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"Russland spielt mit hohem Einsatz"

Worum geht es in dem Krieg in der Ukraine: um Russlands Sicherheit oder um die Wiederherstellung einer „ewigen russischen Zivilisation“? Wie ideologisch aufgeladen ist dieser militärische Konflikt, wie verhärtet sind die Fronten? Die Redaktion von „Ethik und Militär“ hat die ukrainische Politikwissenschaftlerin und Osteuropa-Expertin Dr. Tatiana Zhurzhenko um Einschätzungen gebeten. Im Interview erklärt sie zentrale geschichtspolitische Konzepte und weltanschauliche Hintergründe.

Frau Dr. Zhurzhenko, die Begründungen für den russischen Angriffskrieg sind erstaunlich vielfältig: Er wird mal ethnisch (Schutz der russischsprachigen Bevölkerung in der Ostukraine), mal historisch (Einheit der Ukrainer und Russen), mal moralisch (Nazi-Regime in der Ukraine), mal sicherheitspolitisch (Einkreisung durch die NATO) legitimiert. Was steckt dahinter?

Zum einen bietet die auf den ersten Blick heterogene Vielfalt der Begründungen einige Vorteile: Je nach Situation und Kontext kann der Kreml auf jeweils passende Motive zurückgreifen und so verschiedene Adressaten, im Land selbst oder international, ansprechen sowie flexibel auf neue Entwicklungen reagieren.

Zum anderen kann man diese Begründungen als Elemente eines Narrativs verstehen. Danach ist Russland mehr als ein Staat, es ist eine Zivilisation, die staatliche Grenzen überschreitet. Diese Zivilisation ist ewig, sie kämpft von jeher gegen ihre Feinde und ersteht ständig neu. In seiner Rede auf der diesjährigen Konferenz des Waldai-Clubs beschwor Putin eine „Symphonie von menschlichen Zivilisationen“, die auf Gesellschaften mit traditionellen Werten baut. Diese Vision ist gegen den Westen gerichtet, der der Welt angeblich eine unipolare Ordnung aufzwingen will. Gegen diesen Hegemonialanspruch wehrt sich Russland und versteht sich als Fürsprecher der nicht-westlichen Welt.

Und die Ukraine wird dabei als Teil dieser Welt gesehen?

Sie ist Schauplatz des Kampfs gegen den Westen. Sie spielt in dem Narrativ eine wichtige Rolle, insofern sie – nach diesem Narrativ – immer ein Teil des ewigen Russlands war und jetzt vom Westen gekapert wurde. Als die Sowjetunion im Kalten Krieg auseinanderbrach, wurde das russische Volk durch neue, aus russischer Sicht künstliche Grenzen geteilt. Nach dieser Logik verpflichtet dies Russland, jene Russen und Russischsprachigen, die jenseits der neuen Grenzen leben, zu schützen. (Dieses Argument gebrauchte Putin schon bei der Annexion der Krim.) Die Ukrainer seien in Wahrheit Russen, und wer von ihnen auf einer separaten ukrainischen Identität insistiert, ist ein Nationalist oder ein Nazi, den man bekämpfen muss, um das ukrainische Volk in das R(?)ussische Reich heimzuholen. Diese Rhetorik korrespondiert mit der Schlüsselrolle des Großen Vaterländischen Kriegs und des Siegs über Nazideutschland.

Was die angebliche Einkreisung durch die NATO betrifft, die zu dem erwähnten Bedrohungsszenario gehört, so zeigt die schwache Reaktion auf den Beitrittsprozess von Finnland und Schweden, dass es Russland bei dem neutralen Status der Ukraine weniger um Sicherheit geht als um die symbolische Grenze der russischen Zivilisation.

Diese Begründungen knüpfen an verschiedene Vorstellungen von Russland bzw. seiner Rolle in der Welt an. Können Sie die wichtigsten wie zum Beispiel russkij mir und Novorossija kurz erklären?

Diese Begriffe überschneiden sich und werden zum Teil als Synonyme gebraucht, haben aber verschiedene Ursprünge und Konnotationen.

Russkij mir ist ein vieldeutiges Konzept, das geopolitische, kulturelle und religiöse Aspekte hat und von verschiedenen politischen Akteuren benutzt wird. Es kam in den frühen 1990er-Jahren in Umlauf und bezeichnete die transnationale Gemeinschaft von Trägern der russischen Kultur und Sprache. Zu der alten russischen Emigration kam nach dem Zerfall der Sowjetunion die neue russischsprachige Diaspora in den postsowjetischen Ländern hinzu. Bis heute sieht sich Moskau als ihre Schutzmacht. Darüber hinaus fungiert die Förderung der russischen Kultur im Ausland als Instrument der russischen Soft Power.

