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Zeitenwende in der Friedensethik? Der Pazifismus im Angesicht des russischen Angriffs auf die Ukraine

Seit dem 24. Februar 2022 wird der Krieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine, der bereits 2014 als hybrider Krieg begann, offen und mit dem Einsatz großer militärischer Mittel geführt. Dieses Datum wird seither als historischer Epochenbruch bezeichnet. Auch in der Friedensethik ist von einer Zeitenwende oder doch zumindest von einer nötigen Neuausrichtung die Rede. Insbesondere der Pazifismus und sein Insistieren auf dem Primat gewaltfreier Konfliktlösung werden kritisiert. Karl-Heinz Paqué, Vorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung, sieht mit der politischen Zeitenwende „Das Ende des (bedingungslosen) Pazifismus“ gekommen; Sascha Lobo schrieb in einer Kolumne des Spiegel vom „deutschen Lumpen-Pazifismus“; Jagoda Marinić verliert „langsam die Beherrschung, wenn ich jenen zuhöre, die sich gerade als Pazifisten inszenieren“.[1] Die Angesprochenen, wie die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Margot Käßmann, verteidigen sich: „Warum ich auch 2022 Pazifistin geblieben bin“.[2]

Die Debatte geht über die bekannten friedensethischen Akteure weit hinaus und wird in allen Leitmedien geführt. Verschiedene offene Briefe mit gegenläufigen Forderungen kursieren, Polemik und Schwarz-Weiß-Rhetorik bleiben nicht aus. Zwei Fragestellungen haben sich dabei als zentrale Konfliktpunkte herauskristallisiert: Dürfen, ja sollen Waffen an die Ukraine geliefert werden, um sie bei ihrer Selbstverteidigung gegen die russische Aggression zu unterstützen? Soll die Ukraine dazu gedrängt werden, möglichst rasch Friedensgespräche aufzunehmen und die Kampfhandlungen aufzugeben, auch wenn dies mit territorialen und anderen Konzessionen verknüpft ist?

Analysiert man die Debatte genauer, dann stößt man auf ein bestimmendes, die Friedensethik schon immer prägendes Kontroversthema, das all den aktuellen Diskussionen zugrunde liegt: die Frage nach der Legitimierung militärischer Gewalt.

Die friedensethischen Extrempositionen

Zwischen einem kategorischen Ja und einem kategorischen Nein zum Einsatz militärischer Gewalt gibt es ein ganzes Spektrum möglicher Positionen, und die gesamte gegenwärtige ethische Debatte spielt sich innerhalb dieses Spektrums ab, ohne dass jemand die beiden Extrempositionen beziehen würde. Dennoch ist es sinnvoll, sich zunächst diesen zuzuwenden, um einen zuverlässigen Analyseschlüssel an die Hand zu bekommen. Auf der einen Seite steht ein uneingeschränktes Ja zur militärischen Gewalt, das keine weitere Rechtfertigung für deren Einsatz verlangt als ihre realpolitische Opportunität. Politische Interessen dürfen aus dieser Sicht ohne irgendwelche Vorbehalte und besonderen Legitimationsbedarf militärisch durchgesetzt werden. Kommt noch eine Kriegsbegeisterung hinzu, sprechen wir von Bellizismus. Man mag versucht sein, diese Position im aktuellen Konflikt der Russischen Föderation zuzuschreiben, und für einige Moskauer Hardliner und Nationalisten dürfte das auch zutreffend sein. Die offizielle russische Kommunikation versucht gleichwohl, auf klassische Rechtfertigungskriterien der Lehre vom gerechten Krieg zurückzugreifen, indem sie die Invasion der Ukraine als ein notwendiges Übel deklariert, das Russland aufgezwungen wurde: um dem laufenden „Genozid“ an der russischstämmigen Bevölkerung des Donbass Einhalt zu gebieten; als legitime Selbstverteidigung im Sinne eines Präventivschlags, um einem militärischen Angriff auf russisches Gebiet von ukrainischem Boden zuvorzukommen; als Rückeroberung russischer Erde, die vom illegitimen ukrainischen Staat fälschlich für sich beansprucht wird. Obwohl diese Argumente vorgeschoben erscheinen, so manifestiert sich in ihnen ein Legitimationsbedarf, der die aktuelle russische Position vom klassischen Bellizismus unterscheidet, wie er das „freie Kriegsführungsrecht der Staaten“ der Westfälischen Ordnung auszeichnete, auf dem die imperialistischen Eroberungskriege bis ins 20. Jahrhundert hinein beruhten. Auf der anderen Seite ist eindeutig, dass sich das russische Vorgehen gegen die Ukraine keinesfalls mit den Kriterien der Lehre vom gerechten Krieg als „just and limited warfare“ in Einklang bringen lässt. Waffenlieferungen an die Ukraine zur Eindämmung der russischen Aggression hingegen schon. Die Befürwortung der Waffenlieferungen mit Bellizismus[3] und dem Geist von 1914[4] gleichzusetzen, ist daher völlig unangemessen.

