Kontroversen in Militärethik und Sicherheitspolitik
DEUTSCHLAND
Für das Special dieser Ausgabe hat die Redaktion von „Ethik und Militär“ Expertinnen und Experten aus verschiedenen Staaten einen sechs Punkte umfassenden Fragenkatalog zum Thema Militärethik und Ethikunterricht in ihren jeweiligen Streitkräften vorgelegt. Diese Seiten erheben keinen Anspruch auf Repräsentativität, sondern sollen weiteres Anschauungsmaterial für die Frage nach einem gemeinsamen europäischen Ansatz auf diesem Gebiet liefern.
Was verstehen Sie bzw. was versteht man in Ihrem Land hauptsächlich unter Militärethik? Womit befasst sie sich im Wesentlichen, und was ist ihre Hauptaufgabe?
„Militärethik“ verstehe ich als militärische Berufsethik, als eine Bereichsethik, deren Aufgabe die anwendungsbezogene normative Reflexion soldatischen Handelns ist. Ich unterscheide insbesondere drei Aspekte dieser Aufgabe: a. Handlungsethik – gut entscheiden; b. Lebensethik – Grundhaltungen/Tugenden des soldatischen Dienstes entwickeln; c. Ethik der Rechtfertigung: gute Gründe für das eigene Handeln geben und kommunizieren. Militärethik steht im größeren Rahmen einer Ethik des Politischen und ist den Gütern und normativen Prinzipien und Kriterien des Friedens und der Gerechtigkeit verpflichtet.
Gibt es in Ihrem Land eine öffentliche Debatte zu damit zusammenhängenden Fragen? Wenn ja, zu welchen?
Insbesondere seit 2017 wurde von der politischen Führung der Streitkräfte ein „Ethikbedarf“ festgestellt. Notorisch war die Einschätzung der damaligen Bundesministerin der Verteidigung, die Streitkräfte hätten ein „grundlegendes Haltungs- und Führungsproblem“, dem durch Intensivierung der „Persönlichkeitsbildung“ in ihrer dreifachen Gestalt als politische, historische und ethische Bildung zu begegnen sei. Die bislang bewährte Form berufsethischer Bildung durch den „Lebenskundlichen Unterricht“ (LKU), erteilt durch Militärseelsorger, wurde als ergänzungsbedürftig angesehen. Das Verhältnis von LKU und ethischer Bildung ist gegenwärtig noch Gegenstand intensiver und kontroverser Debatten.
Sehen Sie beim Verständnis von bzw. konkreten Fragen der Militärethik Gemeinsamkeiten in den EU-Mitgliedstaaten und anderen europäischen Ländern? Wenn ja, worin bestehen diese?
Das Konzept der „Inneren Führung“ der Bundeswehr mit seiner Betonung der „gewissensgeleiteten Persönlichkeit“ (so im Entwurf der ZDv „Ethische Bildung“) erscheint in der Begegnung mit anderen europäischen Streitkräften als „Solitär“, wobei konzeptionelle Fragen und solche der tatsächlichen Praxis durchaus zu unterscheiden sind. Die Schere zwischen Anspruch und Realität scheint in der Bundeswehr besonders ausgeprägt zu sein.
Hat der russische Angriff auf die Ukraine Ihrer Meinung nach eine deutliche Veränderung in dieser Hinsicht bewirkt?
Die katastrophale Art der russischen Kriegsführung mit ihrer anscheinend programmatischen Verletzung des humanitären Völkerrechts – ikonisch sind die Bilder aus Butscha von März/April 2022 geworden – hat die hohe Bedeutung der normativen Selbstbindung des soldatischen Dienstes vor Augen geführt. Fragen wie „Wie konnte das passieren?“, „Was passiert mit einer Truppe, die so etwas zulässt?“ und „Wie können wir uns davor schützen?“ bewegen viele Soldaten und werden in Lehrgängen intensiv diskutiert.
In welchem Umfang und für wen sind Ethik und Militärethik Teil der militärischen Ausbildung? Durch wen wird unterrichtet?
Militärische Berufsethik wird bislang vor allem im „Lebenskundlichen Unterricht“ von Militärseelsorgern im Umfang von (laut Vorschrift) 90 Minuten pro Monat erteilt. Es wird diskutiert, dass ethische Bildung künftig von militärischen Führern bzw. Dienstvorgesetzten verantwortet und eventuell auch durchgeführt werden soll.
Was sind Ihrer Meinung nach die die wichtigsten Fragen bzw. dringlichsten Probleme der Gegenwart, mit denen sich die Militärethik auseinandersetzen sollte?
In Anknüpfung an die oben unter 1. genannten Aspekte:
a. Wie kann ich bzw. können wir unter den grundlegenden Aspekten von Effektivität, Legalität und Legitimität/Moralität gute Entscheidungen fällen? Als grundlegend hierfür erscheinen mir Erwägungen der Verhältnismäßigkeit (proportionalitas) und der Unterscheidung (discriminiatio) aus den Kriterien der Just-War-Tradition.
b. Entwicklung einer reflektierten soldatischen Identität, die eingebettet ist in das Ganze eines persönlich verantworteten Lebensentwurfs: „Welches sind meine humanen und professionellen Kernwerte, die meinen moralischen Kompass ausmachen?“
c. Wie kann ich gute Gründe geben, vor meinem „inneren Forum“ des Gewissens und gegenüber der Öffentlichkeit und vor allem gegenüber den von meinem Handeln betroffenen Menschen, warum ich als Soldat das tue, was ich tue? In der freiheitlichen Demokratie ist der Soldat als moralisches Subjekt in seiner indispensablen personalen Verantwortung adressiert. Militärethik hilft dazu, sich dieser Verantwortung zu stellen.
Roger Mielke
Dr. Roger Mielke M.A., Militärdekan am Zentrum Innere Führung der Bundeswehr in Koblenz, Theologe und Sozialwissenschaftler. Lehrbeauftragter an der Universität Koblenz und an der Universität der Bundeswehr München (Studium Plus).