Mit der Entwicklung des russischen Regimes zum Autoritarismus wurde das Konzept des russkij mir zunehmend konservativer und entwickelte sich zu einer Alternative zur westlichen Zivilisation. Damit verschob es sich vom rein Kulturellen zum Geopolitischen. Mit Russlands Krieg gegen die Ukraine schließlich wurde russkij mir fast zu einem Synonym für Moskaus neoimperiale territoriale Ansprüche.

Der BegriffNovorossija hat historische Ursprünge und war der übergreifende Name für die Territorien der nördlichen Schwarzmeerküste vom heutigen Odessa bis Dnipro, die das russische Imperium in mehreren Kriegen gegen die Osmanen erobert und kolonisiert hatte. Diese Territorien wurden von verschiedenen Völkern neu besiedelt, vor allem von ethnischen Ukrainern. Nach dem Zerfall des russischen Imperiums wurden sie Teil der Ukrainischen Sowjetrepublik. Im Frühling 2014 hat man in Russland das Konzept wieder ausgegraben, noch in der Hoffnung, dass die Proteste gegen Kyiv und die prorussische Mobilisierung zu einer Spaltung der Ukraine führen würden.

Daneben existieren auch mehr oder weniger religiös aufgeladene Konzepte wie der Neo-Eurasianismus oder die „Heilige Rus“ …

Der Begriff „Neo-Eurasianismus“ geht zurück auf eine Gruppe von Intellektuellen der russischen Emigration der 1920/30er-Jahre. Für sie war Russland mehr als nur ein europäisches Land – sie verstanden es als Eurasien, das heißt als eine eigenständige Zivilisation, die Elemente des Westens mit solchen des Ostens vereint.

In den 1990er-Jahren wurde der eurasische Diskurs in mehreren postsowjetischen Ländern wiederentdeckt, die ihren Platz zwischen Ost und West suchten, wie zum Beispiel in Kasachstan. In Russland entwickelte vor allem Alexander Dugin eine besonders aggressive Form. Für ihn geht es weniger um das Zusammenleben europäischer und asiatischer Kulturen als um einen Kampf, den Russland-Eurasien gegen den „Atlantizismus“ führt (darunter versteht er vor allem die USA und ihre Alliierten in Europa). Viele Experten sehen in Dugins Neo-Eurasianismus eine rechtsradikale Ideologie, die ein totalitäres, von Russland dominiertes eurasisches Imperium als Alternative zum westlichen Liberalismus imaginiert.

Das Konzept der „Heiligen Rus“ wiederum wurzelt tief in der russischen Geschichte. Es kommt aus einer Tradition russischen religiösen Denkens, die Moskau als Drittes Rom verstand, also als Nachfolger von Byzanz und als Zentrum der orthodoxen Welt. Aus dieser Perspektive geht die 1000-jährige Geschichte der russischen Orthodoxie zurück bis auf das frühmittelalterliche Königreich der Kiewer Rus, das als Wiege der russischen Zivilisation verstanden wird. Die Tatsache, dass Kyiv jetzt die Hauptstadt der Ukraine ist, die ebenfalls das Erbe der Kiewer Rus beansprucht, ist eine Herausforderung für die russisch-orthodoxe Kirche. Daher beklagt Patriarch Kyrill die Spaltung der Heiligen Rus durch die Gegner Moskaus.

Die russisch-orthodoxe Kirche spielt ohnehin eine wichtige Rolle in der Legitimation des Krieges?

Die russisch-orthodoxe Kirche in Gestalt von Patriarch Kyrill hat sich von Putins „Spezialoperation“ nicht distanziert, unterstützt sie vielmehr voll. Zwar bedauert Kyrill das Blutvergießen in der Ukraine, segnete aber das russische Militär vor dem Einsatz. Das bringt die ukrainische orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats, die in der Ukraine gerne als fünfte Kolonne Russlands betrachtet wird, in eine schwierige Situation. Aus der Perspektive der russisch-orthodoxen Kirche gehören, wie eben schon gesagt, die Ukraine und Belarus untrennbar zur Heiligen Rus. Insofern spielt dieser Diskurs Putin in die Hände.

