Kontroversen in Militärethik und Sicherheitspolitik
Auf der Suche nach strategischer Konvergenz in der europäischen Rüstungsindustrie
Bis Ende 2017 hatte die Europäische Union militärische weitestgehend Fragen aus ihrem Kompetenzbereich ausgeklammert. Da diese als rein nationale Angelegenheit galten, hatte die EU – im Gegensatz zu anderen Wirtschaftszweigen – keine Legitimation, rüstungspolitisch aktiv zu werden. In den letzten zwei Jahren jedoch ist mächtig Bewegung in diesen Bereich gekommen, was von vielen geradezu enthusiastisch begrüßt wird. Nun könne, so die Hoffnung, auch im Rüstungsbereich ein Binnenmarkt entstehen, in dem die Mitgliedstaaten zum Wohle aller harmonisch zusammenarbeiten. Dieses Idealbild könnte sich allerdings als reines Wunschdenken herausstellen, denn bereits jetzt lassen sich erhebliche Mängel an dem Plan ausmachen. Wie im Weiteren dargestellt wird, sind die Gemeinsamkeiten der Mitgliedstaaten in der Rüstungsindustrie nicht allzu stark ausgeprägt, sodass gemeinsam genutzte Ausrüstung oder gemeinschaftlich wahrgenommene Entwicklungsaufgaben nicht automatisch zu den erwarteten Einsparungen führen werden. Zudem unterscheiden sich sowohl die strategischen Ambitionen der Mitgliedstaaten als auch die industriepolitischen Zielsetzungen. Das Vorhaben der EU-Kommission wird Gewinner und Verlierer produzieren, und das ausgerechnet zu einer Zeit, in der ein Teil der Bevölkerung der Mitgliedstaaten beginnt, den Verbleib in der EU infrage zu stellen. Ehe ich auf diese zwei Beschränkungen weiter eingehe, werde ich erörtern, wie und warum sich die Europäische Kommission nun des Themas Verteidigung annimmt.
Wie die EU-Kommission für Verteidigungsfragen zuständig wurde
Verteidigungsangelegenheiten lagen zunächst ausschließlich in der Verantwortung der Mitgliedstaaten. Dies wurde in Artikel 223 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (1957) festgelegt und in Artikel 296 im Vertrag von Amsterdam (1997) sowie in Artikel 346 im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union bestätigt. Gleichwohl wurde beim Vertrag von Maastricht die Tür zu einer Zusammenarbeit in Verteidigungsfragen aufgestoßen: „Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik umfasst sämtliche Fragen, welche die Sicherheit der Union betreffen, wozu auch die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik im Sinne des Unterabsatzes 2 gehört, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte, falls der Europäische Rat dies beschließt“ (Titel V, Artikel 17). Mit dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union ergaben sich sogar noch darüber hinausgehende Möglichkeiten: „Die Union ist nach Maßgabe des Vertrags über die Europäische Union dafür zuständig, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik einschließlich der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik zu erarbeiten und zu verwirklichen“ (Titel I, Artikel 2.4).
Der nächste Schritt in Richtung einer gemeinsamen Politik erfolgte am 30. November 2016, als die Europäische Kommission den Europäischen Verteidigungs-Aktionsplan veröffentlichte (European Defence Action Plan). Dieser schlägt eine Reihe von Maßnahmen zur Unterstützung der Forschung und Entwicklung im Verteidigungsbereich sowie der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit vor. Dabei knüpfte die Kommission an die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates sowie an ihre eigene, im Juli 2013 veröffentlichte Mitteilung mit dem Titel „Auf dem Weg zu einem wettbewerbsfähigeren und effizienteren Verteidigungs- und Sicherheitssektor“1 an, in der sie eine Reihe von Maßnahmen zur Förderung von Wettbewerbsfähigkeit und Investitionen in Innovationen für Europas Verteidigungssektor dargelegt hatte. Wie der Aktionsplan ausführt, ist es „das übergeordnete Ziel der Initiative zu gewährleisten, dass die technologische und industrielle Basis der europäischen Verteidigung integriert, wettbewerbsfähig, innovativ und hinreichend breit gefächert bleibt, um diese Prioritäten und die Entwicklung militärischer Fähigkeiten zu unterstützen, welche die Mitgliedstaaten unter Umständen brauchen, um den künftigen Sicherheitserfordernissen zu genügen“2.
