Kontroversen in Militärethik und Sicherheitspolitik
Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen – altes Motto brandaktuell?!
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat eine Zeitenwende in allen Lebensbereichen ausgelöst. Das entsetzliche Leid der Zivilbevölkerung zwingt Millionen von Menschen, ihre Heimat zu verlassen und Zuflucht vor allem in europäischen Partnerländern zu suchen. Die Brutalität der russischen Kriegsführung hat schwerwiegende Folgen für die internationale Ordnung, die in Europa über Jahrzehnte für Freiheit, Sicherheit und Wohlstand gesorgt hat. Selbst vor der Drohung mit Nuklearwaffen schreckt der russische Präsident Wladimir Putin nicht mehr zurück.[1] Unterbrechungen der Energie- und Nahrungsmittelversorgung sowie die Turbulenzen in der Wirtschaft und auf den Finanzmärkten zeigen die Verwundbarkeit unserer globalisierten Welt.
Auch wenn Deutschland trotz umfangreicher ziviler wie militärischer Unterstützungsleistungen für die Ukraine de jure keine Kriegspartei ist, sind wir also de facto direkt von den Auswirkungen betroffen.
Mit dem Krieg in der Ukraine erlebt unsere Gesellschaft nach den Anschlägen vom 11. September 2001 die zweite globale sicherheitspolitische Zäsur des 21. Jahrhunderts. Bundeskanzler Scholz prägte in seiner Regierungserklärung am 27. Februar für die Dimension des russischen Angriffs auf die Ukraine und dessen Auswirkungen auf die europäische Friedensordnung den Begriff der „Zeitenwende“. In ähnlicher Manier bezeichnete Bundespräsident Steinmeier in seiner Rede vom 28. Oktober 2022 den 24. Februar dieses Jahres als einen „Epochenbruch“.[2]
Angesichts der Bilder von Gewalt und Zerstörung in der Ukraine, anschwellender Flüchtlingsströme und anderer bereits angesprochener Auswirkungen sowie der Sorge vor einer nuklearen Eskalation folgert er aus meiner Sicht zutreffend, dass uns dieser Krieg in „eine andere Zeit, in eine überwunden geglaubte Unsicherheit gestürzt hat“. Der katholische Militärbischof Dr. Overbeck sprach im Zusammenhang mit der Verteidigung der Ukraine gegen den russischen Aggressor treffend von der Verteidigung des Rechts gegen das Recht des Stärkeren.[3]
Daraus schließt Bundespräsident Steinmeier, dass die Friedensdividende nach dem Fall des Eisernen Vorhangs aufgezehrt sei und auf Deutschland härtere Jahre mit Gegenwind zukämen. Deutschland müsse konfliktfähig werden, nicht im Sinne von Kriegstreiberei, sondern von Widerstandsgeist und Widerstandskraft. Hierzu gehöre zuallererst eine starke und gut ausgestattete Bundeswehr.[4]
Folgen der „Zeitenwende“ für die Bundeswehr
Diese Forderung trifft den Kern meiner eigenen Lagebeurteilung. Sie entspricht in militärischer Terminologie einer „grundlegenden Lageänderung“ und der damit verbundenen Feststellung eines Handlungsbedarfs. Wir können uns in unseren offenen demokratischen Gesellschaften nicht mehr auf die allgemeine Anerkennung einer regelbasierten internationalen Ordnung verlassen. Genau auf diese Bedrohungslage muss die Bundeswehr sich einstellen und dafür in jeder Hinsicht vorbereitet sein. Die Landes- und Bündnisverteidigung ist wieder zu ihrer Hauptaufgabe geworden. Für die Erfüllung dieses Kernauftrags benötigt die Bundeswehr einsatzbereite und vollausgestattete Verbände zu Lande, in der Luft und auf See, eine zuverlässige und bruchfreie logistische und sanitätsdienstliche Versorgung sowie Fähigkeiten zur Abschreckung und Verteidigung im Cyber- und Informationsraum. Mein Ziel ist daher die umgehende Wiederherstellung der vollen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr in allen Bereichen. Neben dem gemäß der militärischen Terminologie in konkrete Zielgrößen wie Fahrzeuge, Waffen und Großgerät gefassten Leistungsvermögen habe ich vor allem auch die Erhöhung des Einsatzwerts im Blick. Der Begriff Einsatzwert bezeichnet die Eignung einer Einheit bzw. eines Verbandes für einen konkreten Auftrag und schließt dabei explizit vermeintlich weiche Faktoren wie die Moral der Truppe und den Stand der Ausbildung mit ein. Militärhistorisch stellt sich zusätzlich die Frage nach der Renaissance des vom vormaligen Generalinspekteur General Ulrich de Maizière so prägnant formulierten Leitspruchs „Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen“.[5]
Deutschland hatte bereits nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland 2014 mit dem Weißbuch 2016 sowie mit der Konzeption der Bundeswehr von 2018 auf die sicherheitspolitischen Entwicklungen reagiert und damit begonnen, die Bundeswehr wieder auf den Kernauftrag der Landes- und Bündnisverteidigung auszurichten. Als Konsequenz daraus wurde die Bundeswehr seither zu einem wesentlichen Truppensteller für die schnelle Eingreiftruppe der NATO und Rahmennation für die enhanced Forward Presence in Litauen.
Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine hat die Rolle der Bundeswehr für den Schutz der NATO-Ostflanke weiter an Bedeutung gewonnen. Wir haben unsere Einsatzbereitschaft und unsere Verlässlichkeit als Bündnispartner durch Sofortmaßnahmen wie unter anderem die Verstärkung unserer Battlegroup in Litauen, die Unterstützung des Aufbaus der neuen Battlegroup in der Slowakei, Beiträge zum Air Policing und die Entsendung von Marineeinheiten in die Ostsee eindrucksvoll unter Beweis gestellt. In den kommenden Jahren werden sich die von Deutschland vorzuhaltenden Kräftebeiträge für die NATO in allen Dimensionen noch einmal deutlich ausweiten.
Die langjährige Fokussierung auf Auslandseinsätze mit mandatierten Einsatzkontingenten und einem geplanten Kontingentrhythmus tritt in den Hintergrund. Gleichwohl dürfen wir die Erfahrungen im Rahmen des internationalen Krisenmanagements nicht ausblenden. Denn die Soldatinnen und Soldaten haben in den vergangenen und andauernden Einsätzen auch gezeigt, was es bedeutet, im Gefecht zu bestehen. Die Fokussierung auf den Kernauftrag der Landes- und Bündnisverteidigung bedeutet für die gesamte Bundeswehr aber auch, dass es keine strikte Trennung zwischen Einsatzgebiet und Heimatland mehr geben kann. Es kann jederzeit losgehen.
Die erforderlichen Weichenstellungen bei der materiellen Ausstattung hat die Bundesregierung mit dem Sondervermögen vorgenommen. Das Ziel einer vollausgestatteten Bundeswehr wird allerdings noch Jahre in Anspruch nehmen und bedarf einer verlässlichen Finanzlinie in zukünftigen Verteidigungshaushalten. Die materielle Vollausstattung ist aber nur eine Facette der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Gerade inmitten der Zeitenwende ist es mir besonders wichtig, funktionale Strukturen zu schaffen und die personelle Einsatzbereitschaft zu stärken.
Neben einem robusten und demografiefesten Personalkörper rückt die Frage nach der mentalen Einsatzbereitschaft im Sinne der vom Bundespräsidenten geforderten Widerstandskraft in den Mittelpunkt. Übersetzt für die Bundeswehr geht es also um die Frage nach dem richtigen Mindset, um im Kernauftrag der Landes- und Bündnisverteidigung bestehen zu können.
Innere Führung und „Kalter Krieg“ - ein Rückblick
Können wir neben den Einsatzerfahrungen der vergangenen Jahre dabei auch aus dem Kalten Krieg und der Zeit des Eisernen Vorhangs in Europa Schlussfolgerungen für die Bundeswehr von heute ziehen? Aus meiner Sicht wäre es fahrlässig, bei der Bewertung des Kriegs in der Ukraine den Blick zurück in die Zeit der Konfrontation mit der damaligen Sowjetunion und dem Warschauer Pakt zu vernachlässigen. Allerdings sind dabei immer auch die spezifischen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, um Erkenntnisse von damals auf das Heute übertragen zu können.
