Kontroversen in Militärethik und Sicherheitspolitik
Europäische Armee – Von Realitäten und Chimären
Der letzte NATO-Gipfel am 11./12. Juli 2018 ging noch einmal glimpflich aus. Zunächst gab es viel Theaterdonner von US-Präsident Donald Trump. Er prangerte die angeblich unfaire Lastenteilung an und mahnte die Erfüllung des vereinbarten Ziels an, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für den Militärhaushalt auszugeben. Die NATO und mehr noch die transatlantischen Beziehungen durchleben seit Trumps Amtsantritt eine veritable Vertrauens- und Sinnkrise, die wiederum in der ebenfalls kriselnden EU den Ruf nach strategischer Autonomie verstärkt. Der Weg dahin, so die Protagonisten mit Berufung auf den Lissabon-Vertrag, würde über den Ausbau der Gemeinsamen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik (GSVP) führen. Seit einiger Zeit ist schon vom Aufbau einer Europäischen Armee die Rede1, vom zu stärkenden europäischen Pfeiler in der NATO2 und vom Ziel einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion3. Der aktuelle Koalitionsvertrag verspricht den „Ausbau einer europäischen Verteidigungsunion“ und weitere Schritte auf dem Weg zur „Armee der Europäer“4.
Wäre auch der Verteidigungsbereich vergemeinschaftet wie die Zoll- und Währungspolitik, dann, so die Befürworter, sähe alles anders aus. Wäre also eine integrierte europäische Armee nicht die Lösung? Wäre sie nicht rüstungswirtschaftlich effizienter, integrationspolitisch fortschrittlicher, weltpolitisch effektiver und sicherheitspolitisch nützlicher? So veröffentlichte das Europäische Parlament einen Bericht, der die Kosten der verteidigungspolitischen Zersplitterung der EU auf jährlich bis zu 136 Milliarden Euro schätzt.5 Egon Bahr wiederum meinte, die Bildung einer europäischen Armee führe dazu, dass Europa seine Rolle als sicherheitspolitisches Protektorat Amerikas überwinde.6 Das wäre angesichts der erratischen Politik eines Donald Trump und der damit verbundenen Ungewissheit der amerikanischen Sicherheitsgarantie eine verlockende Aussicht. Doch warum ist es den Europäern bislang nicht gelungen, eine eigenständige Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu entwickeln? Ein historischer Rückblick gibt erste Aufschlüsse.
Historischer Rückblick7
Das Projekt einer Europäischen Armee, das insbesondere die deutschen Regierungsparteien als langfristiges Ziel befürworten, stand zwischen 1950 und 1954 bereits einmal vor der Realisierung. Damals war Frankreich die treibende Kraft für seine Initiierung und für sein Scheitern. Der Kalte Krieg führte kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu einer veränderten Bedrohungslage, in deren Mittelpunkt zunehmend die Sowjetunion und weniger Deutschland stand. Der 1948 zwischen Frankreich, Großbritannien und den Beneluxstaaten geschlossene Brüsseler Vertrag hatte sich noch gegen eine Aggression der Sowjetunion und Deutschlands gerichtet. 1949 wurde Frankreich Gründungsmitglied der NATO. Angesichts des amerikanischen Drucks, Westeuropa als „Festlandsdegen“ gegen die Sowjetunion aufzubauen, verfolgte Paris ab 1950 eine Deutschland- und Sicherheitspolitik, die der Formel „Sicherheit und Kontrolle durch Integration“ folgte.8
Zunächst erfolgte 1952 die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, mit der Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland, Italien und die Beneluxstaaten diese damals wirtschaftlich und rüstungspolitisch wichtigen Sektoren einer gemeinsamen hohen Behörde unterstellten. Das Vorhaben einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft unterzeichneten 1952 zwar alle Teilnehmerstaaten. Es scheiterte aber 1954 nach harten internationalen Verhandlungen an der ablehnenden Haltung Frankreichs, das aufgrund zwischenzeitlich veränderter parlamentarischer Mehrheitsverhältnisse nicht mehr zu einer umfassenden Einschränkung der nationalen Souveränität in diesem vitalen Politikfeld bereit war. Dadurch wurde auch der 1953 vorgelegte Verfassungsentwurf für eine Europäische Politische Gemeinschaft, die stark supranationale Züge hatte, obsolet. Das Ende des Koreakrieges und der Tod Stalins sowie die Ergebnisse der Genfer Indochina-Konferenz und die schwindende Aussicht auf eine deutsche Wiedervereinigung hatten die Sicherheitslage für Paris verändert. Als „Ersatzlösung“ wurde die Bundesrepublik Mitglied der NATO und der aus dem geänderten Brüsseler Vertrag hervorgegangenen Westeuropäischen Union (WEU).