Im Juni 2017 veröffentlichte die Europäische Kommission ein Reflexionspapier über die Zukunft der europäischen Verteidigung, in dem sie argumentierte, die EU habe Europa Frieden gebracht und solle mehr Verantwortung übernehmen: Es sei „nun an der Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, welche konkreten Zielsetzungen die Union künftig im Sicherheits- und Verteidigungsbereich verfolgen soll.“3 Noch im gleichen Monat richtete die Kommission den Europäischen Verteidigungsfonds (EDF) zur Gewährung finanzieller Unterstützung von der Forschung bis zur Anschaffung militärischer Ausrüstung und Technologien ein.4 Dem folgte das Europäische Programm zur industriellen Entwicklung im Verteidigungsbereich (EDIDP), mit dessen Hilfe die europäische Verteidigungsindustrie bei der Entwicklung neuer Produkte und Technologien in auf europäischer Ebene ausgewählten Bereichen finanziell unterstützt werden soll. Unterdessen nutzten diejenigen Mitgliedsstaaten, die an weitergehenden Schritten interessiert waren, die durch den Lissabon-Vertrag (2009) gebotene Möglichkeit zur Einrichtung der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO). Tatsächlich sind fast alle Mitgliedstaaten an einem der PESCO-Projekte beteiligt – mit Ausnahme von Malta, Dänemark und Großbritannien.
Noch im Juni 2017 begrüßte der Europäische Rat das Reflexionspapier der Kommission und sicherte seine Unterstützung für die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Integration der verschiedenen nationalen Verteidigungsindustrien (EDF, EDIDP, PESCO) zu.
Dass die EU sich schließlich zu einem Engagement auch im Verteidigungsbereich entschloss, hatte verschiedene Gründe. Einer ist politischer Natur – zu Beginn der 2010er-Jahre hatte sich die Sicherheitslage der EU angesichts von Konflikten und Krisen in Europas unmittelbarer Nachbarschaft erheblich verschlechtert. Dies veranlasste die europäischen Staaten dazu, sich mit dem Thema Verteidigung auseinanderzusetzen. Als weiterer Grund können wirtschaftliche Überlegungen gelten. Laut Kommission sind „die bei der Entwicklung neuer Verteidigungs- und Raumfahrtfähigkeiten anfallenden Kosten so hoch, dass eine eigene Entwicklung den Rahmen selbst der größten Mitgliedstaaten häufig sprengt“. Dieser Umstand war bereits 2009 von der französischen Generaldirektion Rüstung erkannt worden.5 Gleichzeitig waren die meisten nationalen Verteidigungsbudgets immer weiter geschrumpft, doch selbst das Ziel, zwei Prozent des BIP in die Verteidigung zu investieren, sei zur Finanzierung der Ausrüstung nicht ausreichend. Zu diesem Schereneffekt „kommt erschwerend die Fragmentierung der europäischen Märkte hinzu, die zu unnötigen Doppelstrukturen im Bereich der Fähigkeiten, Organisationen und Ausgaben führt“6, so die Kommission.
Ziel ist die Herstellung militärischer Ausrüstung in Großserie durch europäische „Champions“ sowie ihre Bereitstellung für die zwei Dutzend weiteren Mitgliedstaaten zu günstigeren Preisen dank Skaleneffekten. Diese Champions sollen aus einer Neustrukturierung des europäischen Wirtschaftsgefüges hervorgehen, was bedeutet, dass einige Länder ihre Hauptlieferanten einbüßen und nur eine Handvoll (oder sogar nur einer?) pro Sektor – Heer, Marine und Luftwaffe – übrig bleiben werden. Diese Marktführer sollen dann für die Herstellung ihrer Produkte auf technischen Komponenten der besten Firmen Europas zurückgreifen.
