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Nur eine weitere nutzlose Sicherheitsinitiative? Russlands Blick auf PESCO

Im November 2017 tauchte die Abkürzung PESCO in den Schlagzeilen europäischer und amerikanischer Zeitungen auf. 23 Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) brachten die „Permanent European Structured Cooperation“ oder PESCO (Ständige Strukturierte Zusammenarbeit, SSZ) auf den Weg; später stieg die Zahl der Teilnehmer auf 25. Dieser Akt der vertieften Integration im Bereich Sicherheit und Verteidigung in der EU löste in höchstem Maße entgegengesetzte Reaktionen aus – von überaus positiv bis überaus kritisch –, sowohl in der EU als auch außerhalb. Ganz bestimmt wird er sich auf die Beziehungen der EU mit wichtigen sicherheitsrelevanten Akteuren auf dem europäischen Kontinent auswirken, insbesondere in der Russischen Föderation. Ungeachtet dessen, dass das moderne Russland nicht einmal einen Bruchteil des Einflusses seines Vorgängers, der Sowjetunion, genießt, gibt es doch einige Hebel, über die das Land Einfluss auf die EU-Mitgliedstaaten ausüben kann. Zudem war die russische Sicherheitspolitik der EU gegenüber in letzter Zeit alles andere als freundlich. Aus diesem Grund ist die russische Wahrnehmung von PESCO ein Thema, das von Forschenden mit Interesse verfolgt wird und politisch von Bedeutung ist.

Aus russischer Sicht: Was ist PESCO?

Für das Verständnis einiger entscheidender Punkte in dieser Diskussion ist es notwendig, sich darüber im Klaren zu sein, wofür PESCO derzeit steht und warum sich die EU-Mitgliedsstaaten zum jetzigen Zeitpunkt dafür ausgesprochen haben.

PESCO wurde 2009 in den Vertrag über die Europäische Union (Artikel 42, Abs. 6) auf­genommen. Dort ist die Rede von einer möglichen Sicherheitsinitiative für Mitgliedstaaten, die anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Bereich Verteidigung untereinander weitergehende Verpflichtungen eingegangen sind.1 Dies wird im Protokoll Nr. 10 des Vertrags erläutert. Eine Mitteilung an den Europäischen Rat über PESCO2 definiert folgende Ziele:

  • Verstärkung gemeinsamer und kooperativer Verteidigungsprojekte
  • Einrichtung eines ausschließlich für PESCO-­
  • Mitglieder zugänglichen Verteidigungsinformationszentrums
  • Entwicklung einer Kooperation im Bereich Cybersicherheit
  • Erwägung der gemeinsamen Nutzung bestehender Kapazitäten
  • Entwicklung gemeinsamer technischer und operativer Ressourcen, die für eine Kooperation mit der NATO erforderlich sind
  • Vereinfachung grenzüberschreitender Trans­porte innerhalb der EU

Wie sich gezeigt hat, ist PESCO kein Projekt zum Aufbau einer europäischen Armee wie von manchen EU- und nationalen Regierungsvertretern gefordert. Zwar hatten einige EU-Mitgliedstaaten mit Start der PESCO-Initiative ihre Zustimmung dazu erteilt, militärische Streitkräfte gemeinsam einzusetzen, auszubilden und zu finanzieren sowie zwischenstaatliche Bürokratie bei Militärtransporten abzubauen.

Die Vorstellung von PESCO selbst innerhalb der EU wurde jedoch in höchstem Maße widersprüchlich rezipiert. Während Federica Mogherini, die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, diesen Schritt als „historisch“ bezeichnete,3 nannte ihn der EU-Integrationsexperte Dr. Nick Whitney einen „Rohrkrepierer“.4 Einige EU-Mitgliedstaaten brachten ihre Besorgnis zum Ausdruck, PESCO könnte einen weiteren Schritt hin zur Übermacht Deutschlands und Frankreichs in der EU darstellen. Andere wiederum, wie etwa das Vereinigte Königreich, Malta und Dänemark, versagten der Initiative ihre Teilnahme.