Dem Bellizismus als Extremposition gegenüber steht ein radikaler Pazifismus, der jede Form von militärischer Gewaltanwendung für illegitim hält, auch zum Zweck der Selbstverteidigung. Grundlage ist eine Haltung absoluter Gewaltlosigkeit, die vom privaten auf den politischen Bereich extrapoliert wird. Zu den von ihren Anhängerinnen und Anhängern erörterten Fragen gehört zum Beispiel die, ob es legitim ist, in einer persönlichen Bedrohungssituation die Polizei zu rufen, im Wissen, dass die Polizei zur Gewaltanwendung bereit ist.[5] Oft wird dem Pazifismus eine Passivität unterstellt, die sich aus allem heraushalten möchte. Doch dies ist eine Fehlinterpretation. Es geht dem Pazifismus durchaus um aktive Handlungen. Nur sollen diese gewaltlos sein. Einer der Protagonisten, Gene Sharp, hat in den 1970er-Jahren zusammengezählt und ist auf 198 „methods of nonviolent action“ gekommen.[6] Im Blick auf militärische Konflikte zu nennen sind etwa die Christian Peacemaker Teams, die sich 2003 im Irakkrieg unter Einsatz des eigenen Lebens in die Frontlinien gestellt haben, um die Kämpfenden zum Einstellen des Feuers zu bewegen.[7] In den Anfangstagen nach der russischen Invasion der Ukraine wurde in diesem Sinne vorgeschlagen, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer auf militärischen Widerstand verzichten und sich gewaltlos verteidigen, etwa durch Demonstrationen oder einen Generalstreik. Nachdem in Kherson Demonstrierende in den ersten Tagen nach der Besetzung niedergeschossen wurden, sind diese pazifistischen Stimmen allerdings leiser geworden. In der deutschen Friedensbewegung wird das Recht der Ukrainer auf militärische Selbstverteidigung nicht mehr bestritten.[8] Der Bund für Soziale Verteidigung weist auf seiner Website auf ein „System einer totalen Verteidigung“ hin, „zu der auch [!] ziviler Widerstand gehört“.[9] Es geht der deutschen Friedensbewegung angesichts der Ereignisse nicht um absoluten Verzicht auf Gewalt, sondern um ihre Minimierung und die Einbeziehung gewaltfreier Mittel. Mit solchen Äußerungen ist der radikale Pazifismus aufgegeben.

Das pazifistische Nein zu Waffenlieferungen

Auch wenn sich die Friedensbewegung hinsichtlich des Selbstverteidigungsrechts der Ukraine zu einem Ja durchgerungen hat, so bleibt sie der radikalen Gewaltfreiheit insofern verhaftet, als sie Waffenlieferungen anderer Staaten, die die Ukraine bei ihrer militärischen Selbstverteidigung unterstützen, skeptisch gegenübersteht. Der Friedensbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Friedrich Kramer, hat sein Nein zu Waffenlieferungen auf der EKD-Synode im November 2022 gegenüber innerkirchlicher Kritik bekräftigt. In anderen neueren Erklärungen wird der Punkt nicht explizit genannt, aber der Aufruf „Stoppt das Töten in der Ukraine – Aufrüstung ist nicht die Lösung!“, unter dem ein gemeinsamer Aktionstag verschiedener Gruppen der deutschen Friedensbewegung am 19.11.2022 stand, zeigt die Richtung an. Man könnte nun fragen, wie dieses Nein damit zusammengebracht werden kann, dass der Ukraine ein Recht auf Selbstverteidigung, auch mit militärischen Mitteln, zugestanden wird. Muss dieses Recht nicht, einmal zugestanden, implizieren, dass es mit bestmöglichen Mitteln wahrgenommen werden kann, was dann auch Unterstützung von außen legitimiert? Handelt es sich hier um einen der Selbstwidersprüche, die jedem Versuch anhaften, einen der Extremposition gegenüber, wie sie oben beschrieben wurde, gemäßigten Pazifismus zu vertreten?[10]

