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Die Europäische Union muss an der Friedensorientierung festhalten

Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU war lange Zeit ein Politikfeld, auf dem keine besonderen Vorkommnisse zu vermelden waren. Dies hat zweifellos damit zu tun, dass die Verteidigungspolitik ein Bollwerk im Denken nationaler Souveränität ist. Mit Sicherheit und Verteidigung ist eine zentrale Raison d’Être des Nationalstaates angesprochen. Jede substanzielle Kompetenz­abgabe an die EU und im Besonderen jedes Unterwerfen eines sicherheitssensiblen Teilbereichs unter das Prinzip des Mehrheitsbeschlusses müsste als Abbau nationaler Souveränität und als weiterer Schritt zur Staatswerdung der Europäischen Union verstanden werden. Dies ist innereuropäisch hoch umstritten, und selbst jene Staaten, die bislang entschieden proeuropäisch eingestellt waren, haben sich hier sehr zurückhaltend, wenn nicht sogar direkt ablehnend gezeigt. Daher ist die GSVP bislang nicht nur durchweg intergouvernemental verfasst, sondern auch von einem hohen Beharrungsgrad gekennzeichnet. Trotz verschiedener Initiativen, Programme und Instrumente wird die Sicherheits- und Verteidigungspolitik in ihren wesentlichen Bereichen weiterhin national verantwortet, insbesondere in der Rüstungspolitik und in den militärischen Kernbereichen.

Die Europäer sind sicherheits- und verteidigungspolitisch nur bedingt handlungsfähig

In den letzten Jahren hat sich allerdings die Sicherheitslage nicht nur global betrachtet, sondern auch in der direkten europäischen Nachbarschaft deutlich verändert. In diesem neuen Kontext ist die Einsicht unvermeidbar geworden, dass es um die Handlungsfähigkeit der EU-Mitgliedstaaten in Sicherheitsbelangen und insbesondere hinsichtlich der Fähigkeit zur Krisenintervention nicht besonders gut bestellt ist: Ineffizienz, Material- und Personalschwäche, empfindliche Lücken bei wesentlichen militärischen und logistischen Fähigkeiten, geringe Reaktionsfähigkeit und schleppende Koordinationsabläufe machen die Europäer sowohl als Einzelne als auch im Verbund zu einem schwachen Akteur, wie es viele Fälle – etwa die Libyen-Intervention, die Krim-Krise und der Bürgerkrieg in Syrien – gezeigt haben. Die USA drängen seit Längerem darauf, dass die europäischen NATO-Partner erheblich größere Beiträge zum NATO-Schirm über Europa leisten und sich auch global stärker in der Krisenbewältigung engagieren. Russland sorgt für Unruhe unter den östlichen Staaten Europas. Die Konfliktherde Afrikas und des Nahen Ostens klopfen in Gestalt der Migrationsbewegungen buchstäblich an die Haustüren Europas. Mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU wird die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik noch weiter an Gewicht verlieren. Tatsächlich dürften die Zeiten vorbei sein, da die unter dem Schutz der NATO – also vor allem der USA – in Europa erwirtschaftete Friedensdividende hier ungestört von allen globalen Konflikten verzehrt werden konnte. 

Bereitschaft zu einer substan­ziellen EU-Militärpolitik?

Es scheint nun, als hätten die veränderten Umstände die EU-Mitgliedstaaten endlich wachgerüttelt und zu einer neuen Handlungsbereitschaft in Sachen GSVP motiviert. Die 2016 veröffentlichte Globale Strategie stellt mit dem Stichwort „strategic autonomy“ das Ziel in Aussicht, sich wenigstens teilweise von den USA zu emanzipieren und eigene, deutlich leistungsfähigere Interventionskapazitäten aufzubauen, die vor allem der Stabilisierung in der östlichen und südlichen Nachbarschaft dienen sowie im Rahmen von mittel- und langfristigen regionalen Partnerschaften eingesetzt werden sollen. Die im Lissaboner Vertrag vorgesehene, aber seither nicht realisierte Möglichkeit einer Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit im Sicherheits- und Verteidigungsbereich (Per­manent Structured Cooperation, PESCO) nimmt seit 2017 allmählich konkrete Gestalt an – und wird als Wachküssen einer „sleeping beauty“ (Kommissionspräsident Juncker) gefeiert. Am Ende einer solchen, der erklärten Absicht nach „ambitionierten“ Zusammenarbeit zwischen fähigen und willigen Verteidigungspartnern könnte eine Armee der EU stehen, so die Hoffnung der einen und die Befürchtung der anderen.