Wie PESCO ins Leben gerufen wurde

Wie bereits erwähnt, wurde PESCO im Jahre 2009 vertraglich verankert, jedoch erst 2017 auf den Weg gebracht. Unserer Ansicht nach gibt es für diese Verzögerung verschiedene mögliche Gründe:

Zunächst wurde der Begriff „Europa“ für relativ lange Zeit mit Frieden und Sicherheit in Verbindung gebracht. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es auf dem europäischen Kontinent mehrere Jahrzehnte lang nicht zu gewaltsamen Grenzverschiebungen. Dennoch war die Existenz Europas auch in dieser Zeit überschattet, da durch den Kontinent eine Grenze zwischen den beiden Polen des Kalten Krieges verlief. Indessen kam Europa in den Genuss des militärischen „Schirms“ der Vereinigten Staaten. Nach dem Ende des Kalten Krieges schienen die durch den Zusammenbruch des Kommunismus verursachten Konflikte weitgehend überwunden – auch wenn fraglich bleibt, zu welchem Preis und in welchem Ausmaß die EU daran beteiligt war. Die EU erlebte seitdem eine Phase relativen Friedens im Innern und nahe den eigenen Außengrenzen. Die europäischen Sicherheitsstrukturen (sowohl NATO als auch GSVP) wurden oft dafür kritisiert, zu viele Mittel aus den Haushalten der Mitgliedsstaaten abzuschöpfen. Tatsächlich hatte die NATO zu Zeiten des Kalten Krieges ein Gegengewicht zur sowjetischen militärischen Bedrohung dargestellt. Die UdSSR existierte nun aber nicht mehr, und Russland erschien nicht als Bedrohung. Vor einigen Jahren änderte sich diese Situation jedoch dramatisch.

Erstens sah sich die europäische Sicherheitspolitik vollkommen neuen Sicherheitsrisiken gegenüber, etwa hybriden Kriegen und Angriffen auf die Cybersicherheit. Die durch die Konflikte im Nahen Osten ausgelöste Flüchtlingskrise betraf EU-Mitgliedsstaaten unmittelbar; sie wurden mit zu den wichtigsten Zielorten für Flüchtlinge aus Syrien. Dadurch wurde auch der Fortbestand des europäischen Projekts selbst und seiner Freiheiten in Frage gestellt (insbesondere die der Freizügigkeit und der offenen Grenzen).

Der zweite Grund, weshalb PESCO gerade zu diesem Zeitpunkt ins Leben gerufen wurde, liegt im Wandel in der Außenpolitik der Vereinigten Staaten beziehungsweise der Androhung eines solchen Wandels durch die US-Regierung. Fakt ist, dass die USA und die NATO in der europäischen Sicherheitspolitik stets eine wichtige Rolle gespielt haben. Selbst als im Jahre 1998 die eigene Sicherheits- und Verteidigungsstruktur der EU geschaffen wurde, ging es unserer Meinung nach in erster Linie darum, die USA davon zu überzeugen, dass ein geeintes Europa ein zuverlässiger Sicherheitspartner sein könne. Obwohl die USA jahrelang ein stärkeres Engagement bei ihren eigenen Sicherheitsinteressen gefordert hatten, änderte sich 2016 mit der Wahl von Präsident Trump die Haltung der EU in Sicherheitsfragen drastisch. Als überaus erfolgreicher Geschäftsmann und extrem exzentrische Person des öffentlichen Lebens ist Trump für seine politische Unberechenbarkeit und persönlichen Ansichten bekannt, die häufig die Kritik der wichtigsten internationalen Verbündeten der Vereinigten Staaten auf sich gezogen haben. So hört man ihn oft die freiheitliche Staatsordnung insgesamt und die EU im Speziellen angreifen. Einer seiner Hauptstreitpunkte mit der EU ist der Vorwurf, die EU-Mitgliedstaaten blieben hinter ihren NATO-Ausgabenzielen zurück. Der US-Präsident forderte höhere Verteidigungsausgaben von ihnen und drohte damit, sich auf nationale amerikanische Sicherheitsthemen zu konzentrieren („America first“).