Während die NATO künftig für die militärische Sicherheit nach außen zuständig war, oblag der WEU vor allem die Aufgabe der Rüstungskontrolle gegenüber der Bundesrepublik. So scheiterte der bislang einzige Versuch, eine europäische Armee aufzubauen. Wenn aber schon in einer historisch günstigen Konstellation wie damals eine europäische Armee nicht akzeptabel war, bedeutet das für die heutigen Erfolgsaussichten nichts Gutes.
Der in den 1980er-Jahren erfolgte Versuch, die WEU nach dreißigjährigem Dornröschenschlaf zu reformieren und als institutionellen Rahmen für den Aufbau europäischer Verteidigungskapazitäten zu nutzen, lief letztlich auch ins Leere. Ausgangspunkt für diesen Prozess war die Aufhebung aller im konventionellen Bereich noch bestehenden, die Bundesrepublik betreffenden einseitigen konventionellen Rüstungsbeschränkungen. Es folgten einige bi- und multilaterale Schritte der Militärkooperation sowie die Abmachung, sich in allen militärischen Fragen zu konsultieren. Im Maastrichter und im Amsterdamer Vertrag über die Europäische Union noch als militärischer Arm der EU vorgesehen, musste die WEU schließlich dem 1999 beschlossenen Vorhaben weichen, die GSVP im Rahmen der EU aufzubauen.
Vorausgegangen waren die Balkankriege in den 1990er-Jahren, welche die Unfähigkeit der meisten EU-Staaten vor Augen führten, in ihrer Nachbarschaft militärisch zu intervenieren. Darum einigten sich Frankreich, das ursprünglich eine eigene europäische Verteidigung im Rahmen der WEU anstrebte, und Großbritannien, das genau das verhindern wollte, weil es eine Schwächung der NATO befürchtete, auf dem Gipfel von Saint-Malo darauf, Interventionskapazitäten im Rahmen der EU aufzubauen. Deren Hauptzweck war und ist aber nicht der Aufbau einer europäischen Armee, um die Verteidigung Europas zu gewährleisten, sondern die Verbesserung der militärischen Fähigkeiten für das internationale Krisenmanagement. Der Hauptadressat dieser Initiative war übrigens Deutschland, das nach Ansicht von Paris und London viel zu wenig in militärische Kapazitäten investierte.
GSVP im Werden
Die GSVP entwickelte sich zunächst sehr dynamisch. Sie wurde vom damaligen Hohen Beauftragten der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, zu Beginn als das „Integrationsprojekt der nächsten Dekade“ eingestuft.9 Dieser mit den Europäischen Räten von Köln und Helsinki 1999 startende Prozess lässt sich in drei Etappen einteilen. In der ersten Phase wurden die wesentlichen Institutionen aufgebaut, danach begann die operative Phase. Seit 2016 läuft die dritte Etappe, die sich verstärkt dem Aufbau von zivilen und militärischen Kapazitäten widmet. Dieser stand zwar von Beginn an auf der Agenda und war ja der eigentliche Anlass dafür, dass die GSVP auf die Schiene gesetzt wurde. Sie blieb aber nicht zuletzt wegen der 2008 ausgebrochenen Finanzkrise weit hinter den Erwartungen zurück.
