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„Versuchen Sie, den Unterricht emotionaler zu gestalten“

Die „Verhaltensethik“ (behavioral ethics), ein eher deskriptives als präskriptives Forschungsgebiet, geht der Frage nach, wann und warum Menschen nicht in Übereinstimmung mit bekannten Normen oder sogar mit ihren eigenen moralischen Überzeugungen handeln. Wie können Militärs Forschungsergebnisse über unethisches Verhalten nutzen und in den Ethikunterricht einfließen lassen? In diesem Interview mit „Ethik und Militär“ beantwortet die Forscherin Dr. Deanna Messervey vom kanadischen Verteidigungsministerium Fragen zu schnellem und langsamem Denken, zu ethischen Risikofaktoren und zu Möglichkeiten, Moralverstöße in und außerhalb von Einsätzen zu vermeiden.

Frau Dr. Messervey, Sie sind Sozialpsychologin und arbeiten auf dem Gebiet der Militärethik. Wie sind Sie zu Ihrer Forschungstätigkeit gekommen?

Ich bin Forscherin für Verteidigungsfragen in der Generaldirektion für militärisches Personal, Forschung und Analyse (Director General Military Personnel Research and Analysis, DGMPRA) innerhalb des Kommandos für militärisches Personal (Commander Military Personnel Command, CMPC). DGMPRA führt Forschungsarbeiten zur Unterstützung der kanadischen Streitkräfte und des Verteidigungsministeriums durch, unter anderem zu Themen wie Führung, sexuelles Fehlverhalten, Personalbindung, Wohlbefinden, Integration und Kultur. Zu Beginn meiner Laufbahn wurde ich mit der Bewertung der ethischen Kultur und anderer ethikbezogener Ergebnisse unter Verwendung der Defence Ethics Survey beauftragt. Außerdem sollte ich untersuchen, warum es in der Erhebung Human Dimension of Operations (HDO) Unterschiede zwischen Ranggruppen bei ethischen Einstellungen und Absichten gab. Diese Arbeit führte zur Entwicklung des Defence Ethics Personnel Research Program.

Und was haben Sie zum Thema Ethik in der HDO-Erhebung herausgefunden?

Ursprünglich wurde die Umfrage bei kanadischen Militärangehörigen im Einsatz durchgeführt, um die Kampfbereitschaft und das Klima in der Einheit zu bewerten. Als die kanadischen Truppen nach Afghanistan gingen, wurde sie um einige ethische Fragen ergänzt, die sich mit früheren MHAT-Erhebungen[1] aus den USA überschnitten, etwa die Anzeige eines Gruppenmitglieds wegen Misshandlung von Nichtkombattanten oder unnötiger Beschädigung von Privateigentum. Im Gegensatz zu den MHAT-Umfragen wurde in der HDO-Erhebung nach der Bereitschaft zum Eingreifen gefragt. Eine zentrale Frage war, warum Mitglieder der kanadischen Streitkräfte eher bereit waren einzugreifen, als unethisches Verhalten zu melden, und warum dieser Unterschied bei den niedrigeren Mannschafts- und Unteroffiziersdienstgraden am größten war. Die Forschungsfrage erforderte einen multidisziplinären Ansatz; dieser umfasst das Verständnis der militärischen Kultur in Einheiten, in denen es bei Auslandseinsätzen zu ethischem Fehlverhalten gekommen ist, sowie das Verständnis der Entscheidungsfindung im Allgemeinen, insbesondere der moralischen Entscheidungsfindung und der Triebkräfte für (un-)ethisches Verhalten.

Sprechen wir über ein äußerst schockierendes Beispiel. Der sogenannte „Brereton Report“ besagt, dass Angehörige des australischen Special Air Service Regiments zwischen 2009 und 2012 mindestens 39 Nichtkombattanten oder Kriegsgefangene brutal töteten. In diesem und anderen Fällen waren die Gesetze und Verhaltensnormen absolut klar und wurden dennoch verletzt. Wie kann so etwas passieren?