Zudem wird Trump häufig vorgeworfen, er weigere sich, das undemokratische Verhalten Russlands unter Wladimir Putin offen anzusprechen. Daher brachten einige EU-Mitgliedstaaten, insbesondere jene, in denen die Erinnerung an den Sozialismus noch fortlebt, ihre Besorgnis zum Ausdruck, die neue US-Regierung unterschätze die von Russland ausgehende Gefahr. Auf diesen Punkt wird im weiteren Verlauf noch eingegangen.

Drittens ist der Brexit bzw. der Rückzug Großbritanniens aus der EU ein Thema. Der Prozess des Austritts aus einer Union, die ein noch nie da gewesenes Maß an Integration erreicht hat, wird schwierig und kompliziert sein. Er wird sich auf alle Bereiche der Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU auswirken, auch auf den Bereich der Sicherheit und Verteidigung in der EU.

Auch wenn europäische Sicherheitsfragen in der Zeit nach dem Brexit nicht so breit in der öffentlichen Debatte diskutiert werden, muss dem Umstand Rechnung getragen werden, dass das Vereinigte Königreich eine Atommacht mit ständigem Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, beeindruckender militärischer Schlagkraft, weltweitem diplomatischem Einfluss durch den Commonwealth und einem der besten Geheimdienste der Welt ist. Der Brexit wird sich in erheblichem Maße auf die Verteidigungsstrukturen der EU auswirken. Die EU verliert ein Mitglied, das in Sicherheitsfragen aufgrund seiner „besonderen Beziehung“ mit den USA die Rolle des „Brückenbauers“ innehatte, ein Land, das 1998 die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik mitbegründet hat. In ihrer Rede im Rahmen des G7-Gipfels im Juli 2017 merkte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel an: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei“5, und spielte dabei auf die Rhetorik von Donald Trump und den Brexit an.

Viertens unterscheiden sich die EU-Mitgliedstaaten erheblich. Sie alle haben unterschiedliche geografische Positionen, BIPs, geschichtliche Hintergründe. Zudem wurden „historisch betrachtet […] Bedrohungen unterschiedlich wahrgenommen“6, wie es das Reflexionspapier der EU über die Zukunft der europäischen Verteidigung formuliert. Das Baltikum und manche osteuropäische Staaten, in denen man sich noch an das Leben unter einem totalitären Regime erinnert, sehen sich hauptsächlich von der Politik der Russischen Föderation bedroht. Daher rührt die Loyalität dieser Länder zur NATO und zur transatlantischen Zusammenarbeit. Die größte Sorge Südeuropas hingegen ist eine instabile politische Situation im Nahen Osten und in Nordafrika. Die Länder Westeuropas (insbesondere jene, die Teil des Anti-IS-Bündnisses sind) fürchten den internationalen Terrorismus und eine Radikalisierung der Jugend und mahnen, anders als ihre osteuropäischen Partner, häufig die Aufrechterhaltung des Dialogs mit Russland an. PESCO lässt sich als Versuch beschreiben, all diese Sicherheitsstandpunkte auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.

Der letzte, aber wahrscheinlich wichtigste Grund für die PESCO-Initiative ist schließlich Russlands Außenpolitik der letzten Jahre. Damit nähern wir uns der Kernfrage dieses Essays.

Wie bereits erwähnt, schien die Russische Föderation, die nach dem Zerfall der UdSSR deren Rechtsnachfolge antrat, für die Sicherheit in Europa zunächst keine Bedrohung darzustellen – trotz der Tatsache, dass Russland in den frühen 2000ern immer mehr Eigenschaften eines demokratischen Staats einbüßte. Im gleichen Zeitraum war in Russland ein Anstieg an Menschenrechtsverletzungen und Korruption zu beobachten. Die Macht konzentrierte sich zunehmend in den Händen einer einzigen Partei, die Rede- und Versammlungsfreiheit wurde beschnitten, und eine aggressive militärische Rhetorik nahm zu. Doch diese Angelegenheiten werden traditionell der Innenpolitik zugeschrieben, und die EU-Mitgliedstaaten hatten kein gesteigertes Interesse daran, die diplomatischen Beziehungen zu ihrem wichtigsten Rohstofflieferanten wegen dessen innerer Angelegenheiten aufs Spiel zu setzen. In den Bereich der Außenpolitik fiel allerdings die Beteiligung Russlands am Krieg in Georgien im Jahre 2008. Die EU und die USA zogen es jedoch vor, nicht überzureagieren. In diesem Zusammenhang erscheint interessant, dass der ehemalige US-Präsident Barack Obama, dessen erste Amtszeit ebenfalls 2008 begann, seine viel beachtete, jedoch letztendlich erfolglose „Reset Policy“ (Politik des Neuanfangs) unmittelbar nach dem Georgien-Krieg verkündete.

