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Der Ukrainekrieg als Herausforderung zur Weiterentwicklung christlicher Friedensethik

Die friedensethischen Konsequenzen des Christseins in einer fragilen Welt müssen neu ausgelotet werden.[1] Die bedrängende Wirklichkeit des Bösen wird gegenwärtig im Ukrainekrieg neu erfahren und ruft nach differenzierten Antworten. Es gilt sehr genau zu prüfen, wo das Wunschdenken einer endgültigen Überwindung der Institution des Krieges und einer Versöhnung der Völker möglicherweise dazu beigetragen hat, die sich lange anbahnende Gefahr einer neuen Eskalation militärischer Konflikte zu unterschätzen. Der vorliegende Beitrag unternimmt einen Versuch, nüchtern aktuelle Erfahrungen und Herausforderungen zu bilanzieren.

Zugleich ist christliche Friedensethik, die sich weigert, primär in den Kategorien von Gewalt und Gegengewalt zu denken, gerade in Zeiten militärischer Konfrontation und Aufrüstung, die Europa selbst nach einem Ende der Kampfhandlungen in der Ukraine erwartungsgemäß bevorstehen, ein wichtiger Gegenpol. Der Vorwurf, dass sie angesichts einer Welt von Aggression, Konflikt und Gewalt naiv sei, ist keineswegs neu. Dieser setzt ihre Standpunkte ungerechtfertigterweise mit einem „gesinnungsethischen“ Pazifismus gleich. Eine solche Haltung würde in der Tat dem biblischen Realismus nicht gerecht. Dieser benennt schonungslos die Wirklichkeit von Gewalt und traut dem Menschen dennoch immer wieder neu die Fähigkeit zu Vernunft, Umkehr und Versöhnung zu. Angesichts der Ausweglosigkeit von Spiralen der Gewalt eignet der radikalen Friedensbereitschaft der Bibel eine eigene Art von Realismus. Zu diesem gehört freilich auch die Tugend der Tapferkeit, die mitunter die Bereitschaft fordert, Feindbilder zu überwinden, gewohnte Denkmuster und Sicherheitsvorstellungen zu verlassen, immer neu auf den Gegner zuzugehen und mit dem eigenen Leben für den Glauben an Freiheit und Gerechtigkeit einzustehen.

Überwindung der Institution des Krieges durch Recht und Dialog?

Die Enzyklika Fratelli tutti (FT), die Papst Franziskus im Oktober 2020 veröffentlicht hat[2] und die zu Unrecht kaum als dritte Friedensenzyklika (nach Pacem, Dei munus pulcherrimum, 1920, und Pacem in terris, 1963) wahrgenommen wurde, weist eindringlich darauf hin, dass der Weltfriede akut gefährdet sei. Sie erkennt in der „Politik der Abschottung“, die ausgrenzt und Feindbilder schürt, den Ausgangspunkt für das allmähliche Hineinschlittern in einen „dritten Weltkrieg in Abschnitten“ (FT 25 und 259). Aufgrund der immensen Zerstörungsmacht der ABC-Waffen sei jeder Krieg heute „ein Versagen der Politik und der Menschheit, eine beschämende Kapitulation, eine Niederlage gegenüber den Mächten des Bösen“ (FT 261) und in keinem Fall zu rechtfertigen. Schon den Besitz und erst recht das Androhen des Einsatzes von atomaren Waffen beurteilt der Papst als moralisch verwerflich.

Problematisch ist aus meiner Sicht das Fehlen einer systematischen Unterscheidung zwischen Angriff und Verteidigung. Dies wird der Notwendigkeit, den bewaffneten Gewaltexzessen wehrhaft entgegenzutreten und sich nicht beliebig durch die Drohung mit dem Einsatz von ABC-Waffen erpressen zu lassen, nicht gerecht. Die kategorische Ablehnung jeder Kriegsführung entspricht nicht der Hauptströmung christlicher Friedenethik. So wird das Recht auf Selbstverteidigung beispielsweise in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes (Nr. 79) explizit anerkannt.