Regelkenntnis ist definitiv nicht der einzige verhaltensbestimmende Faktor. Einer der wichtigsten Punkte, die mir einfallen, ist die ethische Kultur. Diese wird in der Forschung oft unter dem Aspekt diskutiert, ob eine Organisation Bedingungen schafft, die ethisches oder unethisches Verhalten fördern. Viele der Bedingungen, die eine unethische Kultur begünstigen, spielten in diesem und anderen aufsehenerregenden Fällen eine Rolle. Zum Beispiel: Fördert die Führung ethisches Verhalten oder nicht? Der Bericht zeigt deutlich, dass die Führung problematisch war. Ein weiterer Punkt ist Geheimhaltung, der Mangel an Aufsicht und Rechenschaftspflicht, der ebenfalls ein problematisches Umfeld schafft. Wenn etwa ein Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht ohne Konsequenzen bleibt, wird solches Verhalten verstärkt. Oft gibt es in derlei Fällen auch eine Person, deren Werte nicht unbedingt mit denen der Organisation übereinstimmen, die aber einen großen Einfluss auf andere haben kann.

Nach einer Definition von David Todd und Paolo Tripodi ist die Verhaltensethik die Erforschung und das Verständnis der Umstände, unter denen wir unseren eigenen ethischen Werten zuwiderhandeln“[2]. Könnten Sie dies näher erläutern?

Es ist wichtig festzuhalten, dass unser Verhalten oft mit unseren Werten übereinstimmt. Manchmal ist dies jedoch nicht der Fall, und wir müssen verstehen, warum. Werte sind dauerhafte Ziele, sie dienen Menschen. Sie sind allerdings sehr abstrakt und haben oft keinen Kontext. Verhalten ist viel konkreter. Hypothetische moralische Dilemmata, bei denen es darum geht, was man tun sollte, berücksichtigen nicht, wie man sich fühlt und wie unangenehm es sein kann, wenn man sich in einer realen Situation befindet. Wenn Sie hypothetisch denken, hat Ihr Verhalten auch keine unmittelbare Konsequenz; und je weiter etwas in der Zukunft liegt, desto mehr werden Sie im Einklang mit ihren Werten darüber nachdenken. Aus neurowissenschaftlicher Sicht wird bei hypothetischen moralischen Dilemmata das mit der Vorstellungskraft verbundene neuronale Netz genutzt, während reale moralische Dilemmata mit sozialen Bewertungen und gefühlsrelevanten Informationen verbunden sind. Es gibt also echte Unterschiede zwischen der Verarbeitung von realen und hypothetischen Ereignissen. Insgesamt hat die Situation einen tiefgreifenden Einfluss auf unsere Handlungen, und dieser Einfluss kann von Person zu Person variieren. Und in einem militärischen Umfeld können auch organisatorische Faktoren einen großen Einfluss haben.

Können Sie uns einige dieser „Risikofaktoren“ nennen und wie sie unser ethisches Denken und Verhalten beeinflussen?

Zuallererst ist es wichtig zu wissen, dass ein und dieselbe Situation oder ein und derselbe Faktor ethisches Verhalten verstärken oder vermindern kann. Zum Beispiel Zeitdruck. Wenn Sie darüber nachdenken müssen, was Sie tun sollen, wird Zeitdruck wahrscheinlich hinderlich sein. Wenn Sie aber bereits geübt sind, automatisch und ohne Selbstkontrolle das Richtige zu tun, dann führt Zeitdruck nicht unbedingt zu unethischem Handeln. Übung ist also wichtig, Automatismen sind wichtig.