Im Amsterdamer Vertrag und im Vertrag von Nizza schuf die EU die vertraglichen Grundlagen für die Durchführung von Krisenmanagementoperationen. Erstens wurde das Amt des Hohen Vertreters für die GASP geschaffen, der zugleich Generalsekretär des Rates ist. Zweitens wurde ihm mit der Policy Unit ein kleiner Stab zur Seite gestellt, der mittlerweile auf einen veritablen Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) angewachsen ist. Drittens wurden die Petersberg-Aufgaben in den Vertrag übernommen.10 Damit wurde zivile und militärische Krisenbewältigung zu einem Aufgabenbereich der EU. Als Nächstes wurde mit dem Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee (PSK) ein Kernstück des Krisenmanagements geschaffen. Es setzt sich aus den Ständigen Vertretern der Mitgliedstaaten und einem Vertreter der Kommission zusammen. Es nimmt unter der Verantwortung des Rates die politische Kontrolle und die strategische Leitung von Operationen zur Krisenbewältigung wahr. Für das zivile Krisenmanagement wurde ein gesonderter Ausschuss gegründet (Committee for Civilian Aspects of Crisis Management, CIVCOM), der aus Vertretern der Mitgliedstaaten und der Kommission besteht und das PSK berät. Der Militärausschuss (European Union Military Committee, EUMC) besteht aus den Generalstabschefs der Mitgliedstaaten und ist das oberste militärische Organ in den politisch-militärischen Strukturen des Rates. Er berät das PSK in allen militärischen Fragen. Ihm arbeitet ein Militärstab zu (European Union Military Staff, EUMS). Im EAD sind zwei Stäbe für ziviles und zivil-militärisches Krisenmanagement eingegliedert: Die Civil Planning and Conduct Capability, die eine Art Hauptquartier für ziviles Krisenmanagement ist, und das Crisis Management and Planning Directorate, das für integrierte zivil-militärische Planung zuständig ist.11
Die operative Phase der GSVP begann 2003 und umfasst bislang 34 zivile und militärische Operationen. Sie erfolgten zunächst auf der Grundlage der 2003 verabschiedeten ersten European Security Strategy (ESS), die fünf Kernbedrohungen benannte: Terrorismus, Staatsversagen, regionale Konflikte, Proliferation von Massenvernichtungswaffen und organisiertes Verbrechen. Gegenwärtig laufen sechs militärische und zehn zivile Operationen beziehungsweise Missionen mit insgesamt circa 5000 Einsatzkräften. Die meisten dieser Einsätze zeichnen sich durch eine geringe Personalstärke und ihren zivilen Charakter aus. Acht finden gegenwärtig in Afrika statt, sechs in Europa. Von den militärischen Operationen ist keine im militärischen High-End-Spektrum. Der vom Umfang her anspruchsvollste Militäreinsatz war die Operation in Bosnien und Herzegowina mit zeitweise 7000 Einsatzkräften.12 Die vom Einsatzgebiet her anspruchsvollste Operation war EUFOR Tschad/ZAR mit knapp 4000 Einsatzkräften. Die anspruchsvollste zivile Mission (EULEX) fand mit zeitweise 2000 Kräften im Kosovo statt.13
Die dritte Phase startete mit der neuen Globalen Strategie der EU (EUGS) im Jahre 2016. Sie löste die ESS ab und lässt sich von fünf Prinzipien leiten: Sicherheit für die Union, staatliche und gesellschaftliche Resilienz, integrierter zivil-militärischer Ansatz für die Konfliktbearbeitung, kooperative regionale Ordnungen und Global Governance.14 Weitere wichtige Stationen sind die Verabschiedung einer Roadmap für die Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeiten 2016, die Forderung des Europäischen Parlaments, eine Europäische Verteidigungsunion aufzubauen, 2016, die Verabschiedung eines European Defence Action Plan durch die Europäische Kommission im selben Jahr, der Beschluss zur Einrichtung eines Europäischen Verteidigungsfonds 2017, die Verabschiedung eines Reflexionspapiers über die Zukunft der europäischen Verteidigung durch die Europäische Kommission, der Beschluss, ein ständiges militärisches Hauptquartier für nicht exekutive Militäroperationen einzurichten, der Beginn der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) mit zunächst 17 Projekten, einem nationalen Implementierungsplan und einer jährlichen sowie einer strategischen Überprüfung 2021 und 2025 und die Einigung auf die Einrichtung eines Programms für die Entwicklung der europäischen Verteidigungsindustrie 2018.