Entscheidend für das christliche Profil der Friedensethik ist nicht das Ideal bedingungsloser Gewaltlosigkeit, sondern dasjenige einer Überwindung der Gewalt durch Recht und Dialog.[3] Schon die Idee des Rechts beinhaltet nach Kant die Befugnis zu zwingen und damit ein staatliches Gewaltmonopol, das nicht ohne polizeiliche bzw. militärische Macht denkbar ist. Die Leitidee der Friedensenzyklika Pacem in terris (1963) ist es, das auf nationaler Ebene etablierte Gewaltmonopol des Staates auf die internationale Ebene unter Führung der UNO zu übertragen. Leider wurde und wird der Sicherheitsrat der UNO zunehmend von den Vetomächten für ihre Partikularinteressen missbraucht und hat daher seine Glaubwürdigkeit eingebüßt.

Unabhängig von möglichen Differenzen hinsichtlich der Reichweite pazifistischer Ideale enthält die Enzyklika Fratelli tutti allerdings eine ganze Reihe von Überlegungen, die gerade jetzt bei der mühsamen Suche nach Auswegen aus den Spiralen der Gewalt wegweisend sein können. Am Anfang steht die nüchterne Analyse der Situation: Krieg sei „kein Gespenst der Vergangenheit, sondern ist zu einer ständigen Bedrohung geworden“ (FT 256). Nach der Einschätzung von Franziskus wurde das Ende des Kalten Krieges nicht ausreichend genutzt, um dauerhaften Frieden zu schaffen und die Architektur einer neuen Weltordnung unter anderem durch Reformen der UNO voranzutreiben. Leitender Maßstab ist für den Papst – wie schon für Johannes Paul II. – das Prinzip der Menschheitsfamilie, das zu grenzüberschreitender Geschwisterlichkeit verpflichte, die Kategorie der Nation relativiere und durch eine Verteidigung der universalen Menschenrechte zu sichern sei (FT 26, 100, 127, 141, 205). Eine Kultur des Dialogs und echter menschlicher Begegnung wird als „Handwerk des Friedens“ (FT 228−235) adressiert.

Für die Einordung der Enzyklika Fratelli tutti scheint es mir wichtig, trotz der aus meiner Sicht nötigen Kritik an der generellen Absage an den Krieg (FT 261 f.) nicht die differenzierenden Seiten des Rundschreibens zu übersehen. Dass Franziskus bereits vor dem Ausbruch des Ukrainekrieges die Frage der Friedenssicherung als zentrale ethische Herausforderung der gegenwärtigen Epoche hervorhob und dabei die kulturellen Entfremdungsprozesse durch eine „Politik der Abschottung“ (vgl. FT 10−12) als Ausgangspunkt der destruktiven Dynamik in den Mittelpunkt stellt, ist wegweisend. Berechtigt ist auch die Warnung, dass vermeintliche Schutzverantwortung in der Kriegsrhetorik leicht zur Legitimation von Angriffskriegen missbraucht werden kann. Zudem sind seine Aussagen zu Gewalt nicht ganz eindeutig: So hält er die individuelle Verteidigung der Familie und Gemeinschaft ausdrücklich für erlaubt, solange sie nicht von Hass und Vergeltungsstreben getragen ist (FT 241−243). Darüber hinaus rekurriert der Papst auf die UN-Charta, die das Recht auf Selbstverteidigung und Beistand verbrieft (FT 257). Wesentliche Aspekte dessen, was Franziskus zu Dialog, Begegnung und Versöhnung als „Handwerk des Friedens“ sowie politisch zur „Architektur des Friedens“ sagt (FT 228−254), kann man als wichtige päpstliche Entfaltung des Paradigmas des gerechten Friedens einordnen.

Horizonterweiterung durch das Paradigma des „gerechten Friedens“

Lange wurde christliche Friedensethik unter der von Augustinus geprägten Überschrift „gerechter Krieg“ diskutiert. Seit gut zwanzig Jahren hat sich der Terminus „gerechter Friede“ als Leitgedanke etabliert.[4] Dabei geht es nicht einfach um ein pazifistisches Gegenmodell, sondern um eine Horizonterweiterung im Blick auf die vielschichtigen Voraussetzungen des Friedens und die Notwendigkeit, diesen auf allen Ebenen anzustreben. „Gerechter Friede“ nimmt die Vielfalt und Vernetzung von militärischen, diplomatischen und zivilgesellschaftlichen Arenen des Ringens um Frieden, Freiheit und Sicherheit in den Blick. Am Afghanistankonflikt wurde exemplarisch deutlich, dass die westlichen Mächte zwar stark mit Waffen ausgestattet sind, es aber erheblich an einer Professionalisierung der zivilgesellschaftlichen Konfliktbewältigung fehlt, um dauerhaft Frieden zu gewährleisten. Mit Waffen allein kann man einen Krieg, aber niemals den Frieden gewinnen.

