Die russische Invasion der Ukraine: Keine Spur von konventioneller Extremgewalt
Vom Umfang der eingesetzten Gewaltmittel und der Zahl der Opfer bis zur politischen Konstellation und den Kriegsgründen spricht vieles dafür, dass die Welt mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine eine Rückkehr zum klassischen zwischenstaatlichen Krieg erlebt. Die umfangreich untermauerte These vom Zeitalter „neuer“ Kriege seit den 1990er-Jahren scheint auf einen Schlag infrage gestellt.
Eine Reihe von Faktoren spricht allerdings dafür, dass sich dieser Konflikt nicht mit einem einfachen Rückgriff auf historische Vorbilder beschreiben lässt. Sowohl strategische Fragen als auch das Aufbrechen des staatlichen Gewaltmonopols durch Söldnertruppen sind hier zu nennen. Am meisten sticht jedoch die nicht mehr steigerbare Moralisierung des Krieges heraus.
In einem ungewöhnlichen Dialog mit dem Gegner appelliert die ukrainische Seite gezielt an das moralische Gewissen der russischen Zivilbevölkerung. Jeder und jede Einzelne wird dazu aufgefordert, über seine Rolle als potenzieller Widerständler oder (stiller) Mittäter in einem ungerechten Krieg nachzudenken. Von zivilen Helferinnen und Helfern bis zu Militärbloggern: Sie alle spielen auf verschiedenste Weise eine nicht unwesentliche Rolle für den Verlauf des Krieges. Dies ist als Beleg für die Relevanz der revisionistischen Theorie des gerechten Kriegs zu werten. Die traditionelle Lehre vom gerechten Krieg wird dieser Situation nicht gerecht, weil sie von moralischer Symmetrie auf dem Gefechtsfeld ausgeht und Zivilpersonen keine aktive Rolle zubilligt.
Vor diesen tief moralischen Fragen auszuweichen, weil sie zu komplex oder realitätsfremd seien, ist keine Lösung. Ebenso wenig darf aus dem revisionistischen Ansatz geschlossen werden, dass die klare Benennung moralischer Verantwortlichkeit oder Mittäterschaft Angriffe auf Zivilpersonen rechtfertigt. In einer Zeit realer Rehabilitierung von Kriegen fordert die revisionistische Theorie jedoch die Politik und Öffentlichkeit heraus. Es braucht Strategien und Maßnahmen, die es ermöglichen, sich einer gesellschaftlichen Militarisierung zu entziehen.
Originalartikel