Zunächst einmal gibt es mehrere wichtige individuelle Faktoren; einer davon ist die moralische Identität. Moralische Identität bedeutet, dass das Richtige zu tun ein wichtiger Teil des Selbstverständnisses im Vergleich zu anderen Eigenschaften ist. Ein weiterer Faktor ist Selbstkontrolle. Wie andere Eigenschaften kann sie von Person zu Person variieren, aber auch von Situationen beeinflusst werden. So können Menschen morgens mehr Selbstkontrolle haben, aber durch die Hektik des Tages nimmt sie nachmittags oft ab – und das unter idealen Umständen, wenn sie also nicht mit großen Stressfaktoren wie Kampfhandlungen oder typischen Einsatzsituationen konfrontiert sind. Wenn dies bereits auf einem sehr niedrigen Niveau außerhalb eines militärischen Szenarios geschieht, können Sie sich vorstellen, was unter extremen Bedingungen passiert.

Das heißt, es hängt nicht nur von den individuellen Eigenschaften oder Fähigkeiten eines Menschen ab, sondern auch von der Situation, die er oder sie zu bewältigen hat?

Das ist richtig. Ein wichtiger situativer Risikofaktor für unethisches Verhalten im militärischen Kontext ist zu erleben, dass jemand im Einsatz getötet wird. Er hat in vielen öffentlichkeitswirksamen Vorfällen eine Rolle gespielt. Führungskräfte und Organisationen müssen dies wissen, um den Menschen beizubringen, wie sie sich in solchen Situationen verhalten sollen.

Worüber weniger gesprochen wird, ist die Tatsache, dass die Begegnung mit einer anderen Kultur, in der andere Regeln für moralisch akzeptables Verhalten gelten, ein Risikofaktor für unethisches Verhalten sein kann . Wenn beispielsweise die Besatzung eines Marineschiffs an einen Ort kommt, wo sie niemand kennt, wo also Anonymität herrscht und andere moralische Standards gelten, können derartige Bedingungen die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass schlechtes Verhalten gerechtfertigt wird: „Hier ist es in Ordnung, warum soll ich es nicht auch tun?“

Und wie sieht es mit dem Einfluss der Organisation als Ganzes aus?

Aus organisatorischer Sicht ist die ethische Kultur wichtig. Und in militärischen Organisationen spielt Autorität eine große Rolle; diejenigen, die Autoritätspositionen innehaben, haben einen enormen Einfluss auf das Verhalten. In einer Studie haben wir die Probanden aufgefordert, an einer Umfrage teilzunehmen. Nachdem wir auf verschiedene Art und Weise an die Teilnahme erinnert hatten, haben wir jeweils die Teilnahmequoten erfasst. Die größte Auswirkung auf die Teilnahmequote konnten wir beobachten, wenn Personen in einer Führungsposition dazu aufforderten.

Wenn Sie eine Führungsposition innehaben, sehen Sie diejenigen, die Ihnen unterstellt sind, vielleicht auf eine abstraktere Weise. Aber diese wiederum beobachten Sie ganz genau! Sehr subtile Dinge in Ihrem Verhalten werden ganz anders wahrgenommen, als wenn Sie nicht führen würden. Wenn man Organisationen schaffen will, in denen die Menschen ethisch handeln, ist das Vorleben ethischen Verhaltens daher von entscheidender Bedeutung. Es ist neben dem Einfluss der anderen Mitglieder Ihrer Einheit wahrscheinlich einer der wichtigsten Faktoren.

Sind all diese Faktoren, die Sie gerade erläutert haben, miteinander verknüpft?

Ja, das kann häufig der Fall sein. Stellen Sie sich einen Soldaten im Einsatz vor, der miterlebt hat, wie jemand im Einsatz getötet wurde, und diese Person hat eine geringe Selbstkontrolle. Und was ist, wenn die Führungskräfte in dieser Situation keine starke Führung gezeigt haben? Das würde das Risiko für unethisches Verhalten weiter erhöhen.

Nach alldem scheint klar, dass unethisches Verhalten nicht nur eine Frage „schlechten Charakters“ ist?