Gerechter Friede setzt auf die wache und frühzeitige Benennung von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen. Er impliziert Bildung zum Widerstand gegen Ideologien, repressive Politikformen und Ausgrenzung.[5] Eine akute Herausforderung ist für ihn die Manipulation der öffentlichen Meinung in den digitalen Medien, in deren Schatten sich nationalistisch-aggressive Denkmuster ausbreiten. Die Akteur:innen des gerechten Friedens treten generalisierenden Feindbildern entgegen und suchen immer wieder neu über die Grenzen von Nationen, Kulturen, Religionen und sozialen Schichten hinweg die Kraft der Versöhnung. Sie begreifen Völkerverständigung als eine Herausforderung, die heute zunehmend auch Entwicklungs-, Klima- und Migrationspolitik einschließt. Bei alldem wird Friede wird nicht als Abwesenheit von Gewalt definiert, sondern vielmehr als primäre Kategorie verstanden, als eine auf die Humanisierung der Verhältnisse hinwirkende geistige Macht, was man mit Eugen Biser als „Inversion“ der Fragestellung sowie der Begriffshierarchie auffassen kann.[6]

Das ideologische Vakuum des zynischen Nihilismus als Kriegsfaktor

In vieler Hinsicht erscheint der brutale Angriffskrieg gegen die Ukraine, den der russische Präsident von langer Hand vorbereitet und persönlich vorangetrieben hat, irrational. Die Begründung, dass die Ukraine „entnazifiziert“ werden müsse, die unterdrückte russische Minderheit in der Ostukraine nach Befreiung rufe und die Sicherheitsinteressen Russlands durch die NATO-Osterweiterung gefährdet seien, ist konstruiert. Insbesondere der Nazivorwurf ist eine absurde, infame und bösartige Lüge. Letztlich geht es um einen ideologischen Konflikt, bei dem eine eigenartige Mischung aus nationalistischen und pseudoreligiösen Motiven ausschlaggebend ist: Treibender Faktor ist die Vorstellung, dass die „Russische Welt“ (Russkij Mir) als identitäts- und einheitsstiftendes Band der Staaten der ehemaligen Sowjetunion gegen den dekadenten westlichen Einfluss geschützt werden müsse.

Ob die religiös und moralisch überhöhte nationalistische Identitätskonstruktion, die der russische Präsident vorgibt, treibende Motivation oder vorgeschobene Fassade ist, lässt sich schwer entscheiden. Schon früh hat er den Zerfall der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“[7] bezeichnet. Konsequent und Schritt für Schritt versucht er, die Vergangenheit wiederherzustellen, wobei nicht der Kommunismus, sondern die Fiktion einer großrussischen Identität, der andere osteuropäische Nationen ohne Eigenrechte untergeordnet werden, als Leitidee fungiert.

Letztlich geht es um einen ideologischen Konflikt, bei dem eine eigenartige Mischung aus nationalistischen und pseudoreligiösen Motiven ausschlaggebend ist

Eine kritische Aufarbeitung der Repressionen der Sowjetzeit fand in Russland nur marginal statt, sodass die Wende 1989 von der Mehrheit nicht als Befreiung, sondern als Zerfall gedeutet wird. Als Kompensation für die vermeintlich große Vergangenheit und Einheit des osteuropäischen Raumes entstand in den 1990er-Jahren die Idee der Russischen Welt. An deren Weiterentwicklung und Aneignung haben auch Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche (ROK) mitgewirkt. Nicht zuletzt hat sich der heutige Patriarch Kyrill diese Ideenwelt zu eigen gemacht und leitet daraus wesentlich sein Selbstverständnis und seinen vermeintlichen Sendungsauftrag sowie seine Legitimation des Krieges ab: Es geht nach seiner Ansicht um einen „metaphysischen Kampf“ der Verteidigung orthodoxer Werte gegen den moralisch dekadenten Westen.[8] Man kann von einem tiefen wechselseitigen Einvernehmen zwischen Putin und Kyrill, die sich schon früh in gemeinsamen KGB-Zeiten kennengelernt haben, ausgehen.