2014 annektierte Russland die Halbinsel Krim und begann, die Separatisten in der Ostukraine zu unterstützen, was einen langen militärischen Konflikt nahe den EU-Grenzen mit Tausenden Opfern zur Folge hatte. Die Annexion und Russlands anschließendes Vorgehen stellten nicht einfach nur eine Verstoß gegen das Völkerrecht dar, sondern den Angriff einer Atommacht mit ständigem Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auf ein deutlich kleineres Land, das damals im Übrigen eine instabile politische Lage zu bewältigen hatte. Russland begründete dieses Vorgehen damit, man werde die Interessen der Russen schützen, „egal, wo sie leben“. Somit konnten insbesondere die in geografischer Nähe zu Russland liegenden EU-Länder (wie Polen und Rumänien) sowie die baltischen Staaten mit ihrer großen russischen Diaspora sich nicht mehr sicher fühlen.

Russische Ängste

Russland war also einer der Hauptgründe dafür, dass sich die EU-Mitglieder für PESCO aussprachen. Doch wie reagierte Russland? Betrachtet Russland PESCO als eine Bedrohung, genau wie es bei anderen westliche Sicherheitsinitiativen der Fall ist? Es lohnt sich, diese Frage auf mehreren Ebenen zu erörtern. Zunächst ist hier natürlich die Position der Regierungsvertretermit der „offiziellen“ Sichtweise zu erwähnen (die sich im Kontext Russlands stets direkt auf die Regierung bezieht). Weiterhin relevant sind der wissenschaftliche Diskurs und schließlich die Meinungen russischer Experten und politischer Journalisten.

Bei näherer Betrachtung stellt sich allerdings heraus, dass es bislang kaum Stellungnahmen russischer Behörden zu PESCO gibt. Lediglich Wladimir Tschischow, der ständige Vertreter Russlands bei der EU, hat sich bislang geäußert. In einem Interview mit der Nachrichtenagentur Sputnik, die in Europa und den USA als Propagandawerkzeug des Kremls gilt, erklärte er: „Es ist wohl noch etwas verfrüht, auf die Perspektiven für diese Kooperation einzugehen [...]. Wir werden sehen, wie sie umgesetzt wird. Ich denke, die Umsetzung von PESCO wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Meiner Meinung nach wird man [die EU] weiterhin das tun, was de facto in der Europäischen Verteidigungsagentur bereits Usus ist.“7 Anschließend reflektiert der ständige Vertreter über die Vielfalt in der EU und den möglichen Investitionsschub, den PESCO in der EU-Rüstungsindustrie auslösen könnte. Ganz eindeutig gibt es keine Anzeichen dafür, dass PESCO von Russland als Gefahr eingestuft wird. Das Interview erscheint eher als Stellungnahme eines desinteressierten Politologen denn eines Staatsbediensteten.