Die hinter dem Aufruf stehenden Gruppen würden dies bestreiten. Trotz des Zugeständnisses, dass die Ukraine ein Recht auf militärische Selbstverteidigung hat, handelt es sich aus ihrer Sicht dabei um eine, wenn überhaupt, dann nur temporär ethisch zulässige Strategie. Waffenlieferungen werden kritisch gesehen, weil sie eine „Spirale“ der Gewalt befeuern und damit letztlich dem Frieden nicht dienlich sind: „Die aktuelle Rüstungsspirale, an der viele Staaten der Welt, darunter Deutschland, beteiligt sind, muss zum Wohle aller Menschen gestoppt werden.“[11] Die Frage an die Friedensbewegung verschiebt sich somit vom möglichen Selbstwiderspruch hin zu der Frage, ob sich ihre allgemeine Kritik an einem zu leichtfertigen und zu großzügigen Umgang mit militärischer Gewalt auf die Waffenlieferungen an die Ukraine im gegenwärtigen Konflikt übertragen lässt.

Gesinnungs- und Verantwortungspazifismus

Hinter der pazifistischen Kritik an den Waffenlieferungen lässt sich unschwer eine These heraushören, die bereits Max Weber als unumstößliches „Pragma“ formuliert hat: „Gewalt und Bedrohung mit Gewalt gebiert aber nach einem unentrinnbaren Pragma alles Handelns unvermeidlich stets erneut Gewaltsamkeit.“[12] In diesem Sinn heißt es etwa in einer Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft Mennonitischer Gemeinden in Deutschland kurz nach der russischen Invasion: „Waffenlieferungen beenden keinen Krieg, sondern heizen ihn an und ermöglichen erst Kriegsführung und Menschenrechtsverletzungen. Sie gebieten weder den Gewalttreibern Einhalt noch können sie die Bedrohten schützen.“[13] Wegen des kategorischen Festhaltens an diesem „Pragma“ wird dem Pazifismus oft unterstellt, eine Gesinnungsethik im Sinne Webers zu vertreten, der eine Verantwortungsethik entgegengesetzt wird, die die konkreten Handlungsumstände in ihr Urteil einbezieht und dadurch allein dem Politischen angemessen ist. Der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt hat das einmal so formuliert: „Ich glaube also nicht, daß man aus irgendwelchen abstrakten ethischen Grundsätzen erschöpfende oder auch nur halbwegs ausreichende politische Leitideen oder politische Maximen für konkrete Situationen herauslesen kann.“[14]

Man wird der pazifistischen Argumentation gegen Waffenlieferungen an die Ukraine aber nicht gerecht, wenn man sie unter das Etikett „abstrakte Gesinnungsethik“ stellt. Vielmehr wird von ihr umgekehrt der Vorwurf erhoben, dass die Befürworterinnen und Befürworter der militärischen Option ihr ethisches und politisches Urteil an den empirischen Fakten vorbei bilden, während man selbst die möglichen Konsequenzen der verschiedenen Optionen geprüft habe und auf dieser Basis, empirisch aufgeklärt, zu einem anderslautenden Urteil gekommen sei. Das Stichwort lautet: „Verantwortungspazifismus“.[15] Im konkreten Fall wird für ihn auf zwei Ebenen argumentiert. Gegen Waffenlieferungen wird auf die Eskalationsgefahr hingewiesen, die von diesen ausgehe, insbesondere im Kampf gegen eine Atommacht. „Welches Ziel kann bewaffnete Gegenwehr gegen eine atomar bewaffnete Macht überhaupt verfolgen? Sollte bewaffnete konventionelle Gegenwehr eine atomar bewaffnete Macht konventionell besiegen, ist sie darauf angewiesen, dass diese Macht auf ihre atomaren Machtmittel nicht zurückgreift. Ein solches Vertrauen auf Zivilität und Humanität eines Aggressors (!) erscheint uns irrational.“[16] Und für die Unterstützung eines gewaltfreien Widerstands der Ukraine wird auf empirische Forschung verwiesen, die im historischen Vergleich dessen überlegene Effizienz gezeigt habe. Beide Argumente verdienen eine genauere Betrachtung.