Bestimmte Personen können ein Problem darstellen, aber bei Fällen größeren ethischen Versagens im Militär sind oft andere Faktoren im Spiel. Ein Risikofaktor ist zum Beispiel eine Kultur, in der der Schutz der Gruppe im Vordergrund steht. Natürlich gibt es viele positive Aspekte, wie die Bereitschaft, das eigene Leben zu riskieren, um andere zu schützen, die Unterstützung einer Mission und die gute Zusammenarbeit mit anderen. Aber der Schutz der eigenen Gruppe kann zu Loyalitätskonflikten führen. Donna Winslow[3] hat herausgefunden, wie konkurrierende Loyalitäten – eine Loyalität gegenüber der Gesellschaft oder der Organisation als Ganzes, aber auch eine manchmal ausgeprägtere Loyalität gegenüber dem unmittelbaren Team – eine entscheidende Rolle spielten, als Mitglieder des inzwischen aufgelösten kanadischen Luftlanderegiments einen Nichtkombattanten folterten und töteten. Wenn die beschreibenden Normen innerhalb eines Teams nicht mit den Erwartungen der Organisation übereinstimmen, kann das sehr problematisch sein. Manchmal führt es dazu, dass Übertretungen nicht gemeldet werden. Und wenn es jemand tut, wird er oft zur Zielscheibe, weil er gegen den Moralkodex der Gruppe verstoßen hat. Personen zu schützen, die sich eindeutig unethisch verhalten und insbesondere das Recht in bewaffneten Konflikten verletzen, ist jedoch in vielerlei Hinsicht problematisch. Neben den direkt Betroffenen können auch diejenigen, die Zeuge des Geschehens sind, und die Täter selbst verletzt und geschädigt werden.

In Anbetracht all dieser Faktoren, die unser Verhalten beeinflussen: Kann man mit Recht behaupten, dass sich die Menschen hinsichtlich ihrer moralischen Qualitäten ständig etwas vormachen?

Mithilfe der Verhaltensethik und der Sozialpsychologie können wir sagen, wie sich Gruppen von Menschen verhalten werden und dass sie ihren Erwartungen möglicherweise nicht gerecht werden. Aber es gibt auch viele Beispiele von Güte, die man nicht vorhersagen kann, etwa wenn jemand auf die U-Bahn-Gleise fällt und eine fremde Person ihr Leben riskiert, um ihn zu retten. Meiner Meinung nach brauchen es mehr Forschung, um zu verstehen, wie wir eine Gesellschaft fördern können, die diese Art von Güte in den Menschen begünstigt.

Es scheint auch möglich zu sein, jemandes moralische Identität zu „aktivieren“. Was ist damit gemeint?

Menschen fühlen sich sehr gut, wenn sie nach ihren moralischen Normen handeln, und sie fühlen sich schlecht, wenn sie es nicht tun. Aber selbst jemand mit einer starken moralischen Identität kann daran scheitern, seinen verinnerlichten Normen gerecht zu werden. Wir sind sehr geschickt darin, uns von unseren moralischen Ansprüchen zu lösen. Wenn man nicht über seine Werte nachdenkt, ist es sehr leicht, sich konträr zu verhalten und sich trotzdem gut dabei zu fühlen. Wenn Sie aber daran erinnert werden, wer Sie sein wollen – oder wie man bei uns sagt, „die Person, für die Ihre Kinder (oder Ihr Hund) Sie halten“ –, werden Sie eher im Einklang mit Ihren langfristigen Werten handeln. Ebenso können religiöse Ermahnungen ethisches Verhalten fördern, möglicherweise weil sie Ihre moralische Identität aktivieren.

Wenn man nicht über seine Werte nachdenkt, ist es sehr leicht, sich konträr zu verhalten und sich trotzdem gut dabei zu fühlen

Aber wie kann das beim Militär gelingen?