Als ich 1978 in die Bundeswehr eintrat, war der Ernstfall eher das Manöver. Krieg war in Europa im Wesentlichen Gegenstand von Planspielen und nicht grausame Realität wie heute in der Ukraine. Deutschland war potenzieller Frontstaat zwischen den beiden Militärblöcken NATO und Warschauer Pakt. Die nukleare Komponente spielte bei allen Verteidigungsplanungen eine große Rolle und damit die Apokalypse der totalen Vernichtung aller Lebensgrundlagen. Die Bundeswehr bildete das hoch mechanisierte Kernstück der konventionellen Bündnisverteidigung in Mitteleuropa. Sie war aber letztlich weniger eine Einsatz- als eine Ausbildungsarmee, welche über die kontinuierliche Ausbildung von Grundwehrdienstleistenden und Reservisten die personelle Aufwuchsfähigkeit für den Spannungs- und Verteidigungsfall sicherstellte. Planen, Ausbilden und Üben für den Ernstfall bestimmten das Denken und Handeln in der Truppe. Der Leitspruch „Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen“ wurde zum Leitmotiv der Abschreckung und prägte das Mindset der Bundeswehr für Jahrzehnte.[6]
Damals schon war der „innere“ Zustand der Streitkräfte im Sinne der Frage nach dem „Dienen wofür“ und der Motivation für den Auftrag ein entscheidender Faktor für die Glaubwürdigkeit der Abschreckung. Denn die sich daraus ableitende „Moral der Truppe“ oder, in militärischer Terminologie, deren Bedeutung für den Einsatzwert für den Auftrag der Landes- und Bündnisverteidigung waren ein wesentlicher Qualitätsfaktor und zentrales Element einer wirkungsvollen Abschreckung. Dieser Erkenntnis lagen auch die Überlegungen der geistigen Köpfe der Inneren Führung als der Organisations- und Führungsphilosophie der Bundeswehr seit ihrer Aufstellung im Jahre 1955 zugrunde. Aus den Lehren der eigenen Geschichte schlussfolgerten insbesondere die ehemaligen Wehrmachtsoffiziere und späteren Bundeswehrgenerale Graf von Baudissin und Graf von Kielmansegg, dass die Bundeswehr als Armee in der Demokratie nur dann zu einem Instrument von „höchster Schlagkraft“ würde, wenn in ihr Recht und Freiheit erlebbar und das Handeln jedes Soldaten unabhängig vom Dienstgrad rechtlich und moralisch gebunden sei. Die Innere Führung – als „geistiges Rüstzeug und zeitgemäße Menschenführung“ – war Voraussetzung dieser Schlagkraft.[7]
Mit der Inneren Führung war also bereits im Kalten Krieg der konzeptionelle Rahmen für die Einbettung der Bundeswehr in die Gesellschaft, deren Bindung an die freiheitlich demokratische Grundordnung und das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform gesteckt. Jeder Soldat sollte diese Prinzipien im Dienst erleben – seine staatsbürgerlichen Rechte genauso wie seine Pflichten – und sich der Grenzen für das eigene Handeln und damit auch der Grenzen von Gehorsam bewusst sein. Mit der Inneren Führung war so seit den Anfängen der Bundeswehr nicht nur die enge Verbindung zwischen militärischer Schlagkraft, sprich: Einsatzwert, und unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung angelegt, sondern auch der moralische Kompass für jeden Soldaten an der im Grundgesetz vorgegebenen Rechtsordnung und dem daraus abgeleiteten Menschenbild ausgerichtet.
Dass trotz dieses klaren Bekenntnisses zur Inneren Führung das Konzept seit seinen Anfängen immer wieder teilweise heftiger Kritik ausgesetzt war, hing wesentlich mit der Frage zusammen, wie sich die Organisations- und Führungsphilosophie tatsächlich in der Praxis auswirkte. Die Kritiker bewerteten die Innere Führung als zu theoretisch und abstrakt. Die 1970er-Jahre stellten dann eine Phase der Entpolarisierung in der Diskussion über die Innere Führung dar. Im Jahresbericht des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages von 1979 heißt es daher, dass die Innere Führung von den Soldaten angenommen worden sei. Dieser Zustand hielt über die kommenden Jahre an. Trotz der gesellschaftlich kontrovers geführten Diskussionen um den NATO-Doppelbeschluss änderte sich dies auch nicht grundlegend.