Eher ein Trugbild als ein realistisches Ziel
Die skizzierten Schritte zum Aufbau der GSVP zeigen zweierlei: Sie entwickelt sich schrittweise, aber langsam. Der erhoffte große Wurf in Richtung europäischer Armee ist bislang ausgeblieben. Wie passt diese Zielsetzung mit dem Vertrag von Lissabon zusammen? Dieser bestimmt einerseits in Artikel 4, dass „die nationale Sicherheit weiterhin in die alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten [fällt]“. Er ist andererseits flexibel angelegt, gibt er doch in der Präambel das Ziel einer „immer engeren Union der Völker Europas“ vor. Als Ziel der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) nennt Artikel 42 „die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik […], die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte“. Was das integrationspolitisch konkret bedeutet, bleibt unklar, denn eine gemeinsame Verteidigung ist mit und ohne europäische Armee vorstellbar. Ebenso offen ist, welche politische Gestalt die EU annehmen soll. Gleichwohl gibt es einige gute Argumente, die gegen eine europäische Armee sprechen.15
Mit seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon vom 30. Juni 2009 bekräftigt das Bundesverfassungsgericht einerseits die in Artikel 23 Grundgesetz enthaltene Ermächtigung zur Beteiligung an einer als Staatenverbund konzipierten Europäischen Union. Andererseits verdeutlicht es, dass das Grundgesetz die für Deutschland handelnden Organe nicht dazu ermächtigt, „durch einen Eintritt in einen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes in der Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands aufzugeben“. Dieser Schritt ist „allein dem unmittelbar erklärten Willen des Deutschen Volkes vorbehalten“.16 Die klassische Finalitätsfrage der Europäischen Union – soll die EU zu einem Bundesstaat (inklusive einer integrierten Armee) führen oder soll sie ein Gebilde sui generis in Form einer Staatenverbindung bleiben? – wird faktisch zugunsten der zweiten Zielvorstellung entschieden. Das Urteil verbaut zwar nicht die Möglichkeit eines Aufgehens deutscher Staatlichkeit in einer europäischen Föderation. Karlsruhe hat aber eine extrem hohe Hürde errichtet: Es bedürfte einer neuen Verfassung, die den Verzicht auf staatliche Souveränität ausdrücklich enthält und der das deutsche Volk unmittelbar zustimmen muss.
Ein weiteres verfassungsrechtliches Argument spricht gegen eine europäische Armee: Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 1994 entschieden, dass der Bundestag vor einem Auslandseinsatz der Bundeswehr ein entsprechendes Mandat erteilen muss. Die deutsche Armee ist aus gutem Grund ein Parlamentsheer. Selbst wenn sich die EU zu einem regionalen System gegenseitiger kollektiver Sicherheit entwickeln würde, so das Verfassungsgericht, wäre eine Supranationalisierung der Entscheidung über einen konkreten Einsatz von Streitkräften wegen des Friedens- und Demokratiegebots des Grundgesetzes nicht zulässig. Zugleich besagt das Urteil, dass damit allerdings „keine unübersteigbare Grenze für eine technische Integration eines europäischen Streitkräfteeinsatzes“ gezogen sei.17 Als Beispiele nennt es gemeinsame Führungsstäbe und die Bildung gemeinsamer Streitkräftedispositive.
