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VEREINIGTE STAATEN

Für das Special dieser Ausgabe hat die Redaktion von „Ethik und Militär“ Expertinnen und Experten aus verschiedenen Staaten einen sechs Punkte umfassenden Fragenkatalog zum Thema Militärethik und Ethikunterricht in ihren jeweiligen Streitkräften vorgelegt. Diese Seiten erheben keinen Anspruch auf Repräsentativität, sondern sollen weiteres Anschauungsmaterial für die Frage nach einem ge­­meinsamen europäischen Ansatz auf diesem Gebiet liefern. 

Was verstehen Sie bzw. was versteht man in Ihrem Land hauptsächlich unter Militärethik? Womit befasst sie sich im Wesentlichen, und was ist ihre Hauptaufgabe?

Die Antworten auf die erste Frage fallen recht unterschiedlich aus. Mein persönliches Verständnis fußt auf der philosophisch tradierten Theorie des gerechten Krieges. Mein Land, die USA, verfolgt allerdings einen eher legalistischen Ansatz: Solange die Soldaten die Einsatzvorschriften befolgen – die niemals über das humanitäre Völkerrecht hinausgehen können, welches ja ebenfalls auf der Theorie des gerechten Krieges aufbaut – sind sie auf der sicheren Seite. Ich halte jedoch einen Ansatz für sinnvoller, der ein tieferes Verständnis verfolgt und auf einer breiteren Grundlage fußt.

Gibt es in Ihrem Land eine öffentliche Debatte zu damit zusammenhängenden Fragen? Wenn ja, zu welchen?

Da wir uns nicht mehr im Krieg befinden, hat das öffentliche Interesse an solchen Fragen leider nachgelassen. Im Moment dreht sich die Debatte darum, wie viel und welche Form von Hilfe die USA der Ukraine und jetzt auch Israel zukommen lassen sollten. Es hat ja eine umfangreiche Debatte über den Einsatz von Folter und den Umgang mit Gefangenen im Allgemeinen gegeben. Leider hat die letzte Regierung in dieser Hinsicht einige echte Dummheiten gesagt und getan.

Sehen Sie beim Verständnis von bzw. konkreten Fragen der Militärethik Gemeinsamkeiten in den EU-Mitgliedstaaten und anderen europäischen Ländern? Wenn ja, worin bestehen diese?

Ich weiß nicht genau, ob ich die Frage richtig verstehe bzw. ob ich überhaupt in der Lage bin, sie zu beantworten. Soweit ich es beurteilen kann, wird die Militärethik und ihre Vermittlung in den USA (zumindest an den Militärakademien und in der militärischen Ausbildung für höhere Dienstgrade) ähnlich gehandhabt wie bei vielen unserer europäischen Verbündeten.

Hat der russische Angriff auf die Ukraine Ihrer Meinung nach eine deutliche Veränderung in dieser Hinsicht bewirkt?

Auch hier bin ich mir nicht sicher, ob ich die Frage richtig verstehe. Allerdings würde ich sagen – und das finde ich in gewisser Hinsicht nahezu erheiternd – dass der russische Einmarsch in die Ukraine einige meiner Kolleginnen und Kollegen dazu gebracht hat, ihr Bekenntnis zur moralischen Gleichheit von Kombattanten zu überdenken. Der allgemeine Tenor lautet, dass alle an der Invasion Beteiligten hätten wissen müssen, dass ihre Handlungen zutiefst falsch waren.

In welchem Umfang und für wen sind Ethik und Militärethik Teil der militärischen Ausbildung? Durch wen wird unterrichtet?

Auf diese Frage gibt es nicht nur eine Antwort: Mannschaftsränge und Offiziere werden unterschiedlich unterrichtet. Und auch innerhalb der Offiziersränge ist die Ausbildung verschieden, abhängig davon, ob sie die Militärakademien besuchen oder anderweitig rekrutiert werden. Für die verschiedenen Militärakademien (West Point, US Naval Academy, US Air Force Academy) gilt jedoch, dass es mindestens einen Kurs mit Schwerpunkt auf Militärethik und der Theorie des gerechten Krieges gibt, und ich meine, dass das Thema auch an den verschiedenen War Colleges [höhere Bildungseinrichtungen für Offiziere, d. Red.] regelmäßig Teil des Curriculums ist. An den Militärakademien werden die Kurse teils von Offizieren und teils von Zivilisten geleitet, von denen die meisten (mit Ausnahme der Marineakademie) einen höheren Universitätsabschluss in Philosophie haben. Ansonsten sind die Dozenten oft Militärseelsorger.

Was sind Ihrer Meinung nach die die wichtigsten Fragen bzw. dringlichsten Probleme der Gegenwart, mit denen sich die Militärethik auseinandersetzen sollte?

Auch wenn die Aufmerksamkeit und die Debatte sich aktuell zum großen Teil auf die Ukraine und Israel richten, bin ich der Ansicht, dass diese Konflikte aus moralischer Sicht ziemlich eindeutig sind. Ich denke allerdings, dass wir weiterhin erforschen müssen, wie neue Technologien – und damit meine ich natürlich KI und autonome Waffensysteme (Lethal Autonomous Weapons Systems oder LAWs), aber auch die Nutzung von Daten auf dem Schlachtfeld – sich auf moralische Überlegungen auswirken werden.

Richard Schoonhoven

Dr. Richard Schoonhoven, Associate Professor, Fachbereich für Englisch and Philosophie, United States Military Academy West Point


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Alle Artikel dieser Ausgabe

Militärethik und militärische Ethikausbildung: Auf der Suche nach einem „europäischen Ansatz“
Lonneke Peperkamp, Kevin van Loon, Deane-Peter Baker, David Evered
Gerechter Frieden trotz Krieg? Zur Verteidigung eines in die Kritik geratenen Konzepts
Markus Thurau
Die russische Invasion der Ukraine: Keine Spur von konventioneller Extremgewalt
Arseniy Kumankov
Ethische Bildung in den Streitkräften – Überbrückung oder Vertiefung der Kluft?
Dragan Stanar
Die Rücktransformation soldatischer Identitäten
Patrick Hofstetter
Krieger sind in der Armee fehl am Platz
Christopher Ankersen
„Versuchen Sie, den Unterricht emotionaler zu gestalten“
Deanna Messervey

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