Nach dem Ende des Kalten Krieges, der Wiedervereinigung Deutschlands und der daraus resultierenden Friedensdividende rückte für die Bundeswehr der Auftrag zur Landes- und Bündnisverteidigung zunehmend in den Hintergrund. Sie wurde personell immer kleiner und die bestimmenden Aufträge lagen fortan für mehr als zwei Jahrzehnte in den Auslandseinsätzen. Die Sicherheit Deutschlands, so der damalige Verteidigungsminister Struck, werde auch am Hindukusch verteidigt.[8] Dies war zweifelsohne keine einfache Antwort auf die Frage nach dem Sinn des soldatischen Dienstes nach 1990, sowohl für die Soldatinnen und Soldaten selbst als auch für die Gesellschaft. Für das neue Aufgabenspektrum der Auslandseinsätze im Rahmen des Internationalen Krisenmanagements, in dem die Soldatinnen und Soldaten vor allem in Afghanistan zunehmend auch in Kampfhandlungen verwickelt wurden, galt nunmehr das Leitmotiv „Kämpfen können, um zu bestehen“.[9] Dieses Verständnis der Auftragserfüllung und Bewährung im Einsatz unter realer Gefahr für das eigene Leben hatte sich auch nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland und der daraus resultierenden Rückbesinnung auf den Auftrag zur Landes- und Bündnisverteidigung nicht konsequent genug verändert – bis zum 24. Februar 2022.
Wertegebundene „Kampfmoral“
Mit diesem Datum verbindet sich der Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Es stellen sich hierbei zwangsläufig Fragen nach „Einsatz-Moral“ und Verantwortung sowie nach militärischer Führung auf Seiten der russischen Angreifer. Systemische Defizite in den russischen Streitkräften, etwa im Umgang mit Wehrpflichtigen, waren schon vor dem Krieg in der Ukraine bekannt. Ebenso konnte man das brutale Vorgehen russischer Einheiten und das Fehlen einer moralischen Sensorik für deren Handeln bereits in früheren Kriegen in Tschetschenien oder zuletzt in Syrien beobachten. Dass die ukrainischen Streitkräfte so erfolgreich und sogar offensiv gegen die russischen Invasoren kämpfen, hat zweifelsohne ebenfalls mit dem besagten Faktor „Kampfmoral“ zu tun. Während die russischen Soldaten in diesem verlustreichen Krieg offensichtlich nicht wirklich wissen, wofür sie kämpfen, ist bei den ukrainischen Soldaten die Verteidigung ihres Landes und ihrer existenziellen Lebensgrundlagen Hauptmotivation für ihren tapfer geführten Kampf. Hinzu kommt noch, dass auf russischer Seite Misstrauen auf allen Ebenen vorzuherrschen scheint.[10] Welche Bedeutung die Moral von Streitkräften für Erfolg oder Misserfolg auf dem Gefechtsfeld hat, zeigt uns dieser Krieg daher ebenso unmissverständlich.
Wohin zudem militärisches Handeln führen kann, wenn wertegebundene Führung fehlt und Misstrauen vorherrscht, zeigen uns die Berichte über Kriegsverbrechen russischer Soldaten in der Ukraine, die den Vorstellungen unseres Leitbildes vom Staatsbürger in Uniform diametral entgegenstehen.
Für die Bundeswehr macht dieser Krieg auch im Rückblick auf die eigenen Erfahrungen aus dem Kalten Krieg und den Auslandseinsätzen daher zwei wesentliche Aspekte mit Blick auf Organisation und Personal deutlich. Erstens haben das Konzept der Inneren Führung und der auf unsere freiheitlich demokratische Grundordnung ausgerichtete moralische Kompass unverändert Gültigkeit. Zweitens hat uns der Krieg in der Ukraine bestätigt, dass wir gut beraten sind, in die „geistige Rüstung“ unserer Soldatinnen und Soldaten zu investieren. Daraus ergeben sich die Rahmenbedingungen, in denen die Bundeswehr in den kommenden Jahren konsequent auf das „Mindset Landes- und Bündnisverteidigung“ ausgerichtet werden muss mit dem erklärten Ziel, die Einsatzbereitschaft insgesamt durch einen wesentlichen Beitrag zur Erhöhung des Einsatzwertes der Truppe zu stärken.