PESCO wurde 2017 ins Leben gerufen. Mit Stand Oktober 2018 verzeichnet die russische Fachliteratur keinerlei Haltung dazu. Dies ist vielleicht nicht ungewöhnlich, da bedeutende politische Ereignisse oft plötzlich eintreten und die wissenschaftliche Literatur sie nicht in derselben Geschwindigkeit verarbeiten kann. Doch während der Beginn von PESCO die Titelblätter europäischer und amerikanischer Tageszeitungen beherrschte, fiel auch die Berichterstattung der russischen Medien denkbar knapp aus. Einige russische Politikwissenschaftler äußerten sich allerdings detailliert in einer Reihe von Pressepublikationen. Manche unter ihnen machten sich darüber lustig, dass es bereits seit der Westeuropäischen Union im Jahr 1954 immer wieder erfolglose Versuche gegeben habe, eine Verteidigungsorganisation für die EU zu gründen. Manche betonen, die EU verfüge schließlich bereits über eine eigene Verteidigungsstruktur, die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP). Selbst wenn man deren militärische Effektivität hinterfragen wolle, brauche man doch wohl nicht gleich eine zweite Struktur dieser Art.

Die politischen Journalisten gingen noch weiter. Die rechtskonservative russische Presse sieht tendenziell überall die „Hand Amerikas“ am Werk. (Dabei sollte man im Hinterkopf behalten, dass die russische Regierung die Massenmedien in Russland sehr umfangreich kontrolliert. Hiervon ausgenommen sind lediglich die kleineren regionalen sowie einige überregionale Zeitungen. Gegenüber der rechtsgerichteten Presse ist die russische Regierung jedenfalls deutlich toleranter als gegenüber den liberalen Medien.) PESCO, so war zu lesen, sei unter dem Druck der Vereinigten Staaten gegen Russland initiiert worden. Als Beleg wurde Jens Stoltenberg zitiert, der erklärt hatte, die NATO solle nach Möglichkeit künftige PESCO-Kapazitäten nutzen können. Andere Medien hoben positiv hervor, dass die EU begonnen habe, sich in Sicherheitsfragen weiter von den USA zu entfernen. Eine Aufspaltung der transatlantischen Verteidigungspartnerschaft ist ein lang gehegter Traum zahlreicher russischer Experten für internationale Beziehungen.

Bei der Diskussion über die Ansichten von Regierungsvertretern und politischen Beobachtern sollten wir eine weitere relevante Ebene nicht aus den Augen verlieren, nämlich die russische Gesellschaft. Zur Wahrnehmung von PESCO in der russischen Bevölkerung liegen keine Forschungsdaten vor. Es gibt jedoch eine Umfrage des unabhängigen Levada-Centers aus dem Jahr 2017 zur Haltung der Russen gegenüber der EU. Dieser Umfrage zufolge wird die EU beinahe so negativ wahrgenommen wie die Vereinigten Staaten. 60 Prozent der Befragten sehen die USA, 54 Prozent die EU als Bedrohung.8 Ganz eindeutig nimmt also die Mehrheit der russischen Bevölkerung die EU als Feind wahr. In der Vergangenheit galten die USA im Vergleich zu Europa als eine deutlich größere Sicherheitsbedrohung. Diese Haltung wurde in erster Linie von der sowjetischen Propaganda beeinflusst. Der Begriff „Europa“ löste in der Sowjetunion keine negative Reaktion aus, da beinahe die Hälfte des europäischen Kontinents „sozialistisch“ war und somit nicht als Feind gelten konnte. Während des Kalten Krieges war die Rolle des größten Feindes den Vereinigten Staaten vorbehalten.