Ist gewaltloser Widerstand immer die bessere Option?

Für die These, dass gewaltloser Widerstand empirisch bewährt die erfolgreichere Option als militärische Maßnahmen sei, wird in der Friedensbewegung vor allem auf eine Studie von Erica Chenoweth und Maria Stephan verwiesen, die für einen Zeitraum von gut 100 Jahren Daten zu gewaltfreien und gewaltförmigen Aufstandsbewegungen ausgewertet haben, mit folgendem Ergebnis: „The most striking finding is that between 1900 and 2006, nonviolent resistance campaigns were nearly twice as likey to achieve full or partial success as their violent counterparts.“[17] Direkte Verweise auf die Studie in der Debatte um den Ukraine-Krieg finden sich etwa in Beiträgen der Friedensforscherin Véronique Dudouet und des Koordinators der Initiative „Sicherheit neu denken“, Ralf Becker.[18]

Becker weist in seinem Beitrag ehrlicherweise darauf hin, dass in der Chenoweth/Stephan-Studie auch über Misserfolge gewaltfreien Widerstands berichtet wird, und ebenfalls verschweigt er nicht, dass neue Zahlen der beiden für die Jahre bis 2019 eine deutlich geringere Erfolgsquote ausweisen. Aber: „im Durchschnitt ist gewaltfreier Widerstand zur Erreichung politischer Ziele auch 2019 immer noch doppelt so wirksam wie gewaltsamer Widerstand.“[19] Eine solche Folgerung mag man ziehen, doch ist die Frage, was damit für die konkrete Entscheidungsfindung im Umgang mit der russischen Invasion gewonnen ist. Durchschnittszahlen sind in einer komplexen Wirklichkeit, in der jede Situation anders zu bewerten ist, keine Hilfe. Hinzu kommt, dass die meisten von Chenoweth und Stephan ausgewerteten Aufstandsbewegungen innerstaatlich konfiguriert sind – Widerstand gegen die eigene Regierung –, während die Ukraine von außen militärisch überfallen wurde. Wer beides miteinander vergleicht, vergleicht Äpfel mit Birnen. Und drittens sollte man die nachlassenden Erfolgszahlen, die Erica Chenoweth konstatiert, nicht so leichthin abtun, wie Becker das tut. In einer neuen Veröffentlichung schreibt sie den Niedergang zwar vor allem Problemen in den Widerstandsgruppen selbst zu; sie erwägt aber auch, dass autoritäre Regime ihr Vorgehen verändert haben: „in the past decade authoritarian leaders have also established a savvier playbook by which to suppress domestic challengers“[20]. Wenn man die Erfahrungen der letzten Jahre in Myanmar, Hongkong, Weißrussland und nun eben auch in der Ukraine zusammennimmt, dann wird man diese Erwägung sehr ernst nehmen müssen – ernster jedenfalls als diejenigen in der Friedensbewegung, die unter Rückgriff auf Chenoweth eine generelle Erfolgswahrscheinlichkeit gewaltfreien Widerstands herbeireden.