Zur Erhöhung des Einsatzwertes ist es erforderlich, dass sich die Bundeswehr mit ihrer vom Kalten Krieg bis heute insgesamt bewährten Organisations- und Führungsphilosophie zum einen stärker an den aktuellen gesellschaftlichen und sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen ausrichtet. Zum anderen erfordert dies gleichzeitig auch eine Rückbesinnung auf den Kern der Zielsetzung der Inneren Führung – die militärisch höchste Schlagkraft wertegebundener Streitkräfte. Meine Vorgabe für diese Weiterentwicklung der Inneren Führung ist daher das Festhalten an und gleichzeitig die Neujustierung von Bewährtem. Nur so werden die Bundeswehr und ihre Soldatinnen und Soldaten in ihrem Selbstverständnis nicht nur resilienter gegen bereits existente hybride Bedrohungen wie Desinformation oder andere Formen der Machtprojektion sein. Sie werden auch nur dann in der Lage sein, kaltstartfähig und robust militärischen Bedrohungen im Rahmen der Landes- und Bündnisverteidigung erfolgreich zu begegnen.
Hierzu bedarf es auch einer Rückbesinnung auf die eigene militärische Tradition. Diese ist als bewusste Auseinandersetzung mit der Vergangenheit fester Bestandteil des werteorientierten Selbstverständnisses der Bundeswehr. Zur eigenen Tradition zählt insbesondere, dass sich die Bundeswehr im Kalten Krieg als Abschreckungsarmee bewährt und ihren Beitrag im NATO-Bündnis zum Fall des Eisernen Vorhangs geleistet hat. Aber auch die Auftragserfüllung im Internationalen Krisenmanagement – einschließlich der Kampferfahrungen und des Gedenkens an die Gefallenen – gehört zum Selbstbild und zur Tradition der Bundeswehr.
Weiterentwicklung der Inneren Führung
Anknüpfend an die kritischen Stimmen zur Inneren Führung während des Kalten Krieges kommt deren Praxistauglichkeit auch unter den heutigen Rahmenbedingungen zentrale Bedeutung zu. Das heißt, dass Innere Führung nicht abstrakt sein darf, sondern verständlich und praxisnah den Sinn und die Bedingungen des militärischen Dienstes erklären und erlebbar machen muss. In der Vermittlung und Anwendung dürfen Aspekte wie Führen mit Auftrag nicht durch Mikromanagement, Misstrauen und mangelnde Fehlertoleranz konterkariert werden. Gleiches gilt für Aufrichtigkeit und konstruktive Kritik als Teil des Selbstverständnisses vom mündigen Staatsbürger in Uniform.
Diese Weiterentwicklung und zugleich Rückbesinnung setzt vor allem eine gute Führung durch militärische Vorgesetzte voraus, die durch persönliches Vorbild überzeugen, Vertrauen schaffen, die Übernahme von Verantwortung einfordern und zugleich Entscheidungsfreude und Risikobereitschaft – oder anders ausgedrückt „Agilität“ – zeigen.
Das sind zwar keine neuen Kriterien für gutes Führen, aber ihre Gewichtung ist wieder zentral. Militärische Vorgesetzte müssen heute wieder die ihnen unterstellten Soldatinnen und Soldaten auf die Realitäten eines großen militärischen Konfliktes mit einem Gegner wie Russland vorbereiten. Die erforderliche Bereitschaft, sich in Situationen zu begeben, wie wir sie durch den Krieg in der Ukraine vor Augen geführt bekommen, beinhaltet vor dem Hintergrund der vermeintlichen Sicherheit vor existenziellen Gefahren im Alltag unserer Gesellschaft eine bewusste Auseinandersetzung mit persönlichen Härten. Die Befähigung zum Kampf im hoch intensiven Gefecht und die Bereitschaft zur Inkaufnahme von Härten und Entbehrungen rücken als Forderung an alle Soldatinnen und Soldaten in den Vordergrund. Der Begriff des Dienens erhält damit ein klares „Preisschild“.