Bereits seit vielen Jahren und gebündelt in seinem Essay „On the Historical Unity of Russians and Ukrainians“ (12. Juli 2021) hat der russische Präsident der Ukraine das Existenzrecht abgesprochen und einen russischen Hegemonieanspruch deklariert.[9] Wie wir im Rückblick erkennen, war es  blind, die Vielzahl der russischen Aggressionen, die eng verbunden sind mit dem politischen Aufstieg und der Präsidentschaft Putins, die sich immer mehr zu einer Diktatur entwickelt hat, nicht in ihrem Zusammenhang zu sehen: Tschetschenienkrieg 1994−96 und 1999−2009, Georgienkrieg 2008, Syrienkrieg 2015, Annexion der Krim 2014, hybrider Krieg in der Ostukraine seit 2014.

„Tatsächlich ist der Krieg in der Ukraine nur möglich geworden, weil die russische Staatsführung seit Jahren konsequent lügt und weil sich die Menschen in Russland belügen lassen.“[10] Sie haben keine innere Abwehr gegen die Lüge, weil das pathetisch und zugleich so verführerisch einfach zusammengelogene Weltbild Putins für sie bequemer ist als die mit irritierenden Widersprüchen behaftete Realität. Weil für die Mehrheit der Russ:innen die Situation sozial und wirtschaftlich so desolat ist, klammern sich viele an den vermeintlichen Trost einer einseitig verklärten Geschichte. Das ideologische Vakuum des auf Lüge und Propaganda aufgebauten Systems Putin wird mit dem Trugbild der Russischen Welt zu füllen gesucht. Friedensethik muss sich künftig viel früher, wacher, kritischer und differenzierter mit solchen Entwicklungen christlich aufgeladener Kriegsrhetorik auseinandersetzen. Sie muss ernsthafter als bisher mit der destruktiven Dynamik des Bösen, der Verführbarkeit der Massen durch Feindbilder sowie dem Missbrauch von Macht rechnen.

Rationalisierung des ethischen Diskurses um die Moderne als Friedensdienst

Auf Initiative von Patriarch Kyrill entstand eine eigenständige russisch-orthodoxe Soziallehre, die in zwei umfangreichen Dokumenten ihren Ausdruck gefunden hat. Diese Schriften aus den Jahren 2000 und 2008 sind im Wesentlichen eine massiv abwertende Auseinandersetzung mit den Leitwerten der westeuropäisch-amerikanischen Moderne.[11] Die Kritik der Menschenrechte als Inbegriff eines säkularen und liberalen Gesellschaftsmodells, weil sie vermeintlich dem Vorrang kultureller und religiöser Werte nicht gerecht werden, spielt insbesondere im Dokument von 2008 eine zentrale Rolle. Mit seiner aggressiven Abgrenzung gegen den vermeintlich säkular-areligiösen und durch Werteverfall geprägten Wesen steht Kyrill keineswegs alleine, sondern trifft einen breiten Mainstream, der in Russland durch die staatlich gleichgeschalteten Medien seit vielen Jahren propagandistisch gefördert wird.

Am Ende ist es eine religiös-mythisch untermauerte identitätspolitische Illusion, der Kyrill sowie der russische Präsident als vermeintliche Rechtfertigung des Krieges anhängen. Religiöse Aufklärung tut not. Es wäre ein Befreiungsschlag von unschätzbarer Wirkung, wenn sich möglichst viele orthodoxe Gläubige davon emanzipieren und zum Vorrang des Friedens als zentraler Christenpflicht bekennen würden. Viele Bischöfe der ROK in der Ukraine haben bereits Kyrill aus dem Hochgebet gestrichen, was nach orthodoxem Verständnis einer Aufkündigung der Gemeinschaft gleichkommt. Auch unter Theolog:innen gibt es zunehmend Widerspruch gegen die Ideologie der Russischen Welt und ihre imperialistische Funktionalisierung für die Legitimation des Krieges. So hat eine Gruppe von inzwischen mehr als 1400 Wissenschaftler:innen mit einem starken Anteil orthodoxer Theolog:innen diese Lehre als unorthodox, unchristlich und häretisch bezeichnet.[12] Bei der schweigenden Mehrheit hat Kyrill aber wohl nach wie vor starken Rückhalt. Aus der Sicht einer christlichen Friedensethik ist es in höchstem Maße bedrückend, welche zentrale Rolle der Faktor Religion in diesem Krieg spielt. Im Kern geht es um das ungeklärte Verhältnis zwischen Religion und Moderne.

