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"Die Frage der Effektivität von Sanktionen ist komplex"

Als Reaktion auf die Annexion der Krim wurden bereits 2014 vonseiten vieler westlicher Staaten gegen Russland Sanktionen verhängt. Nach der Invasion der Ukraine 2022 wurden diese zu einem umfangreichen Sanktionsregime ausgebaut, das sektorale Handelsbeschränkungen vorsieht, russische Banken vom internationalen Zahlungsverkehr abschneidet und reichen Eliten den Zugriff auf ihre Vermögenswerte erschwert. Doch Sanktionen sind aus verschiedenen Gründen umstritten. Die Politikwissenschaftlerin und Sanktionsexpertin Dr. Clara Portela, gegenwärtig Konrad Adenauer Gastprofessorin an der Carleton-Universität in Kanada, beantwortet im Interview mit „Ethik und Militär“ Fragen zu diesem Thema.

Frau Dr. Portela, die EU und weitere westliche Staaten haben als Reaktion auf den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Sanktionen gegen Russland verhängt. Ist das nach internationalem Recht erlaubt?

Bei diesem Thema muss man unterscheiden: Der UN-Sicherheitsrat kann auf Grundlage der UN-Charta sogenannte multilaterale Sanktionen verhängen, die alle Staaten auf der Welt binden. Bei den Sanktionen gegen Russland handelt es sich jedoch um unilaterale Sanktionen, also solche, die nicht vom UN-Sicherheitsrat verhängt werden. Prinzipiell gelten aber auch unilaterale Sanktionen als rechtmäßig.

Die EU hat dabei genau dieselben Befugnisse wie ein Einzelstaat. Außerdem ist auch die politische Botschaft viel stärker, wenn Staaten gemeinsam dieselben Maßnahmen ergreifen. Und es mag „legitimer“ erscheinen, wenn mehrere Staaten zusammen Sanktionen verhängen, wobei das eine Frage der Wahrnehmung ist. Wenn nur ein einzelner Staat Sanktionen verhängt, haben dessen Unternehmen im Übrigen viele Nachteile gegenüber der Konkurrenz, weil sie die einzigen sind, die bestimmte Güter nicht liefern dürften.

Es gibt also keine Zweifel an der grundsätzlichen Rechtmäßigkeit solcher unilateraler Sanktionen?

Juristisch wird meistens argumentiert, dass man Sanktionen verhängen darf, weil sie nicht explizit verboten sind. Im Unterschied zum völkerrechtlichen Gewaltverbot, das in der UN-Charta festgeschrieben ist, gibt es kein Verbot der Unterbrechung des Handels. Als Nicaragua in den 1980er-Jahren gegen Wirtschaftssanktionen der USA vorging, ist der Internationale Gerichtshof der Auffassung der USA gefolgt, dass jeder Staat das Recht hat zu entscheiden, mit wem er Handel treiben will und mit wem nicht.

Manche Staaten, vor allem aus dem globalen Süden, bestreiten dennoch grundsätzlich, dass man unilaterale Sanktionen verhängen darf, weil diese das Recht auf Entwicklung verletzen. Seit 2014 vertritt auch Russland diese Meinung besonders vehement. Nur vom Sicherheitsrat verhängte Maßnahmen wären demnach zulässig; alles andere nicht. Es hängt allerdings rein von politischen Umständen ab, ob eine Maßnahme vom Sicherheitsrat beschlossen wird oder nicht. Dadurch verliert er an Legitimität.

Neben dieser fundamentalen Debatte gibt es auch eine juristische Diskussion darüber, in welchen Fällen Sanktionen verhängt werden können, was sie beinhalten dürfen, inwiefern sie gezielt und verhältnismäßig sein müssen und was diese Kriterien bedeuten. Meiner Meinung nach wäre es sinnvoll, das genauer zu regeln. Solange aber von mancher Seite verneint wird, dass sie überhaupt zulässig sind, kommt man in dieser Diskussion nicht voran.