Russland hat in postsowjetischer Zeit verschiedene Phasen internationalen und sicherheitspolitischen Denkens durchlebt. Unmittelbar nach dem Zusammenbruch der UdSSR war Russland zunächst zu einer Kooperation mit dem Westen bereit. Während seiner ersten Amtszeit bot Präsident Putin den Vereinigten Staaten sogar bereitwillig seine Hilfe beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus an, in der Hoffnung, die USA würden Russland im Gegenzug bei der Entwicklung hin zu einem korrupten autoritären Staat nicht so genau auf die Finger schauen. Als sich diese Strategie als erfolglos herausstellte, versagte Putin seine Kooperationsbereitschaft. Heute werden die Entscheidungen, die in den höchsten Rängen der russischen Außenpolitik getroffen werden, wieder vom Denken des Kalten Krieges bestimmt. Dieses schreibt Präsident Putin die zentrale Rolle zu. Gemäß der russischen Verfassung hat der Präsident sehr umfangreiche politische Machtbefugnisse in der Russischen Föderation und wird lediglich in begrenztem Maße vom Parlament – der Staatsduma – kontrolliert. Da das moderne Russland keine demokratische Gewaltenteilung kennt und der gesetzgebende Arm vollständig von der Exekutive gesteuert wird, ist Präsident Putin kaum irgendeinem Kontrollmechanismus unterworfen. Wie bei autoritären Regierungssystemen üblich, dreht sich im außenpolitischen Entscheidungsprozess alles um das Staatsoberhaupt. Die russischen Behörden sind daher in besonderem Maße auf die militärische Stärke des Landes angewiesen und investieren seit 2008, als der Krieg in Georgien schwerwiegende Mängel in der russischen Armee zutage förderte, enorme Summen in die Modernisierung des Militärs. Wenn wir uns der theoretischen Begrifflichkeiten der Internationalen Beziehungen bedienen, könnte man diese Vorgehensweise als klassischen politischen Realismus bezeichnen.

Folglich wurde die EU in den Augen Russlands durch ihre mangelnde Bereitschaft zum Einsatz militärischer Gewalt sowie durch die Wahrung von Menschenrechten, demokratischen Freiheiten und Toleranz extrem geschwächt. Im Übrigen führt die Sicherheitspolitik der größten EU-Länder nicht dazu, dass die EU von Russland als Bedrohung gesehen wird. Frankreich, eine der treibenden Kräfte der europäischen Integration, verließ die NATO unter Präsident de Gaulle und trat der Organisation erst 2007 unter Nicolas Sarkozy wieder bei. Deutschland hält sich traditionell zurück, wenn es um Einsätze der Bundeswehr im Ausland geht. Das Vereinigte Königreich bereitet sich auf den Brexit vor. Russland betrachtet die EU somit nicht als direkte militärische Bedrohung und wird auch PESCO nicht so sehen. Dass die NATO Logistik und Kapazitäten von PESCO nutzen könnte, löst allerdings sehr wohl Besorgnis aus. In der Logik des Kalten Krieges ist die NATO nun wieder mit dem traditionell größten Feind, das heißt den Vereinigten Staaten, verbunden. Die EU wird in den russischen Medien als schwache und bürokratische Organisation dargestellt, die nicht einmal ihre eigenen Grenzen zu verteidigen in der Lage sei und darüber hinaus auch zu gespalten, um schnell zu handeln. Die NATO hingegen wird als aggressiver militärischer Block beschrieben, der sich langsam den Grenzen Russlands nähert, um die Souveränität des Landes zu beschränken und an die russischen Rohstoffe zu kommen. Grund genug für Russland zu befürchten, PESCO könnte die NATO stärken.

Russland weiß jedoch um den Einfluss der EU als Soft Power: freie Wahlen, Korruptionsbekämpfung, Demokratisierung, Menschenrechte – die Werte, für die sich die EU-Institutionen einsetzen, stehen ganz bestimmt nicht auf der Liste der Themen, die von den russischen Behörden vertreten werden. Des Weiteren teilt man die Welt, im Einklang mit dem vorherrschenden Denken des Kalten Krieges und den Konzepten des politischen Realismus, nach wie vor in Einflusssphären. Demnach betrachtet Russland die ehemaligen Sowjetrepubliken als den eigenen „Hinterhof“. Dies erklärt die harsche Reaktion auf die Initiative der EU für eine Östliche Partnerschaft unter Einbezug der ehemaligen Sowjetrepubliken Ukraine, Georgien, die Republik Moldau und Aserbaidschan. Diese Länder waren Russlands außenpolitischer Causa gegenüber stets weniger loyal eingestellt (dabei gilt es zu bedenken, dass der Ausgangspunkt für den russischen Angriff in der Ukraine deren Absicht war, ein Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen). Doch auch Weißrussland und Armenien, die normalerweise zu Russlands wichtigsten Verbündeten im postsowjetischen Raum zählen, bekundeten Interesse, eine Form von Partnerschaft mit der EU einzugehen. Außenminister Sergei Lawrow verkündete prompt, die Östliche Partnerschaft stelle den Versuch dar, „Länder aus der Position zu verdrängen, die sie als souveräne Staaten einnehmen wollen“9.