Alle militärischen Vorgesetzten sind deshalb gefordert, auf diese spezifischen Anforderungen des soldatischen Dienstes einzugehen und Disziplin sowie Auftragserfüllung auch bei Kampfhandlungen, wie wir sie in der Ukraine sehen, sicherzustellen. Der soldatischen Erziehung kommt daher neben dem Führen und Ausbilden eine umso wichtigere Bedeutung zu. Die in Baudissins Worten „geistige Rüstung“ des Soldaten ist mit der Inneren Führung zwar richtungsweisend vorgezeichnet, sie bedarf aber der konkreten und vor allem kontinuierlichen Ausgestaltung und praxistauglichen Umsetzung. Das ist ein ständiger Auftrag an alle militärischen Vorgesetzten.
Mit Blick auf unseren Anspruch an den Staatsbürger in Uniform sowie das „Mindset Landes- und Bündnisverteidigung“ gilt es, die Handlungssicherheit aller Bundeswehrangehörigen unter den gegebenen Rahmenbedingungen zu erhöhen. Dazu ist ein Verständnis von Persönlichkeitsbildung als einem lebenslang andauernden Lern- und Qualifizierungsprozess in allen Ausbildungsvorhaben so umzusetzen, dass eine gewissensgeleitete Entscheidungskompetenz gefördert wird. Diese Art umfassender Bildung, die mit einem gestärkten ethischen Bezug über das bisherige Verständnis von Politischer Bildung in der Bundeswehr deutlich hinausreicht, ist nicht nur Gegenmittel gegen gravierendes und oft menschenverachtendes Fehlverhalten, wie wir es im Ukraine-Krieg vor allem auf russischer Seite immer wieder beobachten müssen. Vielmehr hat dieser umfassendere Bildungsansatz auch eine Schutzwirkung vor Überlastung und Überforderung in Ausnahmesituationen. Persönlichkeitsbildung schafft somit mehr Handlungssicherheit.
In diesem Zusammenhang gewinnen zudem die sanitätsdienstliche und militärseelsorgerische Betreuung der Soldatinnen und Soldaten in Einsatzszenaren weiter an Bedeutung. Gleiches gilt für die Betreuung von Familienangehörigen und Kindern in der neuen Übungs- und Einsatzrealität. Kurze Vorwarn- und Verlegezeiten stellen uns in der Fläche vor neue Herausforderungen bezüglich der Vereinbarkeit von Familie und Dienst und der Fürsorgeverpflichtung des Dienstherrn. Die bisherigen Betreuungskonzepte, zum Beispiel für Kinderbetreuung und die Pflege von Angehörigen, sowie die Familienbetreuungsorganisation stammen großteils aus Zeiten des Internationalen Krisenmanagements und müssen daher flexibler und skalierbarer ausgerichtet werden. Das „Mindset Landes- und Bündnisverteidigung“ muss auch hier von allen Beteiligten gelebt und verinnerlicht werden.
Schließlich kommt dem Faktor Kohäsion in allen diesen Überlegungen eine gewichtige Rolle zu – und das nicht nur im Hinblick auf die Strukturen in der Bundeswehr. Es ist keine neue Erkenntnis aus dem Ukraine-Krieg, dass der Zusammenhalt in der „kleinen Kampfgemeinschaft“ entscheidend für den Einsatzwert von Streitkräften ist. Ein derartiger Zusammenhalt und die Bewährung in Extremsituationen setzt gegenseitiges Vertrauen voraus. Insofern ist das Erleben des erfolgreichen Bestehens belastender Situationen ein entscheidender Faktor für Kohäsion in der Truppe. Aber nicht nur horizontale Kohäsion in der „kleinen Kampfgemeinschaft“ ist wichtig. Genauso bedeutend ist die vertikale Kohäsion über die Hierarchieebenen hinweg. Führen mit Auftrag kann nur auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens von Vorgesetzten und Untergebenen gelingen. Das gilt für die Einheits- und Verbandsebene genauso wie für die Organisationsbereiche und das Bundesministerium der Verteidigung.
Mit Blick zurück auf den Kalten Krieg war das erfolgreiche Bestehen auf dem Gefechtsfeld das Ziel „kriegsnaher Ausbildung“, die sich vorrangig an den Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg orientierte.[11] Heute ist die Ausbildung und Erziehung in der Bundeswehr realitätsnah dahingehend auszurichten, dass ein Szenario wie der Ukraine-Krieg mit all seinen Facetten erfolgreich bewältigt werden kann. Das wird sich in den kommenden Jahren in Ausbildung und Übungen im nationalen wie multinationalen Rahmen widerspiegeln müssen. Gleichzeitig ist damit aber nicht eine vollständige Abkehr von den bisherigen Auslandeinsätzen der Bundeswehr, die parallel weiter andauern, zu verstehen.