In der Ethik gab es etwa Versuche, die Rechtmäßigkeit von Sanktionen anhand der Lehre des gerechten Krieges zu bewerten. Manche sind zu dem Ergebnis kommen, dass zumindest umfassende Handelsbeschränkungen nicht erlaubt sind, weil sie die Zivilbevölkerung absichtlich schädigen. Es ist aber umstritten, ob die Just-War-Theorie auf Sanktionen – die ja keine militärischen Mittel sind, sondern wirtschaftlichen Druck ausüben – anwendbar ist. Einen Überblick über diese Fragen bieten zum Beispiel James Pattison[1] oder Elizabeth Ellis.[2]

Kann Russland rechtlich gegen die Sanktionen vorgehen?

Was das russische Hoheitsgebiet anbelangt, bleibt Russland ohnehin souverän, da unterliegt es keinen Einschränkungen. Auf internationaler Ebene besteht die Möglichkeit, sich im Kontext der Welthandelsorganisation WTO gegen Handelsbeschränkungen zu wehren. Auch beim Internationalen Gerichtshof hat Russland bereits Beschwerde eingelegt. Und es existiert noch eine dritte Möglichkeit, die die EU direkt betrifft, nämlich die, beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) dagegen vorzugehen. In einem Präzedenzfall hat der EuGH 2021 entschieden, dass auch Staaten das Recht auf Anfechtung von Wirtschaftssanktionen haben, die sie betreffen, und die Klage Venezuelas an das zuständige Gericht zurückverwiesen.

Wie würden Sie denn die augenblicklichen Sanktionen gegen Russland einordnen? Sind es sehr breite Maßnahmen oder doch eher sogenannte gezielte Sanktionen, die sich gegen Einzelpersonen und bestimmte Gruppen richten?

Es handelt sich tatsächlich um eine Mischung aus umfassenden Maßnahmen und gezielten Sanktionen. Das bedeutet auch, dass sie nicht alle derselben Logik folgen. Einige bezwecken, Russland die Finanzierung des Krieges zu erschweren. Darüber hinaus gibt es im Bereich der Hochtechnologie einige Güter, die nicht mehr nach Russland ausgeführt werden dürfen, insbesondere Mikrochips, was die Möglichkeiten der russischen Streitkräfte, weiter Krieg zu führen, bereits deutlich beeinträchtigt.

Die Maßnahmen, die sich gegen die Eliten und ihr Vermögen richten, gegen ihre Luxusjachten, Immobilien und Bankguthaben, sollen dazu führen, dass sie dem System keinen Rückhalt mehr bieten. Die Art und Weise, wie Autokratien funktionieren, hat viel damit zu tun, dass die Führung die politischen Eliten wirtschaftlich oder auf andere Art begünstigt. Wenn diese Schicht irgendwann feststellt, dass sich ihre Loyalität aufgrund der Sanktionen oder der schwächeren Wirtschaft des Landes für sie nicht mehr lohnt, hat sie keinen Grund mehr, das Regime zu unterstützen. Das ist zumindest das Kalkül dahinter.

Und wird dieses Kalkül aufgehen?

Das ist schwer zu sagen. Auf jeden Fall müssen wir davon ausgehen, dass die Macht in Russland im Verlauf des Krieges immer stärker zentralisiert wird. Für bestimmte Eliten wird es möglicherweise immer schwieriger, der politischen Führung den Rückhalt zu entziehen, ohne sich selbst zu exponieren und eventuell auch Repressalien befürchten zu müssen.

Sind damit alle möglichen Funktionen der Sanktionen benannt?

Nein. Die Sanktionen gegen Russland erfüllen unter anderem die Funktion, sich international an der Seite der Ukraine und der westlichen Unterstützer zu positionieren. Selbst wenn die Sanktionen zu keiner Verhaltensänderung Russlands führen oder die Kriegsführung erschweren würden, haben sie also einen starken symbolischen und kommunikativen Wert, weil man sich damit geostrategisch gesehen klar verortet.

Und man darf eine weitere Funktion nicht vergessen, nämlich die Kommunikation gegenüber der eigenen Bevölkerung: Man zeigt, dass man versucht, aktiv zu werden, dass man überhaupt auf einen Völkerrechtsbruch reagiert. Dafür gibt es eine Art öffentliche Nachfrage. Wenn man überhaupt nicht reagieren würde, weil man davon ausgeht, dass das ohnehin nicht zu einer Beendigung des Konfliktes führt, würde das in der Öffentlichkeit möglicherweise schlecht ankommen.