Diesen Diskurs zu rationalisieren, wäre ein unschätzbarer Friedensdienst des ökumenischen Dialoges. Dabei sollte es nicht einfach um eine apologetische Verteidigung der Werte „des“ Westens und der Moderne auf der einen und der Werte „des“ Ostens und der Orthodoxie auf der anderen Seite gehen. Vielmehr kommt es gerade darauf an, solche Pauschalisierungen und blockartig typologische Entgegensetzungen zu überwinden. Die 2020 unter der Führung von Patriarch Bartholomaios von Konstantinopel veröffentlichte panorthodoxe Sozialdoktrin For the Life of the World[13], die sich erheblich von der Sozialdoktrin der ROK unterscheidet, bietet für einen solchen Diskurs viele konstruktive Anknüpfungspunkte.

Von der proeuropäischen Seite her ist zu konzedieren, dass die Moderne selbstverständlich mit vielen Ambivalenzen verbunden ist[14] und dass die Frage der Bedeutung der spezifisch theologischen Zugänge zur Ethik angesichts der Dominanz eines säkularen Humanismus und eines säkular-individualistischen Verständnisses der Menschenrechte keineswegs leicht zu beantworten ist.[15] Entscheidend ist jedoch, dass bei diesem Diskurs der Blick für die elementare friedensstiftende Funktion der Menschenrechte und des Humanismus sowie der Demokratie und der Gewaltenteilung nicht verloren geht. Gerade angesichts der massiven Repressionen des „Systems Putin“ gewinnt die humanistische Menschenrechtsethik neu an Strahlkraft. Es geht im Kern nicht um einen Gegensatz westlicher und östlicher Werte, sondern um die Abwehr eines auf Lüge, Spaltung und Repression aufgebauten Herrschaftssystems. Die Frage der Menschenrechte hat für die christliche Friedensethik eine zentrale Bedeutung. In ihnen liegt nach Pacem in terris das Geheimnis des Friedens. Zugleich muss der Vorwurf, die Menschenrechte seien ein Instrument „des Westens“, um anderen Kulturen seine Wertvorstellungen aufzuzwingen, kritisch geprüft werden.[16] 

Anerkennungskonflikte im Kampf um eine neue Weltordnung

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Ukrainer:innen nicht nur ihre eigene Freiheit verteidigen, sondern die Werteordnung Europas und der Vereinten Nationen. Unter diesem Eindruck entstand eine in der bisherigen Geschichte beispiellose Welle weltweiter Solidarität, die mit politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Sanktionen unterlegt ist. Russland selbst schadet sich massiv mit dem Angriff auf die Ukraine und wird mit internationaler Isolation gestraft. Auch wenn Deutschland beim Thema Waffenlieferungen an die Ukraine lange zögerte und diese beispielsweise von Pax Christi als Verrat an den Grundsätzen christlicher Friedensethik eingeschätzt werden, sind diese aus meiner Sicht sowie derjenigen von Justitia et Pax[17] ethisch geboten: Es gibt das Recht auf Selbstverteidigung. Es wäre unterlassene Hilfeleistung, diese der Ukraine, die sich mit dem Mut der Verzweiflung der russischen Übermacht erwehrt, nicht zu gewähren. Man kann in dieser Lage das Gebot „Du sollst nicht töten“ auch im Sinne einer Schutzverantwortung interpretieren: „Du sollst nicht töten lassen“.

Die Ukrainer:innen haben 1994 im Budapester Memorandum freiwillig auf Atomwaffen verzichtet und dafür von europäischer Seite Schutzversprechen erhalten, die es einzulösen gilt. Wenn solche Versprechen nichts zählen, ermutigt dies zu neuem atomaren Wettrüsten. Am Beispiel des aktuellen Krieges lernen wir schmerzhaft, dass demokratische Werte proaktiv und existenziell verteidigt werden müssen, denn seit gut zehn Jahren erstarken weltweit autoritäre Regime und Parteien. Der Glaube an Freiheit und Wahrheit sowie Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung muss verteidigt werden, auch gegen mediale Manipulationen durch populistische Politiker:innen und autoritäre Regime, die durch postfaktische Kommunikationsformen ihre Verachtung für die Wahrheit zeigen. Heute ist deutlicher denn je: Wir brauchen eine nach innen und außen wehrhafte Demokratie. Unter dem Schutzschirm der von den USA garantierten Sicherheit hat die deutsche christliche Friedensethik dies über Jahrzehnte sträflich vernachlässigt.