Obwohl die russisch-orthodoxe Kirche ein wichtiger Verbündeter von Putins Regime ist und zur konservativen Wende beigetragen hat, macht das Russland noch nicht zu einer orthodoxen Theokratie. Es ist wahr, dass Putin sich gern beim Gebet in der Kirche zeigt und dass von regimetreuen Unternehmern Spenden für neue Kirchen und Heiligenstatuen erwartet werden. Man darf aber nicht die sowjetische Sozialisation und KGB-Herkunft Putins und seiner Leute vergessen. Ihre Religiosität ist nicht genuin; sie sehen sich als die neue Elite des russischen Imperiums, und der orthodoxe Glaube gehört einfach dazu. Die russische Gesellschaft ist im Grunde säkular geblieben, und die Kirche mischt sich nicht in das Privatleben ein.

Sie haben auf das antiwestliche Moment hingewiesen. Man inszeniert sich als Bewahrer traditioneller Werte und Institutionen, etwa der klassischen Familie; westliche Staaten werden demgegenüber auch mal als dekadentes und libertäres „Gayropa“ karikiert. Woher stammt diese Sichtweise?

Dieses Denken ist Resultat der konservativen Wende, deren Beginn man mit dem Auftritt von Pussy Riot 2012 in der Christ-Erlöser-Kathedrale datieren kann. Das darauffolgende Gerichtsverfahren hat einen Kulturkrieg entfacht und die russische Gesellschaft tief gespalten. 2013 trat das Gesetz zum Verbot von „LGBT-Propaganda“ gegenüber Minderjährigen in Kraft. Gerade wird ein neues Gesetz in der Duma diskutiert, das eine neue Verschärfung darstellt und nun die „Förderung nicht traditioneller sexueller Orientierungen“ bei Erwachsenen und die „Leugnung familiärer Werte“ unter Strafe stellen soll.

Woher kommt dieser Konservatismus? Er ist ein nützliches Instrument, um die russische Gesellschaft in Konservative und Liberale zu spalten und sie so zu schwächen. Zudem kann man auf diese Weise die liberale Opposition mit der LGBT-Frage kurzschließen und marginalisieren. Gleichzeitig hilft diese Politik, den Westen in den Augen der russischen Bevölkerung zu dämonisieren und sie von ihm zu entfremden.

Wie sehr glauben die russischen Eliten, letztlich Präsident Putin selbst, ihren Narrativen? Ist das alles nur zynische Propaganda, um die eigene Macht zu sichern?

Vielleicht sind nicht alle in Russland davon überzeugt, dass LGBT eine Gefahr für die Nation ist (obwohl es sicher viele Homophobe gibt). Viele hatten, zumindest bis vor Kurzem, Immobilien im Westen und schickten ihre Kinder auf westliche Schulen. Von daher teilen sie wohl kaum das für das Volk produzierte Bild vom Westen als Feind, und sie dürften kaum glücklich sein über den Krieg, der sie von Europa abgeschnitten hat. Aber was zum Beispiel die Ukraine betrifft, so glaube ich gerne, dass die meisten in Putins Elite und er selbst davon überzeugt sind, dass sie keine Nation, sondern ein künstliches Gebilde ist und kein Recht auf nationale Souveränität hat.

Sie sprechen ja auch von einer Quasi-Ideologie aus verschiedenen weltlichen und religiösen Elementen. Wo sehen Sie den Gegensatz zu einer echten, kohärenten Ideologie?

Die heutige russische Ideologie kann man nicht mit der sowjetischen vergleichen. Letztere war echt, insofern sie den Anspruch hatte, eine Alternative zum kapitalistischen Westen zu sein, und ein Versprechen auf eine bessere Zukunft war – das machte sie einst attraktiv. Sie stützte sich auf Parteischriften und kanonische Autoren – Marx, Engels, Lenin – und war als Dogma festgeschrieben. Die heutige Ideologie hingegen dient nur noch der Legitimation des Regimes. Sie ist flüssig, „postmodern“, eklektizistisch – es scheint, niemand legt mehr Wert auf Kohärenz oder stößt sich an inneren Widersprüchen.

Wie ist es zu erklären, dass all diese Versatzstücke, die ja an Ideen aus der vorsowjetischen Zeit anknüpfen, die Sowjetunion überdauert haben? War die Sowjetunion für die Russen auch nichts anderes als ein russisch dominiertes Imperium 2.0?

