Kontroversen in Militärethik und Sicherheitspolitik
ÖSTERREICH
Für das Special dieser Ausgabe hat die Redaktion von „Ethik und Militär“ Expertinnen und Experten aus verschiedenen Staaten einen sechs Punkte umfassenden Fragenkatalog zum Thema Militärethik und Ethikunterricht in ihren jeweiligen Streitkräften vorgelegt. Diese Seiten erheben keinen Anspruch auf Repräsentativität, sondern sollen weiteres Anschauungsmaterial für die Frage nach einem gemeinsamen europäischen Ansatz auf diesem Gebiet liefern.
Was verstehen Sie bzw. was versteht man in Ihrem Land hauptsächlich unter Militärethik? Womit befasst sie sich im Wesentlichen, und was ist ihre Hauptaufgabe?
Militärethik beschäftigt sich mit der Reflexion jener Entscheidungssituationen, die auf Berufssoldaten (und in Analogie Grundwehrdienstleistende und Zivilbedienstete) zukommen, wobei der Entscheidungshorizont von der Hierarchieebene abhängt. Die Hauptaufgabe der Militärethik sehe ich in der Darstellung der unterschiedlichen ethischen Systeme (Pflicht-, Tugend- und Nutzensethik), der Grundlagen des österreichischen Menschen- und Soldatenbildes anhand der einschlägigen verbindlichen Texte (Bundesverfassung, Allgemeine Dienstvorschrift, Menschenrechtserklärungen) und konkreter Beispiele für Entscheidungen und ihre Folgen (jüngste Vorfälle im Bundesheer gemäß Bericht der parlamentarischen Bundesheerkommission und der Disziplinarkommission, Pressemitteilungen, Vorfälle in Auslandsmissionen). Mit Blick auf die Tradition des Militär-Maria Theresien-Ritterordens liegt der Fokus im Zweifelsfall auf gelungenen Beispielen, mutigen richtigen Entscheidungen, die ohne Strafe auch hätten unterlassen werden können.
Gibt es in Ihrem Land eine öffentliche Debatte zu damit zusammenhängenden Fragen? Wenn ja, zu welchen?
Da das Militär im Zweifelsfall eher als Katastrophenhelfer im Inland und Assistenzeinrichtung etwa bei Botschaftsbewachung und Grenzraumüberwachung wahrgenommen wird, sind spezifisch militärethische Fragen kaum Thema öffentlicher Debatten. Im Sinn der verfassungsmäßigen Umfassenden Landesverteidigung ist allerdings die immer wieder aufkommende Diskussion über Österreichs immerwährend neutralen Status zumindest mit Militärethik verbunden. Auch die politischen Fragen, an welchen internationalen Einsätzen und in welcher Form Österreich teilnehmen soll, sind im weitesten Sinn militärethisch relevant.
Sehen Sie beim Verständnis von bzw. konkreten Fragen der Militärethik Gemeinsamkeiten in den EU-Mitgliedstaaten und anderen europäischen Ländern? Wenn ja, worin bestehen diese?
Die zentralen Gemeinsamkeiten liegen in den Grundsatzdokumenten. Für die europäischen Staaten gibt die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950 mit dem zugehörigen Gerichtshof in Straßburg das Fundament des europäischen Menschenbildes, das aus den Wurzeln der griechisch-römischen Antike sowie der jüdisch-christlich-islamischen Tradition erwächst, wieder. Diese Rechte und Freiheiten, die in Österreich auch in der Verfassung verankert sind, zeigen klar die Grenzen jeglichen militärischen Handelns auf (auch gegenüber tagespolitisch motivierten nutzensethischen Argumentationen).
Darüber hinaus verbindet die Charta der Grundrechte der Europäischen Union fast alle EU-Staaten miteinander und bindet die staatlichen Institutionen bei ihrem Handeln an diesen gemeinsamen Katalog von Rechten zurück.