Dem liegt die Annahme zugrunde, bei einem Zusammenbau der besten Komponenten entstünden auch die besten Produkte. Hierbei wird jedoch die Integrationsphase außer Acht gelassen – etwa dem analytischen Prinzip in der Wissenschaft entsprechend. Dieses besagt, es sei zur Lösung eines komplexen Problems ausreichend, dieses in kleine Stücke zu zerlegen und sich dann mit den Einzelteilen zu befassen, ohne dabei die Integrationsphase zu berücksichtigen.7 Dabei liegt die Komplexität genau in dieser Wiedereingliederung. Wird sie übergangen, können mangelhafte Produkte die Folge sein, so hochwertig die einzelnen Elemente auch sein mögen. Indem die Kommission die Industrie dazu bringen möchte, Lieferanten nach rein technischen Kriterien auszuwählen, übersieht sie, dass die europäischen Unternehmen unterschiedliche Sprachen sprechen und unterschiedliche Kulturen haben.8 Anders formuliert: Die Kommission berücksichtigt nicht die Soft Skills und deren zentrale Rolle für einen reibungslosen Ablauf von Prozessen.
In dieser von der Europäischen Kommission erdachten und vom Europäischen Rat unterstützten Wunschwelt büßen einige Mitgliedstaaten Teile ihrer Verteidigungsindustrien ein, und Aufträge werden hauptsächlich nach harten, rein technischen Kriterien vergeben. In dieser Vision werden jedoch nicht nur die Soft Skills ausgeblendet, sondern auch die politische Dimension: Eine eigene Verteidigungsindustrie ist ein Kernbestandteil staatlicher Souveränität und Autonomie.
Genug Gemeinsamkeiten für eine gemeinsame Rüstungsindustrie?
Die Europäische Kommission wendet auf die Verteidigungsindustrie die gleiche Logik wie auf die anderen Branchen an. Sie versteht nicht, warum sie ihre Wettbewerbsfähigkeit nicht auf die gleiche Weise fördern sollte, und macht entsprechend auch keinen Unterschied zwischen der Herstellung von Rüstungsgütern, Kühlschränken oder Schokolade.
Dabei sind Erstere sehr spezielle Produkte. Sie werden nur entwickelt, wenn ein entsprechender Auftrag vorliegt, und ihre Merkmale müssen der Nachfrage genau entsprechen – im Gegensatz zu den meisten handelsüblichen Produkten, die von der Angebotsseite bestimmt und so vermarktet werden, dass sie den Bedarf, den sie decken sollen, erst schaffen. Im Verteidigungsbereich wird die Nachfrage von der militärischen Kultur geprägt, welche sich in der jeweiligen Doktrin widerspiegelt. Deshalb führt eine Armee beim Erwerb von Rüstungsgütern nicht „einfach einen Ausrüstungsgegenstand“ ein, sondern auch fremde Gebräuche, da militärische Ausrüstung auch kulturelle Werte verkörpert – so wie jedes Produkt. Ist es vor diesem Hintergrund klug, bei der militärischen Zusammenarbeit nur den wirtschaftlichen Aspekt zu berücksichtigen?
Ein Blick auf PESCO zeigt, dass es bei 14 der zunächst beschlossenen 17 Projekte um Medizin, Kommunikation und Cyberspace, Logistik und Transport sowie Schulungen geht – von großen strategischen Ambitionen keine Spur. Ein Projekt jedoch kann durchaus als ambitioniert gelten: Ziel der Krisenreaktionsinitiative European Union Force Crisis Response Operation Core (EUFOR CROC) ist es, die EU zu einer schnelleren Bereitstellung von Truppen für Friedenssicherungseinsätze zu befähigen. Allerdings lässt es sich eher wegen der Komplexität der Aufgabe als wegen der Führungsrolle, die die EU übernehmen will, als ehrgeizig bezeichnen. Nur ein Projekt (indirekte Feuerunterstützung) befasst sich mit der Entwicklung von Waffen. Nachdem es ursprünglich abgelehnt worden war, wurde es schließlich doch noch aufgenommen, da es das einzige Projekt unter der Führung eines Visegrád-Staates war.9 Diese Fakten zeigen, wie schwer die Abstimmung gemeinschaftlicher Projekte im Verteidigungsbereich angesichts der großen Anzahl an Mitgliedstaaten sein kann.