Nach der Oktoberrevolution hatte man die imperiale Tradition radikal entsorgt, auch weil man internationalistisch dachte und an die baldige Weltrevolution glaubte. Der Kern der kommunistischen Ideologie war, dass man eine neue Kultur der Arbeiterklasse schafft, dass Frauen gleichgestellt werden und die Völker eine Recht auf Selbstbestimmung und nationale Entwicklung haben. Die föderale Struktur der Sowjetunion war eine Antwort auf die Herausforderung, wie man die Vielfalt der ethnischen Gruppen auf nicht-imperiale Weise behandelt und diese sogar affirmativ stärkt.

Doch schon Ende der 1930er-Jahre, als das sowjetische Regime sich für den Krieg rüstete, hat man bestimmte symbolische Figuren und Narrative aus der Geschichte zurückgeholt, wie etwa Alexander Newski[1]. Noch stärker wurde diese Tendenz dann im Laufe des Krieges, als die russisch-orthodoxe Kirche teilweise rehabilitiert wurde. In der Nachkriegszeit blieb der sowjetische Internationalismus eine heilige Kuh, aber der russischen Sprache und Kultur wurde ein immer größeres Gewicht gegeben. Außerdem wurde die russische imperiale Geschichte in der späten Sowjetzeit popularisiert und die russische Emigration rehabilitiert und positiv dargestellt.

Und schließlich beseitigte der Zusammenbruch der Sowjetunion und das Verschwinden der kommunistischen Ideologie die letzten Hindernisse für eine Renaissance der Ideen aus der vorsowjetischen Zeit.

Andererseits hat Präsident Putin hat den Zusammenbruch der Sowjetunion bekanntermaßen „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ genannt. Trifft er damit einen Nerv?

Der Zusammenbruch der Sowjetunion passierte nicht über Nacht, er war das Ergebnis einer Dauerkrise. Die letzten Jahre waren für die Menschen durch wirtschaftliche Probleme und Alltagssorgen geprägt. In vielen Republiken, aber auch in Russland selbst, war die Auflösung ein emanzipatorischer Moment. Jelzin verkörperte die demokratische Alternative, einen Neuanfang für Russland. Die damit verbundenen Hoffnungen sind dann schnell zerstoben angesichts der wirtschaftlichen Rezession und der Arbeitslosigkeit infolge der Privatisierung in den 1990er-Jahren, des Tschetschenienkriegs und der Herausbildung des oligarchischen Systems, das die junge Demokratie erwürgte.

Diese Kette von Krisen und Niederlagen (und die damit verbundenen negativen Erfahrungen) hat Putin auf den Zusammenbruch der Sowjetunion projiziert. Als dann in den frühen 2000er-Jahren Wirtschaft und Wohlstand stiegen, hat er das als sein Verdienst reklamiert. Paradoxerweise entwickelten die Menschen, sobald es ihnen besser ging, eine Nostalgie für die Sowjetunion. Gerne vergaß man die Not und die Absurditäten des Systems und sehnte den Respekt zurück, den die Sowjetunion als Großmacht genoss.

Es scheint, in der letzten Zeit sind die nach dem Ende der Sowjetunion neu gezogenen Grenzen zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken, welche die Menschen damals im Alltag kaum bemerkt hatten, weil sie andere Sorgen plagten, für das neue russische Bewusstsein zu eng geworden.

 

Warum spielen solche Reminiszenzen an „einstige Größe“ eine solche Rolle, warum halten sie sich so lange? Schließlich haben die Menschen nichts davon, könnte man sagen.

Besonders im Falle Russlands lässt sich in der Tat fragen, ob das Land nicht schon groß genug ist. Vor 2014 haben Millionen Russen Urlaub auf der Krim gemacht, sie brauchten dafür kein Visum und konnten sich überall in ihrer Sprache verständigen. Kaum jemand hat die Krim als Teil Russlands vermisst. Wozu also die Krim annektieren?

Diese Entscheidung hat Putin in engem Kreis oder sogar alleine getroffen. Es ist aber nicht zu leugnen, dass sie in der Bevölkerung breite Unterstützung und sogar Begeisterung fand. Die Propaganda hatte den Boden dafür bereitet mit dem Argument, dass die auf der Krim lebenden Russen vor dem angeblichen faschistischen Putsch in Kyiv gerettet werden müssen und dass dieses Stück Land, das in der imperialen Geschichte Russlands eine so große Rolle spielte, endlich heimgeholt wird. Vor allem, dass die Krim so leicht in die Hände Russlands fiel, ohne Krieg und Blutvergießen, hat die Menschen begeistert und zur Popularität Putins beigetragen. Wie wir heute wissen, war die Annexion der Krim keine Ausnahme, sondern ein Präzedenzfall, der zu der Überzeugung führte, Russland habe das Recht, seine Grenzen nach Gutdünken neu zu ziehen. Die Annexion der neu okkupierten Gebiete traf allerdings auf weniger Begeisterung, weil die Kosten für das Land ungleich höher sind und der Krieg zu Hause angekommen ist. Ob dieser Schock zur Heilung des imperialen Komplexes beitragen wird oder das Ressentiment noch verstärkt, wird erst die Zukunft zeigen.