Heute ist deutlicher denn je: Wir brauchen eine nach innen und außen wehrhafte Demokratie

Wir leben in einer Zeit der multiplen Krisen und des beschleunigten Wandels einer multipolaren Welt, die zunehmend durch eine höchst vielschichtige „Evolution der Gewalt“[18] geprägt ist. Dabei verlieren bekannte Ordnungsmuster in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft an Geltung, ohne dass die künftige Ordnung schon erkennbar ist. Als Reaktion auf die daraus resultierende Unsicherheit wird das Streben nach Sicherheit und Resilienz von Individuen und Gesellschaften zu einem zentralen ethisch-politischen Ziel. Dabei kann die Weltgesellschaft dem Wandel der internationalen Ordnung nicht gleichgültig gegenüberstehen. Toleranz muss heute mehr denn je aktiv gegen repressive Gesellschaftsmodelle verteidigt und als integraler Bestandteil christlicher Friedensethik begriffen werden.[19]

Der Ukrainekonflikt ist Teil eines vielschichtigen Kampfes um eine neue Weltordnung. Er kann auf Dauer nicht ohne die Schaffung einer den heutigen Herausforderungen und Konfliktlinien Rechnung tragenden Friedens- und Sicherheitsordnung gelöst werden. Eine vorrangige Bedeutung kommt hier der Reform des Weltsicherheitsrates zu, der nicht mehr angemessen die Kräfteverhältnisse in der Welt widerspiegelt. Durch den partiellen Rückzug der USA als Weltordnungsmacht ist ein Vakuum entstanden, das durch eine Verdichtung der vielfältigen supranationalen Verflechtungen kompensiert werden muss.[20] Dazu könnte auch ein europäischer Sicherheitsrat gehören, um die Handlungsfähigkeit der EU zu erhöhen. Die verschiedenen Institutionen, die sich sicherheitspolitisch engagieren (unter anderem UNO, NATO, OSZE, EU), sind komplementär aufeinander abzustimmen. Eine solche Verdichtung und Verflechtung sicherheitspolitischer Institutionen, die auch Schwellenländer sowie Staaten des ehemaligen Ostblocks einschließt, gehört heute unverzichtbar zur „Architektur des Friedens“, wie sie Papst Franziskus in Fratelli tutti entwirft.

Für eine aufgeklärte Religion

Dauerhafter Friede braucht Vergebung und Versöhnung auch mit der eigenen Geschichte und den eigenen Ambivalenzen. Die historische Dimension des Ukrainekrieges zeigt sich nicht zuletzt darin, dass geschichtsklitternde Narrative zur Konstruktion eines Kriegsgrundes herangezogen werden. An diesen Erzählungen wird deutlich, dass es dem russischen Präsidenten und einem wohl nicht unerheblichen Teil der russischen Bevölkerung und der russisch-orthodoxen Kirche an einer Versöhnung mit dem Zerfall der UdSSR fehlt. Das Gefühl der Kränkung durch die vermeintliche Zurücksetzung und Nichtanerkennung als Weltmacht scheint die treibende Kraft der aktuellen Aggression.

Angesichts der katastrophalen Folgen des Ukrainekrieges für alle, auch für Russland selbst, wird die Kränkung zunächst verstärkt. Ihre Überwindung wird sicherlich lange Zeit beanspruchen. Hier haben die Kirchen und Religionsgemeinschaften eine originäre Aufgabe, da Versöhnung immer auch eine religiöse Dimension hat.[21] Denn die Suche nach Frieden und die Bereitschaft zu Versöhnung sind ein Kern der biblischen Botschaft. Sie stellen eine notwendige Konsequenz der Gottesbeziehung dar. Die Überwindung von Feindbildern, die sich im Falle des Ukrainekrieges tief in das kollektive Bewusstsein eingegraben haben, braucht Bildung und echte menschliche Begegnung. Aussöhnung und Konfliktnachsorge sind ein integraler Bestandteil des gerechten Friedens und als eine wichtige Horizonterweiterung künftiger Sicherheitspolitik zu begreifen.[22] 

