). Der Ansatz verwässere die Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kombattanten und rechtfertige Angriffe auf Zivilisten.[9] Ich halte diese Interpretation nicht für korrekt. Die Schlussfolgerungen auf der Basis dieser Theorie fallen meiner Wahrnehmung nach in der Regel recht gemäßigt aus. Die Frage nach der moralischen Verantwortung oder Mittäterschaft an einem ungerechten Krieg zu stellen, ist nicht gleichzusetzen mit der Forderung, eine Person einer strafrechtlichen Verfolgung oder gar einem militärischen Angriff auszusetzen.
Die Frage nach der moralischen Verantwortung oder Mittäterschaft an einem ungerechten Krieg zu stellen, ist nicht gleichzusetzen mit der Forderung, eine Person einer strafrechtlichen Verfolgung oder gar einem militärischen Angriff auszusetzen
Zudem wird Vertretern der revisionistischen Theorie oft vorgehalten, sie seien realitätsfremd. Sie gelten als zu philosophisch, zu tief in der moralischen Dimension von Krieg verhaftet und dadurch praxisfern.[10] Dies trifft bis zu einem gewissen Grad zu. Als streng philosophischer und analytischer Ansatz kommt der Revisionismus zu einer logisch fundierten, präzisen Einordnung des Kriegs als solchem. Den Ansatz mit dem Argument abzulehnen, er werfe zu komplexe Fragen auf, erscheint mir unhaltbar. Natürlich müssen Soldaten auf dem Schlachtfeld unter extremen Bedingungen handeln und können nicht innerhalb kürzester Zeit entscheiden, ob eine Person ein legitimes Ziel ist oder nicht. Dass es einem normalen Menschen Mühe schwerfallen kann zu entscheiden, ob der vom eigenen Staat erklärte Krieg gerecht ist oder nicht, liegt ebenfalls auf der Hand. Doch wir können uns nicht damit zufriedengeben, angesichts zu schwieriger Fragen lieber nichts zu ändern und weiter davon auszugehen, dass die Soldaten der Wehrmacht, der Waffen-SS oder aktuell der russischen Streitkräfte in der Ukraine durch ihre Beteiligung an den ungerechten Kriegen ihrer Staaten kein Unrecht taten oder tun.
Wer moralisch inakzeptable Taten begeht, dessen Verstoß gegen die Moral muss auch benannt werden. Hieraus ergibt sich jedoch für die Philosophie eine Aufgabe, die zugleich jenen, die gegen die Moral verstoßen, einen Ausweg eröffnet. Aus der revisionistischen Theorie leitet sich aus meiner Sicht die praktische Aufgabe ab, gemeinsam Strategien und Maßnahmen zu entwickeln, mit deren Hilfe Soldaten ihre Beteiligung an ungerechten Kriegen vermeiden, Zivilisten erfolgreicher protestieren und Sicherheitsapparate sich der repressiven Politik ihrer Regierungen entziehen können. Somit richtet sich der Revisionismus nicht primär an einzelne Militärangehörige oder Zivilisten selbst. Es ist nicht seine Aufgabe, Soldaten Vorgaben für die möglichst präzise Ausführung von Befehlen oder das Verhalten im Gefecht zu machen. Er wendet sich vielmehr an die Öffentlichkeit, an politische Organisationen, Regierungen und internationale Organisationen. Solange wir nicht das traditionelle staatszentrierte Narrativ verlassen, wird der Revisionismus unweigerlich nur eine philosophische Kritik bleiben. Doch als theoretische Grundlage kann er Entscheidungsträgern bei der Entwicklung umfassenderer Ansätze und Programme sehr nützlich sein.
Die Welt scheint auf sehr turbulente Zeiten zuzusteuern. Aserbaidschan hat Berg-Karabach eingenommen. Der Krieg im Nahen Osten könnte sich nach wie vor zu einem großen Konflikt ausweiten. Immer häufiger wird behauptet, die Spannungen zwischen China und den Vereinigten Staaten könnten nicht friedlich beigelegt werden. Wir erleben eine reale Rehabilitierung des Kriegs. Die gewaltsame Lösung von Konflikten erscheint nicht mehr inakzeptabel und geächtet. Möglicherweise werden andere Politiker dem Beispiel des russischen Präsidenten folgen und weitere militärische Krisenherde schaffen. Dies ist die Realität unseres Zeitalters der neuen Kriege. Unter diesen Umständen müssen wir unbedingt die Rolle von Zivilisten als vollwertige Teilnehmer an Konflikten neu bewerten. Die revisionistische Theorie des gerechten Krieges kann dabei als Instrument dienen. Diese Aufgabe sollte jedoch nicht in der Theorie verhaftet bleiben; sie erfordert die Entwicklung praktischer Lösungen, um diejenigen zu unterstützen, die bereit sind oder wären, sich der Militarisierung ihrer Gesellschaften zu widersetzen.
[9] Lazar, S. (2015): Sparing Civilians. Oxford, S. 9.
[10] Lazar, S. (2017), siehe Fußnote 5, S. 39; Peperkamp, L. und Braun, C. N. (2023): Contemporary Just War Thinking and Military Education. In: Kramer, E.-H. and Molendijk, T. (Hg.): Violence in Extreme Conditions. Cham, S. 101−117, S. 101−102.
Dr. Arseniy Kumankov ist Forschungsstipendiat am Fachbereich Politik und am University Center for Human Values der Universität Princeton, USA. Seine Spezialgebiete sind die Ethik von Krieg und Frieden sowie politische und Sozialphilosophie. Er ist Mitglied von EuroISME, Concerned Philosophers for Peace und des Independent Institute of Philosophy.