Es gibt eine ganze Reihe von Untersuchungen über all die psychologischen Manöver, die die Menschen nutzen. Das Buch Crimes of Obedience[4] von Herbert Kelman und V. Lee Hamilton – das sehr lesenswert ist – belegt mit am besten, welchen enormen Einfluss die militärische Organisation auf das Verhalten ihrer Angehörigen haben kann. Im ersten Kapitel greifen sie auf das Beispiel von My Lai und die damit zusammenhängenden psychologischen Prozesse zurück. So wurde beispielsweise festgestellt, dass Militärangehörige, die von ihren Vorgesetzten unethische Befehle erhielten, eher bereit waren, unethisch zu handeln. Kelman und Hamilton sprechen von „Autorisierung“, um zu beschreiben, dass Menschen sich nicht für ihre Handlungen verantwortlich fühlen, wenn sie Befehle (sogar unethische) ausführen, weil sie nicht das Gefühl haben, dass sie überhaupt eine Entscheidung treffen. Es gibt weitere Begriffe wie Routinisierung, wenn Dinge so automatisch ablaufen, dass wir moralische Überlegungen ausblenden. Dehumanisierung, also wenn der Gegner als weniger menschlich beschrieben oder dargestellt wird, insbesondere der Vergleich mit Tieren, ist ebenfalls äußerst problematisch. Es gibt auch viele Untersuchungen, die zeigen, wie sich Anonymität negativ auf unser Verhalten auswirkt. Tarnschminke im Gesicht zum Beispiel erhöht das Risiko, dass man brutaler handelt.

Daher ist es sehr wirkungsvoll, Menschen das Gefühl zu geben, dass sie erkannt werden. Nicht nur militärische Führer, sondern auch Kameradinnen und Kameraden können dies tun. Wenn sie glauben, dass jemand in ihrer Einheit im Begriff ist, etwas Unmoralisches zu tun, können sie die Person beim Namen nennen – oder direkt vor dem Gegner zumindest beim Spitznamen –, sodass die Betreffenden daran erinnert werden, wer sie sind.

Wie kann nun all dieses Wissen in einen „realistischeren“, umfassenden Ethikunterricht integriert werden?

Zunächst einmal ist es absolut wichtig, klare und verständliche Regeln zu haben. Aber wie wir gesehen haben, genügt das allein nicht. Obwohl es wichtig ist, die Regeln im Voraus zu vermitteln, reicht es nicht aus, um das Verhalten zu beeinflussen. In einer stressigen Umgebung, in der die Versuchung zu unethischem Handeln groß ist, sind sie vielleicht nicht zwangsläufig präsent, daher ist es wichtig, dass die Trainingsbedingungen sehr realitätsnah sind.

In puncto Ethik ist die Ausbildung durch militärische Führungskräfte eine Möglichkeit. Dabei können diese wirklich Einsatz zeigen, solche Bedingungen schaffen und die Angehörigen ihrer Einheit ermutigen, andere daran zu erinnern, im Einklang mit den Erwartungen und Vorgaben ihrer Organisation zu handeln.

Auch über spezifische Gefechtsszenarien zu sprechen hat sich als wirksames Mittel erwiesen. Im Anschluss an die MHAT-IV-Erhebung wurde eine Interventionsstudie durchgeführt, die darauf abzielte, ethische Einstellungen und Verhaltensweisen zu verbessern.[5] Neben der Ausbildung durch das Führungspersonal wurden auch Videosequenzen oder Filmszenen mit professionellen Schauspielern eingesetzt. Ein sehr wirkungsvolles Mittel, um den Soldaten bestimmte Situationen, wie etwa Kriegsverbrechen, vor Augen zu führen und sie dann darüber diskutieren zu lassen. Wenn nicht nur die Vorgesetzten darüber sprechen, sondern auch die Kameraden, mit denen man in den Einsatz geht, erhalten sie wertvolle Informationen darüber, was diese für richtig halten.

Ideal für die Ethikausbildung, insbesondere von Gruppen oder Einheiten, die in Hochrisikoeinsätze gehen, wären Einschübe in die Ausbildung, bei denen die Teilnehmer mit dieser Art von schwierigen Situationen konfrontiert werden können. Einfach unerwartet ein Szenario einbauen, das zu echter Verwirrung führt, denn ein solcher Schock und die Überraschung können eine lähmende Wirkung haben. Bei der anschließenden Nachbesprechung können die Gruppen diskutieren, wie sie in Zukunft besser mit einer ähnlichen Situation umgehen könnten. Es ist sehr wertvoll, dies an der Basis zu lehren und in einem Bottom-up-Ansatz praktikable Strategien zu entwickeln.