Was bedeutet das für die Effektivität von Sanktionen und die Kritik, sie würden gar keine Wirkung erzielen?

Dadurch, dass so schnell so viele Sanktionswellen verhängt wurden, stellt man möglichweise erst im Nachhinein fest, dass einige Sanktionen nicht ganz passen oder vor Gericht nicht Bestand haben. Die EU hatte zu wenig Zeit, das zu prüfen, und wollte schnell und resolut reagieren. Zum Glück, darf man sagen, war Russlands „militärische Spezialoperation“ nicht so schnell und erfolgreich, wie man sich ursprünglich gedacht hatte, und so wurden manche Effekte schon nach einigen Monaten sichtbar.

Die Frage der Effektivität ist insgesamt eine komplexe Frage. So bleibt in den entsprechenden Bestimmungen manchmal vage, was sie erreichen sollen, manchmal steht es gar nicht drin. Die Sanktionen gegen Russland nach dem verdeckten militärischen Eingreifen in der Ostukraine 2014 zum Beispiel wurden erst ein Jahr später an die Einhaltung des Minsker Abkommens gebunden. Wenn aber die Ziele nicht klar sind, kann man die Zielerreichung auch nicht messen.

Manchmal werden Ziele auch aus politischen Gründen nicht ausgesprochen. Das Ganze wird weiter verkompliziert durch die Tatsache, dass Sanktionen normalerweise eben nicht ein einzelnes Ziel verfolgen, sondern unterschiedliche. Zum Thema Effektivität von Sanktionen lassen sich also nur schwer pauschale Aussagen treffen. Wenn man aber Ziele identifiziert hat, muss man sie auch einzeln messen. Zusammen mit einem Kollegen von der Stiftung Wissenschaft und Politik habe ich die Sanktionen gegen Russland in diesem Sinne evaluiert.[3] Die wirtschaftlichen Auswirkungen sind in Russland spürbar, aber begrenzt; politische Effekte, also etwa wachsender Widerstand der Bevölkerung gegen den Krieg, zeigen sich allerdings kaum.

Stimmt also der Eindruck, dass mit Sanktionen nicht wirklich etwas erreicht werden kann – schon gar nicht ein Maximalziel wie das Ende der Angriffe oder ein Rückzug aus der Ukraine?  

Man muss sich klarmachen: Richtig bewerten lässt sich die Wirkung von Sanktionen oft erst, wenn sie bereits in der Vergangenheit liegen. Doch selbst dann müssen sie immer im Zusammenhang mit anderen Instrumenten evaluiert werden. Die dafür nötigen Informationen sind häufig erst viel später verfügbar, zum Beispiel wenn Archive geöffnet werden oder Politiker und Politikerinnen, die eine wichtige Rolle gespielt haben, offen sprechen können.

Die Sanktionen gegen das Apartheid-Regime in Südafrika etwa gelten häufig als Erfolgsgeschichte, aber sie endeten Anfang der 1990er-Jahre. Heute kann man das wunderbar erforschen, aber damals wusste man einfach nicht, was sich unter den Eliten abgespielt hat. Während die Sanktionen in Kraft waren, haben viele Beobachter behauptet, sie würden nichts bringen. Dann kam die Wende, und plötzlich wurden sie als Erfolg gesehen.

Im Fall von Kuba heißt es schon seit 50 Jahren, dass die Sanktionen nicht wirken. Wenn es irgendwann eine Wende gibt, wird man vielleicht das Gegenteil behaupten. Oder nehmen Sie das Beispiel Myanmar: Dort bestanden bis 2012/2013 etwa 20 Jahre lang Sanktionen, bevor es zumindest zum Übergang von einer Militärregierung zu einer zivilen Regierung kam und die Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi aus der Haft entlassen wurde. Insofern kann man schlecht sagen, dass Sanktionen nicht wirken, während sie noch in Kraft sind.