Da auch alle europäischen Staaten Mitglied der Vereinten Nationen und viele weiterer internationaler Organisationen sind (etwa der IAEO oder der OSZE) bzw. entsprechende Konventionen mit militärischer Bedeutsamkeit unterzeichnet haben (Haager Landkriegsordnung, Haager Konvention zum Schutz von Kulturgütern bei bewaffneten Konflikten, Genfer Konvention inklusive Zusatzprotokollen, Kinderschutzkonvention et cetera), können auch diese Prinzipien als gemeinsam für eine europäische Militärethik gelten.
Hat der russische Angriff auf die Ukraine Ihrer Meinung nach eine deutliche Veränderung in dieser Hinsicht bewirkt?
Im Gegenteil. Aller medialen Propaganda zum Trotz ist gerade im Fall dieses Angriffs das Festhalten an den Errungenschaften des Humanitären Völkerrechts im Großen und der Militärethik im persönlichen Umfeld von zentraler Bedeutung. Denn nur weil ein Staat die internationale Ordnung verletzt, erhalten dadurch nicht alle anderen Staaten Freibriefe für eigene (geplante oder spontane) Rechtsbrüche. Allerdings hat dieser Krieg traurigerweise viele neue Beispiele dafür gebracht, wie unterschiedlich der Einsatz umstrittener Waffensysteme mit lang dauernden Folgewirkungen für Zivilbevölkerung (zum Beispiel Streumunition) vonseiten der Aggressoren wie der Defensoren medial beurteilt wird. Hier könnte eine scharfe Militärethik gerade auch mit Blick auf die Zukunft der Ukraine (und mit den Erfahrungen aus den bis heute tödlichen Resten der Kriege in Bosnien und Herzegowina sowie des Kosovo) die internationale Ächtung bestimmter Waffensysteme noch besser erklären und gegebenenfalls sogar ihre eigenen politischen Entscheidungsträger und Bevölkerungen auf die bestehenden Konventionen und ihren Sinn aufmerksam machen. Das Recht bewaffneter Konflikte soll ja genau während dieser Konflikte eingehalten werden, nicht in Friedenszeiten vor und nach dem Krieg bei akademischen Konferenzen oder politischen Tagungen. Militärethik könnte hier Begründungen liefern, warum entgegen allem tagespolitischen Utilitarismus das Einhalten internationaler Normen von (über-)lebenswichtiger Bedeutung ist.
In welchem Umfang und für wen sind Ethik und Militärethik Teil der militärischen Ausbildung? Durch wen wird unterrichtet?
Militärethik findet sich als Unterrichtsfach bei der Ausbildung von Berufsmilitärpersonen, nicht bei Grundwehrdienstleistenden und Zivilbediensteten (möglicherweise wäre das eine Zukunftsoption). Im Rahmen der Unteroffiziersausbildung an der Heeresunteroffiziersakademie deckt die Militärseelsorge die Ethikausbildung ab (16 Unterrichtseinheiten für Unteroffiziere, 10 für Stabsunteroffiziere). Für angehende Offiziere ist Militärethik Unterrichtsinhalt im Modul „Führung, Recht, Moral“, das durch verschiedene Hauptlehroffiziere und Gastlehrende an der Theresianischen Militärakademie gelehrt wird. An der Landesverteidigungsakademie gibt es einen eigenen Ethiklehrstuhl, der für die höchsten Bildungsgänge (zum Beispiel den Masterstudiengang – Generalstabslehrgang oder den Grundausbildungslehrgang für Spezialisten wie Ärzte, Psychologen oder andere Akademiker) zuständig ist.
Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Fragen bzw. dringlichsten Probleme der Gegenwart, mit denen sich die Militärethik auseinandersetzen sollte?
Aus meiner Perspektive gibt es für die Militärethik drei besonders spannende Herausforderungen in der Gegenwart, die ich mit den Schlagworten Singularisierung, Digitalisierung und Tribunalisierung zusammenfassen würde.