Im November 2018 wurden 17 neue PESCO-Projekte angenommen. Einige davon waren in der ersten Runde noch abgelehnt worden, wie das von Deutschland geleitete Projekt Geo-Meteorological and Oceanographic Support Coordination Element. Andere laufen tatsächlich bereits, wie beispielsweise European Medium Altitude Long Endurance Remotely Piloted Aircraft Systems.10 Alles in allem dienen nur wenige Projekte dazu, europäische Fähigkeitslücken, etwa bei schweren Transporthubschraubern und -flugzeugen, Tankflugzeugen etc., zu schließen.
Zudem erzielen nicht alle Projekte mit strategischen Ambitionen wirtschaftliche Einsparungen. Beispielsweise konnte Frankreich im Rahmen des italienisch-französischen Fregattenprogramms FREMM 30 Millionen Euro sparen, dies entsprach jedoch gerade einmal einem bzw. 1,5 Prozent der Gesamtkosten. In einer parlamentarischen Anhörung sagte der ehemalige Chef der Naval Group, Pascal Bossier, dass „das FREMM-Programm ohne Zweifel auch in einem rein französischen Umfeld hätte umgesetzt werden können, und das ohne Konsequenzen für den Zeitrahmen und mit verschwindend geringen Konsequenzen für die Kosten“. Das vorgestellte Beispiel ist ein extremes, denn nur 15 Prozent des Programminhalts waren für beide Marinen deckungsgleich. Es zeigt dennoch, dass Kooperationsprogramme nicht zwingend erfolgreich sind. So können Skaleneffekte drastisch begrenzt sein, wenn die Spezifikationen zu stark auseinandergehen (wie bei dem Transportflugzeug A400M) oder wenn es zahlreiche Varianten gibt (wie beim Hubschrauber NH-90: 24 Varianten wurden entwickelt). Als Folge fallen die wirtschaftlichen Gewinne niedriger aus als erwartet. Tatsächlich „stellt die Zusammenarbeit an sich, insbesondere wenn sie schlecht koordiniert wird, einen separaten Kostenpunkt dar“, so der französische Rechnungshof (Cour des Comptes) 2018 in seinem Bericht „Die Europäische Kooperation im Rüstungsbereich“.
Begrenzte Skaleneffekte sind letztendlich keine Überraschung, da nationalstaatliche Ambitionen und kulturellen Gepflogenheiten unter den europäischen Ländern nicht – bzw. noch nicht? – einheitlich sind. So braucht zum Beispiel die italienische Marine Fregatten vor allem für Patrouillen entlang der Küste, die französische Marine hingegen möchte weltweit operieren können. Die meisten Länder in Europa sorgen sich vor allem um ihre eigene Sicherheit, wohingegen Frankreich und Großbritannien jeweils eine Interventionsarmee unterhalten. Diese Unterschiede bei den Zielsetzungen spiegeln sich in unterschiedlichen Rüstungserfordernissen wider. Auch Topografie und Klima erklären einige Unterschiede: Im Schnee wird anders gekämpft als in der Wüste, in den Bergen anders als in der Ebene.
Die europäischen Institutionen unterschätzen die nationalen Besonderheiten und setzen auf die Bindungskraft der versprochenen Spareffekte und größeren Wettbewerbsfähigkeit, in der Annahme, daraus werde eine politische Union erwachsen. Dabei gibt es keine Gewissheit, dass wirtschaftliche Kooperation zwangsläufig entsprechende politische Prozesse in Gang setzt11 – gewiss ist aber, dass Zusammenarbeit an sich nicht automatisch zu wirtschaftlichen Einsparungen führt.