Mitverantwortlich für die Politik der territorialen Expansion ist die russische intellektuelle und kulturelle Elite, die sich kaum kritisch mit der imperialen Vergangenheit auseinandergesetzt hat. Ganz im Gegenteil haben viele Kulturschaffende zu ihrer Glorifizierung beigetragen.

Steht damit auch das Verbot von Organisationen wie Memorial in Zusammenhang, die die Erinnerung an stalinistische Verbrechen wachhielt?

Ja. Memorial war die wichtigste Institution zur Aufarbeitung der Vergangenheit und hat einen großen Beitrag zur Aufklärung der breiten Bevölkerung geleistet. Sie hat die Arbeit gemacht, die der russische Staat versäumt hat. Das Trauma der stalinistischen Vergangenheit betrifft die meisten Familien in Russland. Dass es in der Gesellschaft eine große Nachfrage nach Aufklärung gibt, beweist die Gulag-Dokumentation des populären russischen Bloggers Juri Dud von 2019[2], die 27 Millionen Mal aufgerufen wurde. Dud hat eine Sprache gefunden, die das Thema auch für junge Leute zugänglich macht.

Hat man im Westen die Bedeutung und Langlebigkeit der geschilderten Befindlichkeiten und daraus resultierender Ansprüche unterschätzt? Hätte man mehr darauf eingehen müssen?

Meiner Ansicht nach war Russland auf vielen Ebenen – politisch, wirtschaftlich et cetera – international integriert und gut repräsentiert. 30 Jahr lang hat man daran gearbeitet, dass Russland ein integraler Teil von Europa und der internationalen Sicherheitsarchitektur wird. Selbst nach der Annexion der Krim haben viele in Europa versucht, mit Russland weiterzuarbeiten – man denke an Nord Stream 2. Natürlich kann man immer behaupten, dass bestimmte russische Interessen nicht berücksichtigt wurden. Aber rechtfertigt das einen Krieg?

Durch das Verhalten Russlands wird die in 30 Jahren aufgebaute Vertrauensbasis nun zerstört. Was also, fragt man sich, hat es von diesem Krieg und von seiner Feindseligkeit gegen den Westen?

Welche Erkenntnisse lassen sich aus alldem für die Ukraine gewinnen, die sich jetzt gegen den russischen Angriff verteidigt, und für die Staaten, die sie unterstützen?

Aus Sicht der Ukraine geht es in diesem Krieg nicht nur um ihre Souveränität und territoriale Integrität, um ihre Existenz als Nation, vielmehr geht es auch um den Kampf der Demokratie gegen den Autoritarismus. Es ist die Demokratie – wie unvollkommen sie auch sein mag –, welche die Ukraine von den meisten anderen postsowjetischen Ländern unterscheidet. Die acht Monate dieses Krieges haben den Wert der Demokratie bewiesen: dass sie auch unter schwierigsten Bedingungen funktioniert und das Land widerstandsfähiger gemacht hat. Was wir beobachten können, ist Vertrauen in die gewählten Volksvertreter, ist eine aktive Zivilgesellschaft, die nicht nur die Armee unterstützt, sondern in vielen anderen Bereichen erfolgreich arbeitet. Dass der ukrainische Staat und die ukrainische Gesellschaft jetzt viel mehr Resilienz als 2014 zeigen, ist auch die Frucht der Reformen der letzten Jahre, vor allem der Dezentralisierungsreform. Von daher ist es aus Sicht der Ukraine nur selbstverständlich, dass man Unterstützung aus dem Westen erwartet, denn man teilt dieselben Werte. Das ist umso wichtiger, als derzeit auf der anderen Seite die autoritären Regime Koalitionen bilden – Russland mit Belarus und kürzlich mit dem Iran … Die ambivalente Position von China gehört auch dazu.

Und wie bewerten Sie die Kompromissfähigkeit Russlands?