Und wenn solche realistischen Einschübe oder Interventionen nicht möglich sind?

Es gibt vieles, was man auch in einem Hörsaal tun kann. In einer Gruppe kann man fragen, was sie tatsächlich tun würden. Es macht wirklich einen Unterschied, es so zu formulieren. Wenn Sie fragen: „Was sollten Sie tun?“, bekommen Sie wahrscheinlich die Antwort aus dem Lehrbuch. Wenn man Menschen aber fragt, was sie tatsächlich tun würden, müssen sie über ihre Worte nachdenken und fühlen sich vielleicht unbehaglicher; das hilft ihnen, besser auf realistische Situationen vorbereitet zu sein.

Stellen Sie sich vor, eine ranghohe Führungspersönlichkeit oder jemand, der einen höheren Rang hat als Sie, würde etwas moralisch Fragwürdiges tun. Gehorsam und Unterstützung von Führern wird nicht nur als berufliche Anforderung betrachtet, sondern gilt für manche Menschen auch als moralische Verpflichtung. Es ist also wichtig, sich im Vorfeld einer realen Situation zu überlegen, wie man ethische Fragen angehen kann; es ist nämlich sehr schwierig, eine angemessene Reaktion zu finden, wenn man sich gestresst fühlt, insbesondere für jemanden, der eine Führungsperson infrage stellt. Ich denke, dass in dieser Hinsicht mehr getan werden muss.

Es ist sehr schwierig, eine angemessene Reaktion zu finden, wenn man sich gestresst fühlt, insbesondere für jemanden, der eine Führungsperson infrage stellt

Zusammengenommen, insbesondere in einem militärischen Umfeld: Machen Sie die Dinge so konkret wie möglich. Versuchen Sie, den Unterricht emotionaler zu gestalten, indem Sie die Teilnehmenden zu Wort kommen lassen oder mit Rollenspielen arbeiten.

Sie haben bereits auf das bekannte „schnelle“ und „langsame Denken“ angespielt. Könnten Sie erklären, wie diese beiden Arten des Denkens funktionieren und in welchem Zusammenhang sie mit moralischen Entscheidungen stehen?

Dies bezieht sich auf verschiedene Arten des Denkens. Keith Stanovich und Ryan West[6] verwendeten zuerst den Begriff System 1, um intuitives Denken zu bezeichnen, das schnell und mühelos ist, oft unbewusst abläuft und keine kontrollierte Aufmerksamkeit erfordert, und den Begriff System 2, um das Denken zu bezeichnen, das generell langsam und anstrengend ist und viel Konzentration und kontrollierte Aufmerksamkeit erfordert, weil es mit unserem zentralen Arbeitsgedächtnis verbunden ist. Daniel Kahneman hat die Begriffe System 1 und System 2 in seinem Buch Schnelles Denken, langsames Denken[7] bekannt gemacht. In einem späteren Artikel hat Stanovich[8] übrigens empfohlen, statt System 1 und 2 die Begriffe Verarbeitungstyp 1 und 2 zu verwenden.

Unabhängig davon, welchen Begriff man zur Beschreibung des bewussten Überlegens verwendet: Unter Stress leidet unsere Fähigkeit dazu stark. Das bedeutet, dass die Vermittlung von Ethik allein durch bewusstes Überlegen und Reflexion möglicherweise nicht ausreicht, um auch unter Stressbedingungen ethische Entscheidungen zu treffen. Daher empfehle ich, den Ethikunterricht durch Strategien zu ergänzen, die im Typ-1-Denken verwurzelt sind.[9]

Und wie könnten diese Strategien aussehen?