Unterschiedliche Erwartungen an die EU
Die von den europäischen Institutionen angestrebte Vereinheitlichung der militärischen Ausrüstung – die nebenbei den Weg für gestärkte Oligopole in der Rüstungsindustrie ebnen wird – erscheint noch schwieriger zu erreichen, wenn man sich die betreffenden Staaten ansieht.
Hier eine kurze Typologie.
Zunächst ist eine Gruppe Länder mit starker Rüstungsindustrie auszumachen, insbesondere die sogenannten Letter of Intent countries, also jene EU-Mitgliedstaaten, die ein Rahmenübereinkommen über Maßnahmen zur Erleichterung der Umstrukturierung und der Tätigkeit der europäischen Rüstungsindustrie unterzeichnet haben: Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Schweden und Spanien. Sie unterstützen die Projekte der Kommission aus zwei Gründen. Politisch wollen Länder mit großer Rüstungsindustrie in der Regel ihre strategische Autonomie wahren, können ihren Bedarf aber nicht mehr vollständig selbst abdecken. Denn das hierfür erforderliche technische Wissen ist mittlerweile zu umfangreich geworden, und die Kosten sind zu stark gestiegen. Deshalb kommen die Staaten nicht um die Zusammenarbeit und die Unternehmen nicht um die multinationale Ausrichtung herum. Dementsprechend suchen die betreffenden Länder nach einem sicheren Umfeld und vertrauenswürdigen Partnern, mit denen sie zusammenarbeiten können. Die EU ist für sie der am nächsten liegende Ansprechpartner – und bislang auch der einzige. Daneben bedient das Projekt der Kommission ein zweites Interesse: Es verspricht, den großen Unternehmen bei der Wahrung ihrer Wettbewerbsfähigkeit zu helfen und als Nebeneffekt Arbeitsplätze zu sichern. Die Marktführer werden wahrscheinlich Marktführer bleiben, da sie auf globaler Ebene bereits etabliert sind und das Projekt ihnen vermutlich dabei helfen wird, die besten Lieferanten zu finden. Diese Staaten sind wahrscheinlich auch bereit, einige kleine und mittlere Unternehmen zum Wohle der Wettbewerbsfähigkeit ihrer Marktführer zu opfern – wie einige Ökonomen auch bereits öffentlich empfohlen haben.12
Die zweite Gruppe besteht aus Ländern mit mittelgroßer Industrie und begrenzten politischen Ambitionen. Dazu gehören die mittel-, ost- und nordeuropäischen Länder. Ihre strategischen Ziele beschränken sich auf die Sicherung ihrer Grenzen und die Unterstützung von NATO-Operationen. Wie die Länder der ersten Gruppe unterstützen auch sie ihre eigene Verteidigungsindustrie und betreiben wissenschaftliche und technologische Forschung, um ihr Bruttoinlandsprodukt zu steigern. Die meisten von ihnen würden am liebsten ausschließlich bei heimischen Unternehmen kaufen und greifen nur dann auf ausländisches Know-how zurück, wenn es im eigenen Land nicht verfügbar ist. Die ausländischen Kunden ihrer Marktführer finden sich in der Regel – aber nicht ausschließlich – in Nischenmärkten. Tatsächlich stellen die Unternehmen der ersten Gruppe hauptsächlich leistungsstarke Produkte her und setzen diese zu hohen Preisen ab, während die Unternehmen der zweiten Gruppe mit Blick auf die technische Leistung und den Preis etwas bescheidener daherkommen. Dennoch zeichnen sich ihre im besten Sinne zufriedenstellenden Produkte durch ein Preis-Leistungs-Verhältnis aus, das für bestimmte Staaten weltweit attraktiv ist. Saab in Schweden und Aero Vodochody in Tschechien seien hier beispielhaft für die Luftfahrt, Tatra Trucks für Landfahrzeuge genannt. Die Rüstungsproduzenten dieser Gruppe exportieren ebenfalls weltweit. Einige arbeiten auch für amerikanische Unternehmen oder kooperieren mit diesen, etwa Sabca (Belgien), Guardtime und Milrem (Estland), PZL Mielec (Polen), Aero Vodochody (Tschechien) oder Nammo (Finnland). Das Interesse dieser Ländergruppe an einer integrierten europäischen Verteidigungsindustrie speist sich hauptsächlich aus der Aussicht auf wirtschaftliche Gewinne – und in dieser Hinsicht kann der amerikanische Markt ebenso attraktiv sein wie jeder andere auch.