Ein weiteres Gegenargument ist, dass die deutschen Parteien zwar vom Ziel einer europäischen Armee reden, aber diese in letzter Konsequenz nicht wollen, zumindest nicht als Element eines europäischen Bundesstaates. Dieses Ziel haben mittlerweile alle aus ihrer Programmatik gestrichen. Abgesehen davon, dass eine europäische Armee, die diesen Namen verdient, eine bundesstaatliche Verfasstheit der EU eigentlich voraussetzt, wirft die gewünschte militärische Integration Fragen auf, deren Beantwortung die deutsche Politik gern umgeht. Wohin soll eine stärker vergemeinschaftete GASP führen? Wenn ein europäischer Bundesstaat nicht mehr das Ziel ist, wie soll die europäische Armee denn politisch geführt werden? Was sind die Folgen für das Verhältnis zur NATO? Wäre diese Armee angesichts eines fehlenden europäischen Konsenses in der Frage der Anwendung militärischer Gewalt überhaupt einsatzfähig? Die fehlenden Antworten lassen vermuten, dass es sich bei der Forderung bloß um ein Schlagwort handelt. Wenn sie wirklich ernst gemeint wäre, müssten die Regierungsparteien konkrete Antworten auf die oben aufgeworfenen Fragen geben und entsprechend ambitionierte Initiativen starten.
Selbst wenn die Bundesregierung das Ziel einer Europäischen Armee ernsthaft verfolgte, bliebe das Vorhaben aufgrund der Widerstände der Verbündeten eine Chimäre. Den neutralen EU-Mitgliedern bleibt dieser Weg schon aus verfassungsrechtlichen Gründen versperrt. Sie können zwar problemlos an der GSVP teilnehmen, wollen aber ihren neutralen Status nicht aufgeben. Erst recht wollen sie nicht in einem europäischen Bundesstaat aufgehen. Das streben auch Großbritannien und Frankreich nicht an, ebenso wenig die mitteleuropäischen EU-Mitglieder. Keiner der Verbündeten will zudem die NATO infrage stellen, denn sie wissen: NATO und europäische Armee schließen sich eigentlich aus, weil eine funktionstüchtige europäische Armee die NATO obsolet machen würde.
Der fehlende Wille der Partner zum Aufbau einer europäischen Verteidigung ist nicht nur eine Frage des politischen Voluntarismus. Er wurzelt vielmehr in den unterschiedlichen sicherheitspolitischen Kulturen. Hier setzt die Europäische Interventionsinitiative von Präsident Macron an, die außerhalb der EU angesiedelt ist.18 Während die Bevölkerung in Deutschland aus historischer Erfahrung heraus sehr interventionsskeptisch und der entsprechende Handlungsspielraum der Exekutive durch den verfassungsrechtlich verankerten Parlamentsvorbehalt eingeschränkt ist, sieht das in Frankreich anders aus: Die Bevölkerung ist weniger interventionsskeptisch, und der sicherheitspolitische Handlungsspielraum des Staatspräsidenten ist größer. Hinzu kommt ein anderes Selbstverständnis der außenpolitischen Eliten, das sich aus ihrem ehemaligen Weltmachtstatus, ihren Beziehungen zu den ehemaligen Kolonien, dem Status als Siegermacht des Zweiten Weltkriegs und als Nuklearmacht sowie ihrem nationalen Unabhängigkeitsstreben speist.19
Gegen die Bildung einer europäischen Armee sprechen auch die korporativen Eigeninteressen vieler Akteure in den EU-Staaten. So würden die nationalen Verteidigungsministerien an Bedeutung verlieren oder gar ganz verschwinden. Das könnte zwar Geld sparen, würde aber politische Widerstände verursachen. Ähnliches gilt für gewichtige Teile der Streitkräfte. Allein die seit vielen Jahren beobachtbare Schwierigkeit, innerhalb eines Landes die Rolle der Teilstreitkräfte zugunsten von übergreifenden und integrierten Strukturen („jointness“) zu verändern, weist darauf hin, dass die Hindernisse sehr groß sind. Auch Akteure aus der Rüstungsindustrie wollen den nationalen Kuchen nicht gern mit anderen teilen, von den Arbeitnehmervertretern bislang geschützter Rüstungsbereiche ganz zu schweigen. Diese korporativen Widerstände gibt es in allen EU-Staaten, die über entsprechende Strukturen verfügen.