Wenn-dann-Regeln, zum Beispiel. „Wenn Situation x eintritt, tue y“, also wenn du siehst, dass jemand im Einsatz getötet wird, atme tief ein, denn wenn man länger ausatmet als einatmet, wird das parasympathische Nervensystem aktiviert; oder vielleicht etwas Aktiveres wie progressive Muskelentspannung: „Wenn du siehst, wie jemand im Einsatz getötet wird, drücke 15 oder 20 Sekunden lang deine rechte Hand und entspanne dich dann, tue anschließend dasselbe mit deiner linken ...“ Das kann den Stresspegel senken und helfen, klarer zu denken.

Aber ist Typ-2-Denken nicht wertvoller oder wünschenswerter als Typ 1? Oder ist das ein Missverständnis?

Beide, Typ 1 und Typ 2, können zu ethischem oder unethischem Verhalten führen. Aber bei hohem Stress, vor allem wenn wir Ekel oder Müdigkeit verspüren, wenn wir hungrig, wütend oder beides sind, kann es passieren, dass wir in der Hitze des Augenblicks nicht in Übereinstimmung mit unseren langfristigen Werten handeln. Meistens handeln die Menschen jedoch auch ohne Typ-2-Denken ethisch. Wenn Sie Auto fahren und Ihnen jemand den Weg abschneidet, möchten Sie vielleicht kurz wütend reagieren ... Aber in der Regel überwinden Sie Ihre Impulse und kümmern sich nicht weiter drum.

Aber manchmal kann es auch wichtig sein, etwas genauer zu verstehen und Denken vom Typ 2 zu nutzen?

Auf jeden Fall, er spielt eine wichtige Rolle. Es ist wirklich wichtig, darüber nachzudenken, was das in einer Situation das Richtige ist. Und auch die Überlegung, wie man die Bedingungen schaffen kann, unter denen man eher im Einklang mit seinen Werten handelt, kann Typ-2-Denken erfordern.

Können all diese Erkenntnisse auch für Situationen abseits des Gefechtsfelds oder militärischer Einsätze von Nutzen sein?

Ja, natürlich. Ein wichtiger Punkt ist, dass man auf einem Kriegsschauplatz keine völlig neue Art der Entscheidungsfindung entwickelt, sondern dass sich eher die Schwere oder Intensität der Situation ändert. Viele Forschungsergebnisse, die der Militär- oder Verhaltensethik in Bezug auf militärische Situationen zugrunde liegen, stammen aus einem nicht militärischen Forschungskontext und basieren auf der Entscheidungsforschung und den Einflussfaktoren im Allgemeinen. Die Wissenschaft lehrt uns, dass selbst kleine Stressfaktoren wie Zeitdruck uns dazu bringen können, auf eine Weise zu handeln, die wir nicht erwarten würden. Denken Sie an die berühmte Studie über den barmherzigen Samariter[10] aus dem Jahr 1973, die zeigte, dass Menschen, die es eilig hatten, seltener halfen; das bedeutet nicht, dass sie es nicht für wichtig hielten, das Richtige zu tun, aber es zeigt uns, dass häufige Stressfaktoren wie eben Zeitdruck die Wahrscheinlichkeit erhöhen können, dass Menschen nicht so handeln, wie es ihren Werten entspricht. Ein anderes bekanntes Beispiel ist Schlafmangel; auch er kann die Entscheidungsfindung beeinträchtigen. Menschen sind weniger hilfsbereit, wenn sie müde sind, und sie denken unter bestimmten Bedingungen weniger kooperativ. Unsere Fähigkeit, überlegte Entscheidungen zu treffen, kann sogar davon beeinflusst werden, ob es gleich Mittagessen oder eine Kaffeepause gibt.

Wenn Sie an all dieses Wissen und die Forschungsergebnisse denken und die Kriege in der Ukraine oder im Nahen Osten betrachten, wie denken Sie dann darüber? Was fällt Ihnen am meisten auf, was würden Sie raten?