Dieser Krieg scheint tatsächlich durch Russlands neoimperiale Ideologie motiviert. Rationalität gibt es auf russischer Seite kaum. Russland wird nicht nur wirtschaftlich durch Sanktionen geschwächt, sondern isoliert sich international. Darüber hinaus werden die Reste der unabhängigen Zivilgesellschaft, Medien und kulturellen Institutionen zerstört. Es gibt einen dramatischen Braindrain. All das wirft Russland Jahrzehnte zurück. Es ist ein Spiel mit hohem Einsatz: Russlands Wette ist, dass der Westen irgendwann aufgibt und es eine neue Weltordnung errichten kann. Für dieses Ziel opfert es alles.

Zwar beteuert Russland ständig seine Kompromissbereitschaft, will aber den Status der neulich annektierten Gebiete nicht zur Diskussion stellen. Verhandlungen unter dieser Bedingung wäre für die Ukraine eine Kapitulation, zu der niemand bereit ist. Selbst wenn beide Seiten sich auf einen Waffenstillstand einigen würden, kann er nicht von Dauer sein. Eine Situation, in der zum Beispiel Cherson ein Teil Russlands wird, Mykolajiw und Odessa aber in der Ukraine bleiben, lässt sich nicht stabilisieren.

Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang jüngste erinnerungs- und kulturpolitische Maßnahmen der Ukraine wie Straßenumbenennungen und die mögliche Streichung russischer Literatur aus den Curricula?

Die Dekolonisierung der ukrainischen Kultur und des öffentlichen Raums ist mit Beginn des Krieges ein heißes Thema geworden. Vorher wurde die Diskussion, inwiefern sich die Ukrainer durch die Linse der hegemonialen russischen Kultur wahrnehmen, eher in intellektuellen Kreisen geführt. Der Krieg hat diese Diskussion zu einem Kulturkampf gemacht, der jetzt auch auf der Straße geführt wird. Natürlich wünschte man sich, dass das damit einhergehende Umdenken nicht die Form der Zerstörung von kulturellen Objekten annimmt, die mit der russischen imperialen Geschichte verbunden sind, wie zum Beispiel der Sturz von Puschkin-Denkmälern. In einer idealen Welt würde man diese Objekte vielleicht unter Schutz stellen, bis ein Konsens über ihr Schicksal gefunden wird. Wir befinden uns aber mitten in einem grausamen Krieg, in dem zahllose Menschen getötet werden und ukrainisches Kulturerbe vernichtet wird.

Wir wissen nicht, welche Ukraine aus diesem Krieg hervorgehen wird. Seit das Land unabhängig geworden ist, hat man für eine politische Nation plädiert, die sich nicht im engen ethnischen und kulturellen Sinne definiert und in der die russische Sprache und Kultur einen selbstverständlichen Platz haben. Vor allem seit dem Maidan hat sich eine Nation formiert, die sich zunehmend über gemeinsame Werte – nationale Souveränität, Demokratie, Protestkultur – definiert. Die ukrainische Sprache ist daher nicht ein Marker kultureller Identität, sondern ein wichtiges Symbol dieser übergreifenden Werte, auch für die Russischsprachigen, Krimtataren und andere. Aus diesem Krieg könnte eine politische Nation entstehen, in der die russische Kultur ihr historischen Platz verliert und die russische Identität problematisch wird.

Frau Zhurzhenko, vielen Dank für das ausführliche Interview!

Die Fragen stellten Rüdiger Frank und Kristina Tonn (schriftlich).

 

 


[1] Der russische Nationalheld und Heilige der russisch-orthodoxen Kirche lebte im 13. Jahrhundert und war Fürst von Nowgorod und Großfürst von Wladimir. Siehe https://www.owep.de/artikel/alexander-newski-russlands-unsterblicher-held (Stand: 2.11.2022).

Tatiana Zhurzhenko

Tatiana Zhurzhenko ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS (Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien), Berlin, wo sie zum Projekt „Das liberale Skript in den umstrittenen Grenzregionen der Ukraine” forscht (Exzellenzcluster Contestations of the Liberal Script - SCRIPTS). Zu ihren Forschungsinteressen zählen Gedächtnispolitik sowie Grenzen und Grenzregionen im postsowjetischen Raum. Zuletzt erschien von ihr „Terror, Kollaboration und Widerstand. Russlands Herrschaft in den neu besetzten Gebieten der Ukraine“, in: „Osteuropa“, Heft 6−8 (2022).


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