Ein Blick in die Zukunft

Es ist fast unmöglich, politische Ereignisse vorauszusagen. Mithilfe einer Technik zur Simulation verschiedener Basisszenarien bekommen wir jedoch eine gewisse Vorstellung. In diesem Fall sind drei Möglichkeiten vorstellbar, wobei die Handlungen Russlands in puncto PESCO mit Sicherheit von den zukünftigen Entwicklungen im Land abhängen werden. In Szenario Nummer eins erweist sich PESCO lediglich als Papiertiger und erzielt keine nennenswerten Ergebnisse. Für Russland wäre diese Möglichkeit gewiss die günstigste: Das Land könnte den Status quo in seiner Sicherheitspolitik gegenüber der EU beibehalten.

Szenario Nummer zwei beinhaltet eine Weiterentwicklung von PESCO und eine intensive Kooperation zwischen PESCO und NATO. Dies wäre für Russland das schlechteste Ergebnis, und die russischen Behörden fürchten es entsprechend am meisten. 

In diesem Fall könnte Russland seine Politik zur Spaltung der EU und insbesondere der militärischen Zusammenarbeit der EU mit den USA verstärken. Es gibt bereits einige besorgniserregende Anzeichen dafür, dass Russland genau so handeln wird – im November 2018 drückte der russische Präsident Wladimir Putin unerwartet seine Unterstützung für das vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron angeregte Projekt einer europäischen Armee aus. „Europa ist […] eine mächtige Wirtschaftsunion, und es ist nur natürlich, dass sie unabhängig sein wollen […] und im Bereich der Verteidigung und Sicherheit souverän sein wollen“, sagte Putin. Die Aussage wurde von Donald Trump heftig kritisiert, gehört aber durchaus zum Konzept der multipolaren (nicht von den USA dominierten) Welt, die Putin seit Anfang der 2000er Jahre befürwortet. Es ist klar, dass das Anliegen des russischen Präsidenten nicht die erfolgreiche Verteidigung der EU ist. Einer möglichen weiteren Abspaltung Europas von den USA in militärischen Fragen sieht er mit Freuden entgegen.

Russland scheint zudem zahlreiche Hebel zu haben, um auf die EU-Länder Einfluss zu nehmen – seine Öl- und Gaslieferungen zum Beispiel, aber auch die Wirtschaftspartnerschaften, die derzeit durch Sanktionen geschwächt, jedoch noch nicht vollständig zum Erliegen gekommen sind. Im Übrigen sind einige Staatschefs prorussisch eingestellt, wie der ungarische Präsident Viktor Orbán oder der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte. Große russische Diasporas in manchen EU-Ländern – vor allem im Baltikum – stehen Russland ebenfalls als Instrument zur Verfügung, um die Innen- und Außenpolitik dieser Staaten zu beeinflussen. Zudem könnte Russland sich darauf verlegen, EU-kritische Parteien zu finanzieren – die Unterstützung, die Marine Le Pens Front National in Frankreich erhält, ist hier das offensichtlichste Beispiel – oder seine Agenten in EU-Ländern einzusetzen, um die politische Lage zu destabilisieren. Der jüngste Spionageskandal, der nach der versuchten Vergiftung eines ehemaligen russischen Spions im Vereinigten Königreich ans Licht kam, zeigt, dass diese Sorgen alles andere als unbegründet sind. Die Tatsache, dass die EU gespalten ist und verschiedene EU-Mitgliedsstaaten eine unterschiedliche Sicherheitspolitik verfolgen, spielt den russischen Behörden in die Hände. All das macht Russland zu einer erheblichen Sicherheitsbedrohung für die EU und sollte bei der Planung von Verteidigungsstrategien mitberücksichtigt werden.