Die Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich, die lange für unmöglich gehalten wurde und die heute ein Motor der europäischen Integration ist, sollte dazu ermutigen, dass dies – mit entsprechendem Abstand – auch zwischen Russland und der Ukraine nicht undenkbar ist. Es geht nicht um einen ethnischen Konflikt, sondern um die Anerkennung von Wahrheit und Freiheit als Grundlage des Friedens. Christliche Friedensethik widerspricht generalisierenden Feindbildern auch gegen das russische Volk.

Bei alldem muss nüchtern im Blick bleiben, dass die Rolle der Religionen hinsichtlich der Überwindung von Gewalt ambivalent ist: Immer wieder haben die Kirchen durch starre Wahrheitsansprüche und Ausgrenzungen sowie die Abwehr von Freiheitsrechten zu gewaltsamen Konflikten beigetragen. Auch heute ist Religion häufig ein Eskalationsfaktor von Gewalt in den vielschichtigen weltpolitischen Identitätskonflikten. Dies gilt keineswegs nur für Russland. Es braucht vor diesem Hintergrund neue Formen religiöser Aufklärung. Es braucht eine aufgeklärte, dialogoffene und toleranzfähige Religion. Im Schatten des Ukrainekrieges sowie anderer genozidartiger Kriegsverbrechen muss christliche Friedensethik jedoch auch klarstellen, dass sie nicht einfach zuschauen darf. Es gibt Situationen, in denen Christen Partei ergreifen müssen für die Opfer und an ihrer Seite den Kampf für Recht und Freiheit unterstützen sowie im Anspruch des gerechten Friedens vor- und nachsorgend für Versöhnung eintreten müssen.

 

 


[1] Vgl. Vogt, Markus (2022): Christsein in einer fragilen Welt – Revisionen der Friedenethik angesichts des Ukrainekrieges. https://www.zebis.eu/veroeffentlichungen/positionen/christsein-in-einer-fragilen-welt-revisionen-der-friedensethik-angesichts-des-ukrainekrieges-von-markus-vogt/ (Stand: 4.10.2022).

[2] Franziskus (2021): Fratelli tutti. Enzyklika über Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft, hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Bonn. Zur Interpretation von Fratelli tutti als Friedensenzyklika mit ihren Stärken und Schwächen vgl. Vogt, Markus (2021): Die Botschaft von Fratelli tutti im Kontext der Katholischen Soziallehre, in: MThZ 72, S. 108–123.

[3] Justenhoven, Heinz-Gerhard (2015): Frieden durch Recht. Zur ethischen Forderung nach einer umfassenden und obligatorischen Gerichtsbarkeit, in: Bock, Veronika u. a. (Hg.): Christliche Friedensethik vor den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Baden-Baden, S. 113–129.

[4] Die deutschen Bischöfe (2000): Gerechter Friede. Hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Bonn.

[5] Vgl. Schellhammer, Barbara und Goerdeler, Berthold (2020): Bildung zum Widerstand. Darmstadt.

[6] Man müsse die Denkrichtung umkehren: So wie die Dunkelheit keine eigenständige ontologische Kategorie sei, sondern lediglich die Abwesenheit des Lichts, so sei der Krieg nicht der Vater aller Dinge, sondern lediglich die Abwesenheit des Friedens.; vgl. Biser, Eugen (2003): Wege des Friedens. Augsburg, S. 41.

[7]Winkler, Heinrich August (2015): Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart. München, S. 303. Für diesen Hinweis sowie zahlreiche Anregungen bedanke ich mich bei meinem ukrainischen Promovenden Michael Fetko.

[8] Kyrill (2022): Predigt in der Kathedrale in Moskau am 6. März 2022; vgl.

[9] Vgl. Luchterhandt, Otto (2022): Russlands Geisel: Die militärische Einkreisung der Ukraine und das Völkerrecht. https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/russlands-geisel (Stand: 4.10.2022).