Diesen Ländern ist bewusst, dass ihre Marktführer wahrscheinlich nicht die europäischen Champions von morgen sein werden. Wäre das den Ländern der ersten Gruppe Grund genug, um den „Tod“ der Marktführer der zweiten Gruppe zu beschleunigen beziehungsweise herbeizuführen? Oder für ihre Umwandlung in reine Ausrüstungshersteller zu sorgen? Um zu überleben, müssen die Unternehmen der zweiten Gruppe wahrscheinlich dem europäischen Markt den Rücken kehren und ihren Marktanteil anderenorts konsolidieren. Damit hätte die Kommission ihr Ziel, die Anzahl der europäischen Wettbewerber zu reduzieren, in jedem Fall verfehlt.
Aufgrund ihrer Geschichte stehen einige Länder in Mitteleuropa den Initiativen der Kommission skeptisch gegenüber. Zwar verstehen sie den Gedanken, dass innerhalb der EU eine Arbeitsteilung erreicht werden soll, aber sie können nicht nachvollziehen, warum dabei nicht für jeden ein Teil der Aufgaben anfällt, so wie einst im sowjetischen System. Die westeuropäisch geprägte Wirtschaftslogik propagiert zwar den Einheitsgedanken, macht aber die Mitgliedstaaten de facto zu Konkurrenten – für die eben erwähnten Länder ein Paradox. Sie befürworten einen minimalen Wettbewerb zur Vermeidung von Monopolen und wünschen sich ein Netzwerk von Subunternehmern, in dem so gut wie jeder seinen Platz finden kann.
Schließlich gehören zu Europa auch drei neutrale Länder mit eigener Verteidigungsindustrie, nämlich Finnland, Irland und Österreich. Wird die EU es schaffen, ihr Ziel einer integrierten europäischen Verteidigungsindustrie zu erreichen und dabei gleichzeitig die von diesen Ländern gewählte Neutralität zu respektieren? Das ist schwerer, als es klingt, hält man sich vor Augen, dass – wie in diesem Aufsatz gezeigt werden sollte – wirtschaftliche Integration von einer gemeinsamen Verteidigungspolitik begleitet werden muss.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die von der Europäischen Kommission gewünschte integrierte Verteidigungsindustrie und ein entsprechender Binnenmarkt vermutlich nur einigen wenigen Ländern zugutekommen werden. Dies wird die Kluft zwischen West und Ost innerhalb der EU vergrößern.
Zudem werden einige zentrale Punkte in den offiziellen Dokumenten seltsamerweise kaum angesprochen. Was ist mit den geistigen Eigentumsrechten? Wer eine nationale Verteidigungsindustrie unterhält, will sich darauf verlassen können, dass die Lieferanten im Konfliktfall sowie während der gesamten Produktlebensdauer – also etwa 40 Jahre lang – die beste Ausrüstung sowie Ersatzteile liefern. Langfristiges Vertrauen ist demzufolge von entscheidender Bedeutung. In diesem Zusammenhang sagte mir ein Interviewpartner einmal: „Geheimhaltung ist keine Handelsware.“ Und was geschieht, falls sich ein Partner weigert, an einen Abnehmerstaat zu exportieren? Als Frankreich und Deutschland ihre Zusammenarbeit besiegelten, unterzeichneten sie 1972 ein Abkommen (Schmidt-Debré-Abkommen), in dem sich beide Länder verpflichteten, kein Exportveto einzulegen. Dennoch blockierte Deutschland 2014 aus ethischen Gründen einige Verkäufe. Ist das gegenseitige Vertrauen also stark genug? Stimmen die ethischen und politischen Werte in ausreichendem Maß überein, um gemeinsam militärische Ausrüstung herzustellen?