Selbst wenn die bislang aufgeführten Gegenargumente gegenstandslos wären, sprechen doch gewichtige normative Gründe gegen eine europäische Armee: Wäre eine EU mit gemeinsamen Streitkräften nicht eine klassische Großmacht, nur im europäischen Gewand? Würde dadurch nicht das Sicherheitsdilemma erhöht werden? Denn je stärker die Interventionskapazitäten und je größer der Wille, als Weltordnungsmacht militärisch einzugreifen, desto wahrscheinlicher sind Gegenreaktionen. Selbst wenn heute keine hegemonialen Absichten bestehen, könnte sich das im Laufe der Zeit ändern.
Vor diesem Hintergrund kommt der parlamentarischen Kontrolle der Streitkräfte eine zentrale Bedeutung zu. Wie würde die demokratische Kontrolle des Militärs durch das Europäische Parlament gewährleistet? Gewiss könnte der Parlamentsvorbehalt nicht so umfassend durchgesetzt werden wie heute in Deutschland und Schweden. Aber selbst dann könnte die EU einen Militäreinsatz beschließen, den eine Mehrheit in Deutschland ablehnt, was bereits aus demokratietheoretischen Gründen nicht hinnehmbar ist. Letztlich geht es um eine Entscheidung über Leben und Tod. Notwendig ist also ein demokratisches Verfahren, das eine kritische öffentliche Debatte ermöglicht und Fehlentscheidungen von oben unwahrscheinlicher macht.
Für eine Friedensmacht Europa
Die Forderung nach einer europäischen Armee ist wirklichkeitsfern, irreführend und provinziell. Worin läge eigentlich ihr friedenspolitischer Mehrwert? Effektivitäts-, Effizienz- und Nützlichkeitsüberlegungen sind doch nicht wertfrei. Die oben angeführten Gegenargumente sprechen nicht gegen mehr europäische sicherheits- und verteidigungspolitische Zusammenarbeit. Die EU braucht eine eigenständige Außen- und Sicherheitspolitik. Ihre Mitglieder haben Schwächen in ihrer Streitkräftestruktur, bei bestimmten Fähigkeiten und bei der Koordinierung und Zusammenlegung relevanter Bereiche. Diese Schwächen lassen sich aber auch ohne europäische Armee beheben. Zudem spielen sich die Klagen über fehlende militärische Kapazitäten auf hohem Niveau ab, wenn man bedenkt, dass die Mitgliedstaaten zusammen mehr als das Dreifache für das Militär ausgeben als Russland und die EU als Ganzes die zweitstärkste Militärmacht der Welt ist. Die entscheidende Frage ist doch: Welcher politischen Zwecksetzung sollen die militärischen Fähigkeiten dienen? Die Forderung nach einer europäischen Armee spannt den Karren vor das Pferd. Sie beschreibt eher eine Chimäre als eine Vision. Eine bessere außen-, sicherheits- und verteidigungspolitische Zusammenarbeit sollte nicht den Aufbau einer integrierten Militär- und Weltmacht, sondern einer Friedensmacht20 Europa anstreben, die die Entscheidung über die Teilnahme an Militäreinsätzen bei den Mitgliedstaaten und den nationalen Parlamenten belässt.
1 2012 legten elf Außenminister der EU eine Initiative vor, in der sie u. a. für eine europäische Verteidigungspolitik plädieren mit dem Zusatz: „Für einige Mitglieder der Gruppe könnte dies letztlich eine europäische Armee umfassen.“ Abschlussbericht der Gruppe zur Zukunft Europas, 17.9.2012, www.ag-friedensforschung.de/themen/Europa/zukunft.pdf (Stand: 7. November 2018).