[10] Schor-Tschudnowskaja, Anna (2022): Russlands tiefe Leere – Wladimir Putin hat einen Autoritarismus erschaffen, der mit zynischem Nihilismus und nicht mit der Aussicht auf eine bessere Zukunft wuchert. https://www.nzz.ch/meinung/russland-tiefe-leere-putins-autoritarismus-ist-ein-nihilismus-ld.1676539?reduced=true (Stand: 4.10.2022).

[11] Die antiwestliche Stoßrichtung wird zusätzlich durch Interpretationen Kyrills verstärkt; vgl. Wissenschaftliche Enquete der Stiftung PRO ORIENTE (2003): Die Sozialkonzeption der Russischen Orthodoxen Kirche. Ein Dokument der sozialen Verantwortung. Wien, bes. S. 25−33.

[12]Vgl. Public Orthodoxy (2022): A Declaration on the „Russian World“ (Russkii mir) Teaching. https://publicorthodoxy.org/2022/03/13/a-declaration-on-the-russian-world-russkii-mir-teaching/ (Stand: 4.10.2022).

[13] Zum Dokument „For the Life of the World“ vgl. Orthodox Times (2020): “For the Life of the World: Toward a Social Ethos of the Orthodox Church”. orthodoxtimes.com/for-the-life-of-the-word-toward-a-social-ethos-of-the-orthodox-church-is-now-available-online/ (Stand: 8.10.2022).

[14]Vgl. Vogt, Markus und Gigl, Maximilian (2022): Christentum und moderne Lebenswelten. Ein Spannungsfeld voller Ambivalenzen. Paderborn.

[15] Vogt, Markus (2013): Theologie der Sozialethik. Freiburg.

[16] Die kosmopolitische Ethik der Menschenrechte ist aus vielen Gründen in die Defensive geraten. Aus der Sicht von Arnd Pollmann muss ihr revolutionärer Gehalt je neu angesichts von konkreten Unrechtserfahrungen erschlossen werden. In gewisser Weise bleiben sie immer prekär. Ihre konkrete praktische Bedeutung muss von der gegenwärtigen Gesellschaft, insbesondere von den Ländern des Ostens und des Globalen Südens, vor dem Hintergrund ihrer spezifischen Erfahrungen der Würdeverletzung selbst neu gefunden werden; vgl. Pollmann, Arnd (2022): Menschenrechte und Menschenwürde. Zur philosophischen Bedeutung eines revolutionären Projekts. Berlin.

[17] Vgl. Deutsche Kommission Justitia et Pax (2022): Erklärung zum Krieg in der Ukraine, Nr 3. https://www.justitia-et-pax.de/jp/aktuelles/20220328_Krieg-gegen-die-Ukraine.php (Stand: 5.12.2022).

[18] Vgl. Münkler, Herfried (2017): Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert. Reinbek.

[19] Vogt, Markus und Husmann, Rolf (2019): Proaktive Toleranz als ein Weg zum Frieden. Bestimmung und Operationalisierung des Toleranzbegriffs. Mönchengladbach.

[20] Vgl. Schockenhoff, Eberhard (2018): Kein Ende der Gewalt? Friedensethik für eine globalisierte Welt. Freiburg, S. 639–665.

[21] Vgl. Vogt, Markus (2021): Christian Peace Ethics and Its Relevance for Tolerance and Reconciliation in Ukraine. In: Vogt, Markus  und Küppers, Arnd (Hg.): Proactive Tolerance. The Key to Peace. Baden-Baden, S. 117–137; zur Kategorie der Versöhnung als Schlüssel christlicher Friedensethik vgl. auch Benedikt XV. (1920): Pacem, Dei Munus pulcherrimum. Rundschreiben über den Völkerfrieden. In: AAS XII, 209−218.

[22] Vgl. Die deutschen Bischöfe (2000), s. Endnote 4, Nr. 108 f.

Zusammenfassung

Prof. Dr. Markus Vogt

Prof. Dr. Markus Vogt (geb. 1962) ist Ordinarius für Christliche Sozialethik an der katholisch-theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er studierte katholische Theologie und Philosophie in München, Jerusalem und Luzern. 2007 übernahm er den Lehrstuhl für Christliche Sozialethik an der LMU. Markus Vogt ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Instituts für Theologie und Frieden sowie des Zentrums für ethische Bildung in den Streitkräften. Seit 2019 ist er Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste.

m.vogt@kaththeol.uni-muenchen.de

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