Tatsächlich sind hier noch viele Fragen offen. Die Antworten darauf werden darüber entscheiden, wie ambitioniert, wie effizient und wie handlungswirksam für die effektive Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU PESCO wirklich sein wird oder ob die Riesenschlange EU nicht doch nur um ein Glied länger geworden ist, das sie mühsam voranschleppt. Immerhin sind Aktivitäten zu verzeichnen, mit denen die GSVP-Handlungsstarre überwunden wird und sich die EU mindestens tendenziell zu einem aktiveren Vorgehen in den Feldern Sicherheit, Rüstung und Militär und damit zu einer wahrnehmbareren Interventionsrolle entschließt. Diese neuen Aktivitäten sind grundsätzlich erfreulich, insofern die EU damit auf dem Weg der Integration in einem besonders souveränitätssensiblen Bereich voranschreitet, ein Weg, an dessen Ende tatsächlich so etwas wie eine integrierte, EU-gemeinsame Verteidigungspolitik stehen kann. Jenseits der Euphorie, dass es mit der Europäisierung überhaupt weiterzugehen scheint – worüber man angesichts des Brexits und einer in den Mitgliedstaaten verbreiteten Europaskepsis, ja Europagegnerschaft erfreut sein muss –, ist allerdings die doppelte Frage nicht zu umgehen, wie die hier eingeschlagene Richtung der Europäisierung zu bewerten ist.

Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft

Mit Recht wird die EU als ein europäisches Projekt angesehen, das seine Motivation und seine Legitimation nicht in erster Linie den Interessen der europäischen Staaten verdankt, sich eine Machtposition im globalen Konzert der Großmächte zu sichern. Im Gegenteil ist die europäische Einigung die Konsequenz aus dem blutigen Scheitern eines solchen Politikverständnisses. Die EU ist von Grund auf als ein Friedens- und Aussöhnungsunterfangen zu verstehen, mit dem Europäerinnen und Europäer eine fundamentale Lehre aus den bitteren Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ziehen: Nie wieder Krieg in Europa. Nie wieder rücksichtloses Machtstreben. Nie wieder Missachtung der Menschenwürde. Deshalb hat sich die EU im Lissabonner Vertrag ausdrücklich als Wertegemeinschaft charakterisiert und sowohl ihre Verfassungsstruktur als auch ihre konkrete Politik auf eine Wertebasis verpflichtet. „Die Werte, auf die sich die Union gründet“, heißt es in Artikel 2 des Lissabonner EU-Vertrags, „sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ In Artikel 21 EUV bindet sich die Union auch in ihrem Außenhandeln an diese Werte und an weitere Grundsätze. 