Die Menschen empfinden vielleicht gerade Wut und Abscheu, weil einige ihrer heiligsten Werte verletzt worden sind. Leider können Wut und Abscheu die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass man in einer Weise handelt, die mit den eigenen langfristigen Werten unvereinbar ist. Dadurch sind sie möglicherweise eher bereit, sich moralisch zu distanzieren, sodass sie nicht glauben, ihren Gegner in dieser Situation nach moralischen Standards behandeln zu müssen. Eine starke Führung kann zur Verringerung des ethischen Risikos beitragen. Eine Führung, die davon abhält, Gegner mit Tieren zu vergleichen; die eine Gruppenidentität fördert, die mit dem humanitären Völkerrecht im Einklang steht, und die Menschen dazu ermutigt, aus einer langfristigen Perspektive zu denken und die Sichtweisen anderer zu berücksichtigen. Aber es gibt keine einfache Lösung.

Frau Dr. Messervey, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Die Fragen stellte Rüdiger Frank.

 


[1] Mental Health Advisory Team (MHAT-IV). Operation Iraqi Freedom 05-07 (Nov 17, 2006). http://www.armymedicine.army.mil/reports/mhat/mhat_iv/mhat-iv.cfm; Mental Health Advisory Team (MHAT-V). Operation Iraqi Freedom 06-08 (Feb 14, 2008). www.armymedicine.army.mil/reports/mhat/mhat_v/mhat-v.cfm.

[2] Todd, D., and Tripodi, P. (2018): Behavioral Ethics: The Missing Piece of an Integrative Approach

to Military Ethics. In: MCU Journal, 9(1), S. 155−170, S. 157. (Übersetzung aus dem Englischen.)

[3] Winslow, D. (1998): Misplaced loyalties: The role of military culture in the breakdown of discipline in peace operations. In: Canadian Review of Sociology/Revue canadienne de sociologie,35(3), S. 345−367.

[4] Kelman, H. C., and Hamilton, V. L. (1989): Crimes of obedience: Toward a social psychology of authority and responsibility. New Haven, CT.

[5] Warner, C. H., et al. (2011): Effectiveness of battlefield-ethics training during combat deployment: A programme assessment. In: The Lancet, 378, S. 915–924.

[6] Stanovich, K. E., and West, R. F. (2000): Advancing the rationality debate. In: Behavioral and Brain Sciences, 23(5), S. 701–717.

[7] Kahneman, Daniel (2012): Schnelles Denken, langsames Denken. München.

[8] Evans, J. S. B., and Stanovich, K. E. (2013): Dual-process theories of higher cognition: Advancing the debate. In: Perspectives on Psychological Science, 8(3), S. 223–241.

[9] Messervey, D. L., et al.: Making moral decisions under stress: A revised model for defence. In: Canadian Military Journal, 21(2), S. 38–47; Messervey, D. L., et al. (2023): Training for heat-of-the-moment thinking: Ethics training to prepare for operations. In: Armed Forces & Society, 49(3), S. 593–611.

[10] Darley, J. M., and Batson, C. D. (1973): “From Jerusalem to Jericho”: A study of situational and dispositional variables in helping behavior. In: Journal of Personality and Social Psychology, 27(1), S. 100–108.

Deanna Messervey

Dr. Deanna Messervey hat an der kanadischen Queen’s University in Sozialpsychologie promoviert. Sie arbeitet als Wissenschaftlerin in der Generaldirektion für militärisches Personal, Forschung und Analyse (Director General Military Personnel Research and Analysis, DGMPRA) und leitet dort das Defence Ethics Personnel Research Program.


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Alle Artikel dieser Ausgabe

Militärethik und militärische Ethikausbildung: Auf der Suche nach einem „europäischen Ansatz“
Lonneke Peperkamp, Kevin van Loon, Deane-Peter Baker, David Evered
Gerechter Frieden trotz Krieg? Zur Verteidigung eines in die Kritik geratenen Konzepts
Markus Thurau
Die russische Invasion der Ukraine: Keine Spur von konventioneller Extremgewalt
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Ethische Bildung in den Streitkräften – Überbrückung oder Vertiefung der Kluft?
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Die Rücktransformation soldatischer Identitäten
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