Das Argument der globalen und atomaren Eskalationsgefahr

Die Angst vor einer atomaren Eskalation des Ukraine-Kriegs ist berechtigt, wird sie doch von der Russischen Föderation immer wieder gezielt geschürt. Es verwundert daher nicht, wenn die Eskalationsgefahr weit über die Friedensbewegung hinaus als Grund angeführt wird, der Ukraine militärische Zurückhaltung und ein sofortiges Eintreten in Waffenstillstandsverhandlungen anzuempfehlen. So heißt es im Appell „Waffenstillstand jetzt!“, der am 29.6.2022 in der Wochenzeitung Die Zeit erschien: „Der Westen muss alles daransetzen, dass die Parteien zu einer zeitnahen Verhandlungslösung kommen. Sie allein kann einen jahrelangen Abnutzungskrieg mit seinen fatalen lokalen und globalen Folgen sowie eine militärische Eskalation, die bis zum Einsatz nuklearer Waffen gehen kann, verhindern.“[21]

Auch hier wird also, ganz im Sinne des Verantwortungspazifismus, mit den kurz- und langfristigen Folgen heutiger Handlungen argumentiert. Zur Bewertung dieses Arguments ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Folgeabschätzungen notorisch unsicher sind. Gerade deshalb ist es ein guter ethischer Rat, bei ihnen der Vernunft und nicht spontanen Affekten Gehör zu geben. Wie wahrscheinlich ist es, bei Lichte besehen, dass die Russische Föderation den Ukraine-Konflikt auf eine ganz neue Ebene bringt und zur nuklearen Option greift? Die Frage muss mit dem Verlauf des Konflikts immer wieder neu gestellt und möglicherweise anders bewertet werden, wobei neben dem Diskurs der russischen Führung auch durch Satellitenaufklärung beobachtbare Vorgänge eine Rolle für die Bewertung spielen (siehe dazu auch den Beitrag von Peter Rudolf in dieser Ausgabe). Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind sich Expertinnen und Experten weitgehend einig, dass diese Wahrscheinlichkeit sehr gering ist. Es wäre gerade nicht der „gesichtswahrende“ Ausgang des Konflikts für die Russische Föderation, den diejenigen, die im Westen für sofortige Verhandlungen plädieren, als Wunsch des Kreml imaginieren. China und Indien haben unmissverständlich signalisiert, dass sie diesen Schritt verurteilen und entsprechende Konsequenzen ziehen würden. Es würde auch den russischen Interessen mit der Ukraine, seien sie nun Befreiung oder Bodenschätze, widersprechen, ukrainischen Boden für Jahrzehnte atomar zu verseuchen. Überdies würde die eigene Bevölkerung durch möglichen Fallout gefährdet.

Angesichts dieser – gegenwärtig – geringen Eintrittswahrscheinlichkeit des atomaren Szenarios ist es unangemessen, daraus ein ethisch gefordertes Nachgeben gegenüber der russischen Aggression abzuleiten, das sofortige Waffenstillstandsverhandlungen unvermeidlich implizieren würden. Das Argument „Abnutzungskrieg“ ist anders gelagert und erfordert eine eigene Betrachtung. Auch hier geht es um eine Folgenabschätzung, bei der sich die lokalen und globalen Konsequenzen der Entscheidung, die militärische Verteidigung der Ukraine fortzusetzen, und die Konsequenzen der Entscheidung, dem Aggressionsdrang der Russischen Föderation wie schon 2014 nachzugeben, gegenüberstehen. Diese Entscheidung haben die Ukrainerinnen und Ukrainer, aber auch diejenigen, die sie militärisch unterstützen, zu fällen. Würde ein Nachgeben die Region tatsächlich pazifizieren? Und wie würde es sich global auswirken auf andere Konfliktszenarien, in denen die regelbasierte Weltordnung auf dem Spiel steht? Auf beiden Ebenen entspricht ein Nachgeben nicht dem Leitbild eines nachhaltigen, gerechten Friedens. Der Kampf der Ukraine ist auch ein Kampf um Menschenrechte, und wer hier die Unterstützung aufgibt, muss sich fragen lassen, was ihm oder ihr die Idee der Menschenrechte überhaupt bedeutet.

Auch im Blick auf mögliche Eskalationen erscheinen die pazifistischen Argumente gegen ein Weiterführen der militärischen Verteidigung der Ukraine somit wenig überzeugend.

Zeitenwende in der Friedensethik?