Die EU hat durchaus mit einer gewissen Berechtigung den Friedensnobelpreis 2012 erhalten. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben die Europäerinnen und Europäer eine geschichtlich beispiellose Periode des Friedens, der Sicherheit und des Wohlstands erlebt – eine Leistung, die nach 1990 im Großen und Ganzen auf weite Teile des nunmehr ungeteilten Kontinents ausgedehnt werden konnte. Gewiss ist der Frieden in Europa zu einem guten, vielleicht entscheidenden Teil der Tatsache zu verdanken, dass die europäische Einigung unter dem Schutz der NATO und der USA als der Garantiemacht des Westens erfolgt ist. Aber dies gilt vor allem, wenn man Frieden primär als die Abwesenheit von Krieg auffasst. Die großartige Leistung der europäischen Einigung besteht jedoch darin, die Absicherung vor äußerer Bedrohung zur Gestaltung eines friedlichen, demokratischen und sozialen europäischen Gesellschaftsmodells nach innen zu nutzen. Frieden ist eben auch eine politische Gestaltungsaufgabe, die über Grenzschutz nach außen und Polizeiarbeit nach innen hinausgeht. Die europäische Integration war erfolgreich, weil es gelungen ist, durch politische Vertrauensbildung, durch ökonomische und kulturelle Zusammenarbeit die Aussöhnung zwischen den einstigen europäischen Feinden herbeizuführen. Die EU steht für ein politisches Modell, in dem Frieden, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Menschenrechte, Freiheit und Gerechtigkeit als grundlegende Werte und Prinzipien verwirklicht sind. Diese Werte sind ihrem Anspruch nach universal. In der EU werden sie auf eine spezifische Weise politisch realisiert, in der sich die besonderen historischen Erfahrungen und Traditionen der europäischen Nationen niederschlagen. Die Legitimation der EU hängt an diesen Werten. Würden sie aufgegeben, wäre die EU ein rein interessenorientierter politischer Zweckverband, den seine Mitglieder je nach Auffassung ihrer nationalen Interessenlage einsetzen oder ablegen würden. Die gegenwärtige Krise der EU ist daher vor allem eine innere Krise: Jene Mitgliedstaaten, die für eine Abkehr von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und Friedensorientierung votieren, sprechen sich damit gleichzeitig gegen die europäische Einigung aus und unterhöhlen die Legitimation der EU. Man kann es nicht von der Hand weisen: Was das geeinte Europa ausmacht, wird gegenwärtig mindestens ebenso von innen infrage gestellt, wie es von außen bedroht wird.

Die EU – eine außenpolitische Friedensmacht?

 Als Wertegemeinschaft ist die EU auch in ihrem Außenhandeln auf ihre grundlegenden Werte verpflichtet. Sie kann sich nicht als ein bloßer Machtakteur zur Bündelung europäischer Interessen verstehen, sondern hat diese Interessen in einem wertbezogenen Rahmen zu verfolgen, sodass die globale Friedens- und Rechtsordnung dadurch nicht beschädigt, sondern idealerweise gestärkt wird. Wie dies genauer zu verstehen ist, wird in der politischen Diskussion mit Begriffen wie „Friedensmacht“, „normative power“, „soft power“ oder „ethical power“ erörtert. Die EU, so ein Grundgedanke der normative power-Konzeption, verändert durch ihr außenpolitisches Agieren die international akzeptierten Vorstellungen dessen, was legitime Politik und legitime Institutionen ausmacht, und wirkt so ohne direkte Machtausübung positiv auf die internationalen Ordnungssysteme ein. Die Globale Strategie hat 2016 erneut bekräftigt, dass die EU für Frieden, Demokratie, Menschenrechte, Wohlstand und eine regelbasierte Weltordnung eintritt. In einer Zeit, in der Unilateralismus und Verachtung für völkerrechtliche Regime im Trend zu liegen scheinen, ist dies eine wichtige und wertvolle normativ basierte Rollenauffassung. Man kann sicherlich mit Recht einwenden, dass die EU dieser Selbstverpflichtung bislang faktisch nur unzureichend gerecht geworden ist und dass ihr ein gegenteiliges Außenhandeln nicht eben selten vorgehalten werden kann. Die häufig beklagte mangelnde Kohärenz der außenbezogenen Politiken hat ihre Ursache sicherlich auch in den Interessengegensätzen der Mitgliedstaaten und in der Verfasstheit der GASP, die letztlich auf eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners hinausläuft.