Das „Wollen“ als zentrales Element für glaubwürdige Abschreckung
Die Kohäsion zwischen der Gesellschaft und der Bundeswehr ist ein ebenso wichtiger Faktor in der Frage ihres Einsatzwertes. Anders als im Kalten Krieg existieren heute nicht mehr die gesellschaftlichen Bande der Wehrpflicht. Allerdings sind seit dem Ukraine-Krieg die Zustimmungswerte für die Bundeswehr stark gestiegen. Die allgemeine Bereitschaft zur Bündnissolidarität und auch zu Investitionen in eine einsatzbereite Bundeswehr ist derzeit auf einem neuen Höchststand angelangt.[12]
Diese große Zustimmung ist zweifelsohne wichtig für die Soldatinnen und Soldaten, um von ihrem Auftrag zur Verteidigung des Rechts und der Freiheit Deutschlands überzeugt zu sein und dafür die Härten des soldatischen Dienstes zu tragen. Insofern teile ich die Einschätzung von Bundespräsident Steinmeier ausdrücklich, dass unsere „Gesellschaft eine starke Bundeswehr braucht – aber die Bundeswehr auch eine Gesellschaft braucht, die ihr den Rücken stärkt“[13]. Dieses Verständnis von Wehrhaftigkeit in unserer Gesellschaft muss meiner Meinung nach angesichts der bewussten Verletzung der internationalen Rechtsordnung durch Russland nicht zwingend eine neue Spirale der Eskalation des Militärischen zur Folge haben. Glaubwürdige Abschreckung einer einsatzbereiten Bundeswehr im Verständnis des „Kämpfen-Könnens und -Wollens, um nicht kämpfen zu müssen“ steht dem ausdrücklich nicht entgegen.
Damit beantworte ich auch die Eingangsfrage, ob das Motto des Kalten Krieges heute noch Bestand hat: Ja! Es hat dann Bestand, wenn wir neben dem „Kämpfen können“ auch den soldatischen Willen und die gesellschaftliche Bereitschaft zur Verteidigung unserer Werte und unserer Sicherheit fassen. Dass dies gelingt, hängt auch davon ab, dass wir unseren Prinzipien und unserer moralischen Bindung an unsere freiheitlich demokratische Grundordnung und Internationales Recht treu bleiben. Die Innere Führung war und ist dafür das richtige Konzept. Sie in die Praxis umzusetzen und zu leben, ist und bleibt Aufgabe für alle Angehörigen der Bundeswehr.
[4] Vgl. Steinmeier, Frank-Walter (2022), s. Endnote 2.
[5] Vgl. u. a. Löser, Jochen und von Horn, Alphart (1990): Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen. Menschenführung zwischen Frust und Lust. München, S. 16.
[6] Vgl. u. a. Löser, Jochen und von Horn, Alphart (1990), s. Endnote 5, S. 16.
[7] Vgl. Handbuch Innere Führung: Hilfen zur Klärung der Begriffe / hrsg. vom Bundesministerium für Verteidigung, Führungsstab der Bundeswehr-B. - Bonn, 1957, S. 169.
[9] Zorn, Eberhard (2021):Wofür braucht Deutschland Soldaten? Wofür töten, wofür sterben?. In: Maurer, Jochen und Rink, Martin (Hg.): Einsatz ohne Krieg? Die Bundeswehr nach 1990 zwischen politischem Auftrag und militärischer Wirklichkeit. Militärgeschichte, Sozialwissenschaften, Zeitzeugen. Göttingen, S. 406.
Eberhard Zorn ist Generalinspekteur der Bundeswehr. Er trat im Jahr 1978 an der Artillerieschule Idar-Oberstein in die Bundeswehr ein und studierte Wirtschafts- und Organisationswissenschaften an der Hochschule der Bundeswehr in Hamburg. Vor seiner Ernennung zum Generalinspekteur war er unter anderem Leiter der Abteilung Personal (2017 bis 2018) und Leiter der Abteilung Führung Streitkräfte (2015 bis 2017) im Bundesministerium der Verteidigung sowie Kommandeur der Division Schnelle Kräfte (2014 bis 2015) in Stadtallendorf.