Der Pazifismus als friedensethische Option steht angesichts der russischen Invasion der Ukraine unter Druck. Die gegen eine militärische Verteidigung der Ukraine vorgebrachten Argumente überzeugen nicht, und tatsächlich gibt es in der Friedensbewegung inzwischen Stimmen, die das auch militärische Selbstverteidigungsrecht der Ukraine anerkennen und Waffenlieferungen befürworten. Impliziert das eine friedensethische Zeitenwende?

Die Rede von einer Wende suggeriert eine Änderung um 180 Grad. Eine solche Änderung des friedensethischen Diskurses kann ich nicht erkennen, und sie scheint mir auch nicht notwendig. Zum einen ist zu berücksichtigen, dass weite Teile der Friedensbewegung die oben beschriebene radikalpazifistische Extremposition schon vor der russischen Invasion aufgegeben hatten. Die Etablierung des Konzepts des „Just Policing“, das in pazifistischen Kreisen schon seit Jahrzehnten im Gespräch ist und zum Beispiel auch von Margot Käßmann geteilt wird[22], impliziert ein grundsätzliches Ja zu staatlicher Gewaltanwendung und lässt die Grenzen zur Rechtfertigung begrenzter militärischer Gewaltanwendung im Sinne der Lehre vom gerechten Krieg verschwimmen.[23] Zum anderen bleiben einige pazifistische Forderungen weiterhin wichtig: das Insistieren darauf, dass immer nach möglichst gewaltfreien Optionen zu suchen ist, ebenso wie die Stärkung zivilgesellschaftlicher Friedensarbeit durch staatliche Unterstützung.

Es ist sicher richtig, dass radikale pazifistische Forderungen wie die nach der Abschaffung der Bundeswehr durch die veränderte Sicherheitslage desavouiert wurden. Auch das Auseinanderdividieren einer „Friedenslogik“ und einer „Sicherheitslogik“[24] erscheint noch weniger überzeugend als zuvor. Dies sind aber immer schon friedensethische Randstimmen gewesen. Das Leitbild des gerechten Friedens, das in den beiden großen Kirchen Deutschlands und weit darüber hinaus Zustimmung gefunden hat, integriert unter dem Titel „rechtserhaltende Gewalt“ das Recht auf Selbstverteidigung und Menschenrechtsschutz mit militärischen Mitteln. Ihre Anwendung ist immer ein Übel, kann aber unter bestimmten Umständen – und die sind mit der russischen Invasion der Ukraine zweifellos gegeben – ethisch gerechtfertigt werden. Die darin bestehende Kontinuität zur traditionellen Lehre vom gerechten Krieg wurde oft übersehen, was aber nichts daran ändert, dass sie besteht. Insofern besteht mehr Anlass zu einer Akzentverschiebung in der Friedensethik als zu einer „Zeitenwende“. Viel wichtiger als solche Neujustierungen in der friedensethischen Reflexion ist gegenwärtig aber, dass alles dafür getan wird, um den vom Ukraine-Krieg betroffenen Menschen mit militärischen und humanitären Mitteln beizustehen, ohne dabei die Leitperspektive eines gerechten Friedens aus dem Auge zu verlieren.

 


[5] York, Tripp und Barringer, Justin Bronson (Hg.) (2012): A Faith Not Worth Fighting For: Addressing Commonly Asked Questions about Christian Nonviolence. Eugene OR.

[7] Kern, Kathleen (2009): In Harm’s Way: A History of Christian Peacemaker Teams. Eugene OR.

[8] „Es besteht Einvernehmen, dass wir das Recht der ukrainischen Bevölkerung auf militärische Verteidigung nicht in Frage stellen.“ So in Punkt 15 der Stellungnahme zum Ukraine-Krieg, die die Mitgliederversammlung der Arbeitsgemeinschaft Dienst für den Frieden am 24.9.2022 beschlossen hat. friedensdienst.de/sites/default/files/anhang/agdf-die-vermeidung-und-verminderung-von-gewalt-bleibt-unser-ziel-friedensverband-verabschiedet.pdf.

[10] Zu diesen Selbstwidersprüchen vgl. Lohmann, Friedrich (2018): Myth and Reality: Pacifism’s Discourse on Violence Revisited. In: Studies in Christian Ethics 31, S. 186–200 (doi: 10.1177/0953946817749092).