Die verschiedenen antipandemischen Maßnahmen der jüngsten Vergangenheit haben einen Prozess noch weiter gefördert, der in vielen europäischen Ländern schon lange wächst: eine Singularisierung des Subjekts. Die räumliche Abschottung hat nur eine viel früher begonnene soziale Abschottung sichtbar gemacht. Militär lebt aber wesentlich davon, aufeinander kameradschaftlich Rücksicht zu nehmen, die Stärken und Schwächen der einzelnen Gruppenmitglieder zu kennen und gezielt fähigkeitenorientiert zu fördern. Für jede Art von Ausbildung ist aber ein Zerfall der Gruppe in entsolidarisierte Individuen, die ihre Ziele – auch auf Kosten der Kameraden – allein erreichen und genießen wollen, gefährlich. Ein Fokus auf Verbindendem und darauf, dass militärische Ziele (fast) immer nur gemeinsam unter Integration verschiedener Talente und Fertigkeiten erreicht werden können, wäre hier ein Inhalt militärethischer Ausbildung.
Die Digitalisierung des Lebens und die Abgabe gewisser Entscheidungen an bequeme „Smart“-Lösungen ist alltägliche Realität und vereinfacht vor allem Standardprozeduren wie Personal- und Materialverwaltung massiv. Allerdings beginnen – nicht erst seit KI-Überlegungen – auch viele Menschen die mangelnde Kontrolle zu beklagen beziehungsweise den Kontrollverlust als persönliche Kränkung wahrzunehmen (Die „Maschine“ kann etwas besser als ich). Um nicht in einen neuzeitlichen Maschinensturm zurückzufallen, kann eine kluge Militärethik den Soldaten als Nutzer jedweder legaler Technologie herausheben und den Primat des Menschen und seiner militärischen Führungsentscheidung vor den Vorschlägen automatisierter „Gefechtsrechner“ begründen. Zugleich muss eine solche Militärethik auch bei der Entwicklung, dem Erwerb, der Implementierung und dem Gebrauch solcher Systeme dieselben Kriterien durchsetzen können, um glaubwürdig zu bleiben.
Der medial und in sozialen Netzwerken geförderte Trend, zu jeder Frage sofort eine endgültige Stellung zu beziehen und zugleich auch über alle zu urteilen, die diese Meinung nicht teilen, führt zunehmend zu verbalen, aber auch handgreiflichen Gewaltexzessen und Aktivismen bis hin zum Terror. Auch wenn das gegen den Zeitgeist arbeitet, kann Militärethik zu Vorsicht, Langsamkeit, genauer Prüfung der Daten, Fakten und Stellungnahmen und zu besonnenen Aussagen einladen. Sie kann auch die richterlicher Kompetenz nationaler und internationaler Instanzen (etwa des Internationalen Strafgerichtshofs) gegenüber vermeintlich öffentlichen Tribunalen und politischen Zeltfestaussagen verteidigen und damit dem einzelnen Soldaten Sicherheit verleihen. Zuletzt kann Militärethik auf die Erfolgsgeschichte der Menschenrechtsentwicklung auch gegenüber noch so totalitären Systemen welcher Sorte auch immer verweisen, die von TerroristInnen jeder Art mit Verweis auf Zeitknappheit und „finale“, endzeitliche Entscheidungssituationen als belanglos vom Tisch gewischt werden.
Im besten Fall stärkt Militärethik den Menschen, der seine Berufung als Soldat für seinen Heimatstaat und die gesamte Menschheitsfamilie sowie die Natur verantwortungsvoll ausübt, nicht weil er dazu gezwungen wird, sondern weil er das als richtig Erkannte mit Freude will.
Stefan Gugerel
Stefan Gugerel, Militärdekan, Heeresunteroffiziersakademie und Theresianische Militärakademie, Enns-Wiener Neustadt