Manche Kritiker weisen aber auch darauf hin, dass Sanktionen, gerade wenn sie gegen autokratische Regime verhängt werden, kontraproduktiv sein können und die Reihen eher schließen. Auch das russische Regime kann damit Propaganda betreiben: Seht her, der Westen führt einen Wirtschaftskrieg gegen uns, er will uns vernichten.

Es ist offensichtlich, dass der Kreml alles in seiner Macht Stehende tut, um genau diesen Diskurs zu befördern. Die Sache ist: Manchmal gibt es tatsächlich diesen Effekt und manchmal nicht. Er tritt auf jeden Fall nicht automatisch ein. Momentan lässt sich das nicht gut erkennen: Die öffentliche Meinung wird in autokratischen Staaten selten unabhängig gemessen. Selbst wenn es ein unabhängiges Meinungsforschungsinstitut gibt, ist es schwer zu bestimmen, ob die Menschen ehrlich antworten. Wenn ich jetzt irgendwo in Omsk säße und mein Telefon klingelte: „Guten Tag, hier ist das Levada-Zentrum, wir messen gerade die Zustimmungsrate zur Regierung. Sind Sie zufrieden?“ …

… und, was würden Sie antworten?

Auf keinen Fall etwas anderes als: „Ja, ich bin zufrieden.“! Andernfalls gehe ich ein großes Risiko ein; man kann nicht wissen, ob es wirklich das Meinungsforschungsinstitut oder irgendein Spion ist. Ich will damit nicht infrage stellen, dass vorhandene Meinungsforschungsinstitute unabhängig sind, aber unter den gegenwärtigen Umständen ist es eine andere Frage, wie zuverlässig seine Umfrageergebnisse sind.

Wenn Sie sich vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Ereignisse und dessen, was wir hier gerade besprochen haben, die aktuelle Sanktionspolitik der EU und westlicher Staaten anschauen, wie würden Sie diese einschätzen?

Grundsätzlich bin ich der Ansicht, dass man sich Mühe gegeben hat, sehr schnell und sehr resolut zu reagieren. Zwar wurden auch gegen den Iran hat die EU ein Ölembargo und sehr weitreichende Finanzsanktionen verhängt, allerdings sehr viel langsamer – das Tempo ist diesmal auf jeden Fall neu. Am Ende ist wahrscheinlich gar nicht am interessantesten, was die EU verhängt oder wie schnell es geht, sondern was im Bereich der Umgehung von Sanktionen erreicht wurde. Denn die Kommission ist seit Kurzem befugt, eine allgemeinverbindliche Definition der Tatbestände und Mindeststandards für Strafen festzulegen. Vor Februar 2022 konnte jeder Staat individuell festlegen, was eine Umgehung der Sanktionen darstellte und was nicht. Und auch das Strafmaß war extrem unterschiedlich. Selbstwenn diese Änderung im EU-Recht nicht so viel Aufmerksamkeit in den Medien fand wie einzelne Sanktionsmaßnahmen selbst, hat sie eine große Bedeutung.

Frau Dr. Portela, vielen Dank für das Interview!

Die Fragen stellte Rüdiger Frank.

 


[1] Pattison, James (2015) The Morality of Sanctions. In: Social Philosophy and Policy, 32/1, S. 192−215.

[2] Ellis, Elizabeth (s. a.): The Ethics of Economic Sanctions. https://iep.utm.edu/ethics-of-economic-sanctions/ (Stand: 14. Dezember 2022).

[3] Portela, Clara und Kluge, Janis (2022): Slow-Acting Tools. Evaluating EU sanctions against Russia after the invasion of Ukraine. https://www.iss.europa.eu/sites/default/files/EUISSFiles/Brief_11_Sanctions_0.pdf (Stand: 14. Dezember 2022).

Dr. Clara Portela

Dr. Clara Portela ist Konrad-Adenauer-Gastprofessorin am Centre for European Studies der Carleton-Universität im kanadischen Ottawa. Sie lehrt Politikwissenschaft an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Valencia. Zuvor war sie an der Management University in Singapur und am European Union Institute for Security Studies (EUISS) in Paris tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind multilaterale Sanktionen, Rüstungskontrolle und EU-Außenpolitik.


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