Der Vorwurf, die Friedens- und Werteorientierung der EU-Außenpolitik habe letztlich vor allem eine rhetorische Bedeutung und bleibe ganz erheblich hinter ihrem Anspruch zurück, ist in unserem Zusammenhang freilich nur eine Seite der Kritik. Befürworter des neuen Schwungs in der GSVP könnten ja argumentieren, dass die vertiefte Koordination und Zusammenarbeit und die operative Verstärkung durch Instrumente wie PESCO der EU genau jene Werkzeuge in die Hand geben, die sie zu einem konsistenteren und effizienteren Außenhandeln befähigen werden. Eine anders gelagerte Kritik meldet jedoch gerade hieran Zweifel an. Die bisherige Orientierung an Frieden und Rechtsordnung, die die Union in der Außenpolitik gezeigt habe, sei gerade ihrer Ineffizienz zu verdanken gewesen. Gerade weil die GASP und vor allem die GSVP wenig vergemeinschaftet seien und sich weitgehend aus der komplizierten Kompromissbildung unter den Mitgliedstaaten ergeben, sei die EU als wenig handlungsfähiger internationaler Akteur faktisch auf einen friedens- und regelorientierten Politikstil festgelegt gewesen. Kurz gesagt: Die EU ist Friedensmacht, weil sie wegen ihrer speziellen Verfasstheit gar keine Machtpolitik verfolgen kann. Der Zuwachs an Handlungsfähigkeit in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist daher, so das Argument, aus friedensethischer Sicht überaus kritisch zu bewerten: Wird die EU nicht, da sie durch PESCO nun die Möglichkeiten dazu hat, mehr und mehr zur Interessen- und Machtpolitik übergehen? Verführt eine EU-Armee zur Abkehr von der Friedensorientierung? Steht die GSVP in Gefahr, auf eine schiefe Bahn zu geraten? Diese Kritik nimmt zusätzlich auf eine Spannung innerhalb der Werte der Union Bezug: Die Union verfolgt ja nicht nur Frieden, sondern auch die Durchsetzung liberaler Werte wie Demokratie, Menschenrechte, Gleichberechtigung und Freiheit. Das Durchsetzen von Demokratie und Menschenrechten kann aber durchaus den Einsatz militärischer Mittel erfordern und steht somit in einem möglichen Gegensatz zur Friedensorientierung. 

Führt eine EU-Armee zur Abkehr von der Friedensorientierung?

Das Argument ist überaus ernst zu nehmen. Es spielt ja auf die problematische, teilweise unselige Geschichte der humanitären Interventionen in der jüngeren Vergangenheit an. Das militärische Eingreifen etwa in Afghanistan und im Irak, das in beiden Fällen auch mit dem Schutz der Menschenrechte, der Befreiung aus Diktaturen und dem Errichten einer Demokratie gerechtfertigt wurde, hat bis heute ungelöste Konfliktherde hervorgebracht. In den Augen vieler Beobachter steht Menschenrechtspolitik mittlerweile grundsätzlich unter Ideologieverdacht. In der Tat kann nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden, dass neue GSVP-Handlungsspielräume in einer Weise genutzt werden, die in Widerspruch zu den Werten der Union steht. Zunächst könnte dieses Risiko dann real werden, wenn PESCO für EU-Mitgliedstaaten, die europäischen Werten ablehnend gegenüberstehen, zur Blaupause wird, die durch den Lissabon-Vertrag gegebene Möglichkeit zur Clusterbildung für partikulare Zwecke zu nutzen. PESCO bildet ja einen rechtlich-politischen Rahmen für die verbindliche, „ambitionierte“ Zusammenarbeit von Staaten, die den entsprechenden politischen Willen und die militärischen und sonstigen Fähigkeiten zu einer solchen definierten Zusammenarbeit aufbringen. Die innere und die äußere Situation der EU könnten dann einen riskanten Mix ergeben, wenn sich politisch europa- und menschenrechtsskeptische Regierungen zusammentun, um etwa einer von ihnen wahrgenommenen Bedrohungslage an den Grenzen – durch Migranten oder durch einen anderen Staat – durch gemeinsame Operationen zu begegnen. Ein solches Szenario ist gegenwärtig noch nicht zu erkennen. Die ersten im Rahmen von PESCO eingerichteten Projekte sind eher auf einem niedrigeren Ambitionslevel angesiedelt und vorwiegend rüstungswirtschaftlicher und logistischer Natur. Auch scheinen die Möglichkeiten zur Clusterbildung durch ausgesuchte Mitgliedstaaten bislang nicht genutzt zu werden. Dies könnte sich freilich ändern. Indem PESCO den Rahmen für eine unterschiedlich intensive Zusammenarbeit von einzelnen Mitgliedstaaten grundsätzlich bereitstellt, trägt es einerseits dazu bei, die bislang träge GSVP dynamischer zu machen. Andererseits birgt dies die Gefahr, die Mitgliedstaaten auseinanderzudividieren. Sollten militärische Operationen einer Teilmenge der EU-Staaten Schule machen und zudem auch hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit fundamentalen Werten der Union infrage stehen, könnten sie nicht nur die GASP, sondern den Zusammenhalt der EU insgesamt aufs Spiel setzen.