Im dritten Szenario steht PESCO nicht in enger Abstimmung mit der NATO, sondern wird von den Mitgliedsstaaten als unabhängige EU-Sicherheitsstruktur entwickelt. Diese Situation wäre für die russischen Behörden unter Umständen weniger gefährlich als das zweite Szenario, da die EU, wie oben erwähnt, nicht als nennenswerte Verteidigungs- und Sicherheitsstruktur wahrgenommen wird. Doch auch in diesem Fall wäre es denkbar, dass die russischen Behörden ihre Anstrengungen, zumindest in Form von Propaganda, auf die Destabilisierung von PESCO ausrichten. Die EU-Mitgliedstaaten sollten diese Gefahr nicht unterschätzen.

Wer die Richtung des derzeitigen sicherheitspolitischen Denkens der russischen Behörden verstehen will, wird folgendes Zitat aufschlussreich finden: „Wir sollten an der Umsetzung von drei Mega-Projekten arbeiten. Diese sind: die Herstellung neuer Kernwaffen, die Stärkung der Armee und der Schutz der Bevölkerung vor einer Beeinflussung ihres Gewissens von außen. Es herrscht Krieg gegen Russland. Wir müssen zusammenstehen und uns unserem Feind von außen entgegenstellen.“10 Es ist nicht schwer, sich einen sowjetischen Parteifunktionär zu Zeiten des Kalten Krieges vorzustellen, der exakt die gleichen Worte ausspricht – insbesondere angesichts des Umstands, dass diese Worte von Alexander Beglow stammen, dem kommissarischen Gouverneur von Sankt Petersburg, der zweitgrößten Stadt Russlands, also von einem Beamten, der nicht allzu tief in die Außenpolitik des Staats involviert sein dürfte. Leider veranschaulichen diese Worte, was ein Großteil des heutigen Russlands unter einer „modernen“ Denkweise versteht.

1 Konsolidierte Fassung des Vertrags über die Europäische Union, 2012, S. 39.

2 Siehe www.consilium.europa.eu/media/­31511/171113-pesco-notification.pdf
(S­tand: 29. Oktober 2018).

3 Mogherini, Federica (2017): A historic day for the European Union. www.federicamogherini.net/historic-day-pesco/ (Stand: 19. Oktober 2018).

4 Whitney, Nick (2017): EU efforts miss the open goal again. www.ecfr.eu/article/commentary_eu_defence_efforts_miss_the_open_goal_again (Stand:
21. Oktober 2018).

5 Soboczynski, Adam (2017): Merkel: Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei. www.zeit.de/2017/23/angela-merkel-rhetorik-deutschland-usa (Stand:
20. Oktober 2018).

6 Europäische Kommission (2017): Reflexionspapier über die Zukunft der europäischen Verteidigung, S. 11. ec.europa.eu/commission/sites/beta-political/files/reflection-paper-defence_de.pdf

7 EU to Optimize Defense Industry for Its Own Manufacturers – Russian Envoy. sputniknews.com/europe/201711211059296791-eu-defense-industry/ (Stand: 21. Oktober 2018).

8 Отношение россиян к США и Евросоюзу ухудшается. [Die Haltung der Russen gegenüber den USA und der EU verschlechtert sich.] www.vedomosti.ru/politics/news/2017/12/18/745582-otnoshenie-rossiyan (Stand: 21. Oktober 2018).

9 Pop, Valentina (2009): EU expanding its ‘sphere of influence,’ Russia says.  euobserver.com/foreign/27827 (Stand: 21. Oktober 2018).

10 Казак с партийным опытом. [Ein Kosak mit Parteierfahrung.] www.rbc.ru/newspaper/2018/10/09/5bbb09a69a79477c8982bde9 (Stand:
21. Oktober 2018).

Zusammenfassung

Maxim Kuzmin

Maxim Kuzmin studierte Politikwissenschaften, Internationale Beziehungen und Internationales Recht sowie Friedens- und Sicherheitsforschung. Sein Masterstudium am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg schloss er mit einer Arbeit zum Thema „Mögliche Auswirkungen des Brexits auf die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union“ ab. In seiner Forschung beschäftigt er sich unter anderem mit dem Brexit, der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU und den transatlantischen Sicherheitsbeziehungen.

herold0909@gmail.com


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