2 Strabenow, Michael (2018): „Der europäische Pfeiler.“ In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.7.2018, S. 1.
3 Vgl. Die Bundesregierung (2016): Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr. Berlin, S. 139.
5 European Parliament (2013): Cost of Non-Europe Report. (CoNE 4/2013.) Brüssel, S. 75.
6 Bahr, Egon (2014): „Braucht die Europäische Union eine eigenständige Sicherheitspolitik?“ In: Staack, Michael/Krause, Dan (Hg.): Europa als sicherheitspolitischer Akteur. Opladen, S. 18.
7 Dieser Abschnitt stützt sich auf Ehrhart, Hans-Georg (2014): „Eine Europäische Armee: eher Chimäre als Vision!“ In: Friedensgutachten 2014. Berlin, S. 87–99.
8 Ehrhart, Hans-Georg (1988): Die „deutsche Frage“ aus französischer Sicht (1981–1987). München, S. 93. Dort auch ausführlich zum hier nur skizzierten Verlauf.
9 Solana, Javier (2000): „Die Gemeinsame Europäische Sicherheits- und Außenpolitik – Das Integrationsprojekt der nächsten Dekade.“ In: Integration, Nr. 1, S. 1.
10 Die Petersberg-Aufgaben umfassten zu dieser Zeit humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Maßnahmen sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen. Der Lissabon-Vertrag erweiterte sie um gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, militärische Beratung und Stabilisierungseinsätze.
11 Vgl. Ehrhart, Hans-Georg (2010): „Die EU als internationaler Akteur und ihr Beitrag zu einer europäischen Friedensordnung.“ In: Staack, Michael (Hg.): Gesamteuropäische Friedensordnung 1989–2009. Bremen, S. 35 ff.
12 EUFOR Althea hat gegenwärtig noch 600 Einsatzkräfte.
13 EULEX operiert gegenwärtig mit 500 Einsatzkräften.
15 Dieser Abschnitt stützt sich auf Ehrhart, Hans-Georg (2014): „Eine Europäische Armee: eher Chimäre als Vision!“ In: Friedensgutachten 2014. Berlin, S. 87–99.
19 Vgl. Ehrhart, Hans-Georg (2017): Große Ambitionen und viele Fragen: zur nationalen Verteidigungs- und Sicherheitsstrategie Frankreichs und zur Zukunft der Europäischen Verteidigung. IFSH-Stellungnahme vom 20.11. ifsh.de/news/details/of/news-1491/ (Stand: 7. November 2018).
20 Vgl. dazu Ehrhart, Hans-Georg (i. E.): „Friedensmacht.“ in: Gießmann, Hans J./Rinke, Bernhard (Hg): Handbuch Frieden. Wiesbaden; Ehrhart, Hans-Georg (2011): Quo vadis, EU? Force for Peace or Military Power? ZEUS Working Paper 1. ifsh.de/file-ZEUS/pdf/Ehrhart_The_EU-A_Force_for_Peace_16082011.pdf (Stand: 7. November 2018).
Hans-Georg Ehrhart, Dr. phil., M. A., geb. 1955, studierte Politikwissenschaften, Soziologie und Philosophie in Bonn. Forschungsaufenthalte: Fondation pour les Études de Défence Nationale, Paris (1988), Queen’s Centre for International Relations, Kanada (1993), European Union Institute for Security Studies, Paris (2001). Ehrhart war von 1987 bis 1989 Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Studiengruppe Sicherheit und Abrüstung des Forschungsinstitutes der Friedrich-Ebert-Stiftung und seit 1989 Wissenschaftlicher Referent am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Universität Hamburg (IFSH), leitete von 2008 bis 2018 das Zentrum für Europäische Friedens- und Sicherheitsstudien und ist seit Oktober 2018 Senior Research Fellow am IFSH.