Friedenspolitisch können Ziel und Mittel nicht voneinander getrennt werden

Auch diesseits solcher Szenarien ist friedens­ethische Skepsis gegenüber der Vision einer EU-Armee angebracht. Im Raum steht der Verdacht, die Ausweitung sicherheitspolitischer und insbesondere militärischer Handlungsfähigkeiten führe auch dann zu einem Widerspruch zur bisherigen Friedensorientierung der EU, wenn die liberalen Werte der Union beachtet würden. Ja, gerade die selbst gesetzte Verbindlichkeit gegenüber Werten wie Demokratie, Freihandel und Menschenrechten setze die Orientierung am Frieden aufs Spiel, weil sie die Legitimation zum militärischen Intervenieren bereitstelle. Würden erhöhte Effizienz und Effektivität im GSVP-Bereich nicht zu einer Interessenpolitik führen, die unter dem Mantel der Menschenrechts- und Demokratieverbreitung die Ausweitung der europäischen Einflusssphäre verfolgt – einfach, weil sie es kann? Auch dieser Einwand ist ernst zu nehmen. Er beruht auf einem weit verbreiteten Missverständnis. In der Friedens- und Menschenrechtspolitik können Ziel und Mittel nämlich nicht unabhängig voneinander betrachtet werden. Weder kann Frieden mit Gewalt errichtet noch können Menschenrechte mit unmoralischen Mitteln etabliert werden. Beide werden vielmehr durch Gewaltanwendung tendenziell delegitimiert. Dies überzeugt dann am ehesten, wenn Frieden und Menschenrechte nicht als punktuelle Ereignisse betrachtet werden, wie etwa das Beenden eines Bürgerkriegs oder der Sturz einer Diktatur durch militärische Intervention. Frieden und Menschenrechte sind vielmehr als Ordnungsprinzipien einer gerechten und humanen Gesellschaft und eines Staats zu sehen. Sie bedürfen einer Umsetzung in staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen – etwa des Rechts und der Politik – und sind auf Mentalitäten, Einstellungen und Haltungen bei den Bürgerinnen und Bürgern zu ihrem Bestehen und Funktionieren angewiesen. Deswegen können sie nicht ohne Weiteres zum Gegenstand ins­trumentellen Außenhandelns gemacht werden. Friedens-, Sicherheits- und Menschenrechtspolitik können daher nicht durch Maßnahmen verbreitet oder gestützt werden, die diesen Werten selbst nicht gerecht werden, sondern sie als zynischen Vorwand zur Durchsetzung ganz anderer Interessen erscheinen lassen müssen. 