[12] Weber, Max (1920; 2012): Religion und Gesellschaft. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Darmstadt, S. 541.

[14] Schmidt, Helmut (1976; 1980): Gesinnungsethik oder Verantwortungsethik. In: Reinhard Gramm u. Peter H. Blaschke (Hg.): Ernstfall Frieden. Christsein in der Bundeswehr. Stuttgart/Berlin, S. 203–204.

[15] Schweitzer, Christine (2000): Pazifismus heute. www.friedenskooperative.de/friedensforum/artikel/pazifismus-heute.

[16] Freise, Josef u. a. (2022): „Die Perspektive des Evangeliums fehlt“. Stellungnahme zur Erklärung der deutschen Kommission „Justitia et Pax“ zum Krieg gegen die Ukraine vom 26. März 2022, S. 2. www.academia.edu/75126591/_Die_Perspektive_des_Evangeliums_fehlt_.

[17] Chenoweth, Erica/Stephan, Maria J. (2011): Why Civil Resistance Works: The Strategic Logic of Nonviolent Conflict. New York, S. 7.

[18] Dudouet: taz.de/Friedensforscherin-ueber-den-Ukrainekrieg/!5846168/. Becker: zeitzeichen.net/node/9624. Beide Beiträge wurden in den ersten Wochen nach der russischen Invasion publiziert. In einem später, am 2.11.2022, veröffentlichten Interview stimmt Becker den Waffenlieferungen an die Ukraine zu: „Ich persönlich bin für diese Waffenlieferungen. Ich glaube, dass es jetzt, wo der Krieg begonnen hat – was man hätte verhindern können – tatsächlich sinnvoll ist, Präsident Putin dieses Zeichen der Stärke entgegenzusetzen.“ www.evangelisch.de/inhalte/207683/02-11-2022/friedensethiker-becker-raet-wir-muessen-raus-aus-eskalationsdynamik.

[20] Chenoweth, Erica (2021): Civil Resistance: What Everyone Needs to Know®. Oxford/New York, S. 233.

[22] Vgl. Käßmann, Margot (2015): Plädoyer für eine Prima Ratio. In: Margot Käßmann/Konstantin Wecker (Hg.): Entrüstet Euch! Warum Pazifismus für uns das Gebot der Stunde bleibt. Texte zum Frieden. Gütersloh, S. 85–108, 103: „Wir können uns aber positiv für eine internationale Friedenstruppe einsetzen, die nur von den Vereinten Nationen legitimiert sein kann. So kann dieser schmale Korridor legitimierbarer Gewalt um des Aufbaus von Frieden und der Verteidigung der Menschenrechte willen im Sinne der Friedensdenkschrift der EKD aus dem Jahr 2007 aussehen.“

[23] Werkner, Ines-Jacqueline (2017): Militärische versus polizeiliche Gewalt. Aktuelle Entwicklungen und Folgen für internationale Friedensmissionen. Wiesbaden; Lohmann, Friedrich (2018), s. Endnote 10.

[24] Informationsstelle Wissenschaft und Frieden in Zusammenarbeit mit der Plattform Zivile Krisenprävention (Hg.) (2014): Friedenslogik statt Sicherheitslogik. Theoretische Grundlagen und friedenspolitische Realisierung. Wissenschaft und Frieden, Dossier 75.

Zusammenfassung

Friedrich Lohmann

Friedrich Lohmann ist seit 2011 Professor für Evange­lische Theologie mit dem Schwerpunkt Angewandte Ethik an der Universität der Bundeswehr München. Zuvor war er von 2008 bis 2011 als Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Theologischen Fakultät der Humboldt-­Universität zu Berlin tätig. Er ist Mitherausgeber der ­Zeitschrift „zur sache bw“ sowie eines zweibändigen Handbuchs zur militärischen Berufsethik. Von 2016 bis 2019 war er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des gerade abgeschlossenen Konsultationsprojekts „Orientierungs­wissen zum gerechten Frieden“ an der FEST Heidelberg.

friedrich.lohmann@unibw.de

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