Es herrscht der Eindruck vor, dass Kommission und Rat gerade das Pferd von hinten aufzäumen: Sie verwirklichen die Wirtschaftsunion – und die Verteidigungsunion –, ehe die politische Union erreicht ist. Leider ist dieser Kritikpunkt schon lange bekannt.
1 Europäische Kommission (2013): Auf dem Weg zu einem wettbewerbsfähigeren und effizienteren Verteidigungs- und Sicherheitssektor, COM (2013) 542. ec.europa.eu/transparency/regdoc/rep/1/2013/DE/1-2013-542-DE-F1-1.Pdf (Stand: 7. November 2018). Die Mitteilung wurde von den Mitgliedstaaten, dem Europäischen Parlament und der Industrie wohlwollend aufgenommen.
5 „Die aktuelle Höhe der europäischen Haushaltsmittel und die steigenden Kosten von Waffensystemen bedeuten, dass kein europäischer Staat, einschließlich Frankreich, den Rahmen und damit die Fähigkeit hat, die Kosten einer Verteidigungsindustrie zu tragen, die allen Bedürfnissen gerecht wird.“ Direction générale de l’armement (DGA, 2009): Plan stratégique pour la R&T dans la défense et la sécurité [Strategischer Plan für Forschung und Entwicklung in Sicherheit und Verteidigung]. S. 22. 6 Europäische Kommission (2016): European Defence Action Plan, S. 2. ec.europa.eu/smart-regulation/roadmaps/docs/2016_grow_006_cwp_european_defence_action_plan_en.pdf (Stand: 7. November 2018).
7 Edgar Morin (1990) kritisiert das analytische Prinzip, das der modernen Wissenschaft zugrunde liegt, in seinem Buch Introduction à la Pensée Complexe, Paris. Englische Übersetzung des Buchs: Edgar Morin (1993): Introduction to the complex thought. The tools to address the challenge of complexity.
8 Edward T. Hall untersuchte jahrzehntelang interkulturelle Beziehungen. Siehe zum Beispiel (1990): Understanding Cultural Differences: Germans, French and Americans.
9 Die Visegrád-Gruppe besteht aus vier mitteleuropäischen Staaten: Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn.
11 Tatsächlich weist vieles darauf hin, dass dies nicht der Fall ist. Eine historische Erklärung, wie es zur Einbettung der Politik in die Wirtschaft kam, findet sich bei Polanyi, Karl (1945): The Great Transformation.
12 Die französische Wirtschaftswissenschaftlerin Fanny Coulomb sagte kürzlich auf einer Konferenz, dass für „eine echte und moderne Planung ein direktes Opfer im Hinblick auf die Industrie akzeptiert werden muss“. Entretiens de la Défense (Gespräche zur Verteidigung), Universität Paris 1 Panthéon-Sorbonne, 1. Juni 2018.
Sophie Lefeez beschäftigt sich seit über einem Jahrzehnt mit Verteidigungsfragen und hat sich dabei auf den Bereich Beschaffung spezialisiert. Sie ist als Associate Researcher am IRIS (Paris) und am CERREV der Universität Caen tätig, wo sie auch lehrt. Drei Jahre lang betreute Sophie Lefeez die Abschlussarbeiten von Offizieren an der französischen Führungsakademie École de Guerre. 2017 veröffentlichte sie das Buch „L’illusion technologique dans la pensée militaire“ mit einem Vorwort von General Vincent Desportes, ehemaliger Direktor der École de Guerre und inzwischen Dozent an der Hochschule Sciences Po in Paris.