Das Verhältnis zwischen Friedenssicherung und Menschenrechtspolitik ist ohne Zweifel außerordentlich komplex. Es ist wahrscheinlich nicht überzeugend, den Einsatz militärischer Mittel grundsätzlich für alle Situationen auszuschließen. Daher ist eine GSVP der EU auch nicht grundsätzlich unsinnig oder illegitim. Die Erfahrungen mit den humanitären militärischen und nicht militärischen Interventionen der vergangenen Jahrzehnte lehren jedoch, dass es ungleich viel einfacher ist, militärisch zu intervenieren und akute Gewalt und Menschenrechtsverletzungen zu stoppen, als eine funktionierende, stabile und demokratisch verfasste Gesellschaftsordnung wieder zu errichten, wo sie erst einmal ernsthaft beschädigt wurde. Was bislang international nicht zufriedenstellend beantwortet wurde, ist zudem folgende Frage: Wie können internationale Konflikte, regionale Destabilisierung und verheerende Entwicklungsdisparitäten rechtzeitig verhindert oder so eingedämmt werden, dass sie sich nicht zu überregionalen und globalen Sicherheitsrisiken entwickeln – und dies unter Beachtung fundamentaler Menschenrechte und Werte? Wie muss die internationale Ordnung beschaffen sein, dass Sicherheitsrisiken unwahrscheinlicher werden oder ihr jeweiliges Gewicht abnimmt? Und welche Rolle könnte die europäische GSVP dabei spielen? Und: Wäre sie dazu angesichts der inneren Verfasstheit der EU überhaupt in der Lage?

Die EU muss sich um ihren inneren Zustand kümmern

Die Freude über das Voranschreiten im Bereich der GSVP sollte nicht übersehen lassen, dass der innere Zustand der Union momentan besorgniserregend ist. Die Ansichten darüber, wozu die europäische Einigung dient und worin ihre wesentlichen Grundlagen bestehen, gehen weit auseinander. Das dürfte sich auch in der GSVP niederschlagen, wo sich zeigen muss, zu welchen gemeinsamen Lagebeurteilungen und Maßnahmenbeschlüssen die europäischen Partner bereit sind. Sollte in 2019 ein harter Brexit erfolgen, sollten antieuropäische Parteien eine Mehrheit bei der Europawahl erringen und sollten noch mehr Mitgliedstaaten EU-skeptische oder -ablehnende Positionen beziehen, könnte die Einheit der Union ernstlich auf dem Spiel stehen. Auch diesseits eines solch düsteren Szenarios dürfte eine konsistente GSVP weiterhin eine echte Herausforderung darstellen. Die eigentliche Aufgabe der EU – letztlich die Aufgabe der Europäerinnen und Europäer – besteht darin, die fundamentale Krise der EU zu überwinden. Diese Krise der Union ist nicht nur eine Institutionenkrise, sondern auch eine Krise der Demokratie und des Rechtsstaats in Europa. Wird diese nicht überwunden, steht zu befürchten, dass Europa selbst zu einem Unruhefaktor wird. Das Wiederaufleben des überwunden geglaubten Nationalismus und der ethnozentrischen Interessenpolitik macht die europäischen Staaten nicht zu berechenbaren Akteuren. Der Wert der GSVP wird sich auch daran messen lassen müssen, ob und inwieweit sie dazu beiträgt, außenpolitischen Irrationalismus zu verhindern. Demokratie und europäische Integration haben sich seit 1948 Hand in Hand über Europa ausgebreitet, sie müssen heute gemeinsam verteidigt werden. Die EU und die politische Vision, die hinter der europäischen Integration steht, benötigen eine neue Plausibilität. Dazu werden auch Antworten auf die Sicherheitsbedürfnisse und die Sicherheitsinteressen der europäischen Bürgerinnen und Bürger gefunden werden müssen. Diese sehen ihre Sicherheit nicht nur durch russische Großmachtpolitik oder durch unregulierte Migration bedroht, sondern auch durch den ökonomischen, sozialen und kulturellen Transformationsdruck, dem sie in ihren Gesellschaften ausgesetzt sind. Man kann mit guten Gründen der Überzeugung sein, dass die gesellschaftlichen Transformationsherausforderungen im europäischen Rahmen letztlich besser bewältigt werden können als im nationalen Alleingang. Diese Sichtweise muss jedoch auf neue Weise plausibel werden.

Aktuelle Aufgaben für die EU als Friedensmacht

Die veränderte außenpolitische Sicherheits­lage, auf die die EU mit der Globalen Strategie reagiert, hat viele Facetten und Ursachen. Etliche davon haben mit echten Interessengegensätzen zwischen Großmächten zu tun, andere mit regionalen Problemen, wieder andere werden durch ideologische Motive angefeuert. Die EU ist ohne Zweifel überfordert, wenn sie diese Konflikte ursächlich bekämpfen wollte. Ihr bisheriges Verständnis als Friedensmacht hat freilich auch einen ganz anderen Akzent gesetzt. Da es internationale Konflikte immer geben wird, kommt es darauf an, eine belastbare und einigermaßen funktionsfähige internationale Rahmenordnung aufzubauen und zu stärken, innerhalb deren diese Konflikte möglichst kons­truktiv, menschenrechtskonform und schadensarm ausgetragen werden können. Offenkundig hat das Ordnungssystem der Vereinten Nationen, das die Nachkriegsperiode lange Zeit geprägt hat, seine besten Zeiten hinter sich. Es bedarf einer grundlegenden Reform, die etwa mit den wechselseitigen Blockademöglichkeiten der Vetomächte aufräumt. So etwas wie eine globale rule of law ist in Ansätzen auf verschiedenen Gebieten erkennbar, aber bedarf noch erheblicher Ausbauarbeiten. Es wird darauf ankommen, internationale Akteure wieder vom Sinn des Multilateralismus zu überzeugen und sie zur konstruktiven Partizipation an der Reform der internationalen Ordnung zu bewegen. Hier liegt eine Jahrhundertaufgabe, die des entschiedenen und nachhaltigen Einsatzes bedarf. Dies ist eine wesentliche Gestalt, die Friedensarbeit heute annimmt und die einer Friedensmacht angemessen ist. Diese Herausforderung ist umso dringlicher, als sich momentan kaum bedeutsame Mächte darum kümmern: Die USA setzen zurzeit auf unilaterale Druckpolitik, Russland und China haben wenig Interesse an Regelungen, die nicht unmittelbar ihren Interessen dienen – somit bleibt eigentlich nur Europa als hinreichend gewichtiger Akteur übrig, um Verantwortung für die Zukunft der interna­tionalen Ordnung zu übernehmen. Dies klingt ­angesichts des gegenwärtigen Zustands der Union utopisch. Schließlich müssten dazu auch innereuropäische Gegensätze überwunden werden wie die zwischen jenen Mitgliedern beziehungsweise Austrittskandidaten (Frankreich beziehungsweise UK), die gegenwärtig als Siegermächte des Zweiten Weltkriegs über einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat verfügen, und jenen ohne einen solchen Sitz. Entsprechend dürften die Einstellungen zur Reform der UN bzw. der internationalen Ordnung generell recht unterschiedlich sein und in diverse Richtungen gehen. Die EU kommt jedoch ohnehin nicht darum herum, das im Zuge ihrer bisherigen Geschichte erworbene Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten für ihre gegenwärtige und zukünftige Außenpolitik zu mobilisieren. Schließlich funktioniert auch die aktuell neue Form annehmende GSVP auf der Basis gegenseitigen Vertrauens – oder sie wird wirkungslos bleiben. Es ist der Union zu wünschen, dass das Engagement der Mitgliedstaaten für eine gemeinsame Politik insgesamt neuen Schwung erhält. Dies wird nicht ohne Revitalisierung der Wertebasis gehen können. Doch würde die EU damit die Voraussetzung schaffen für eine konsistentere Einstellung ihrer Mitglieder und ihrer eigenen Politik zu den fundamentalen Werten Frieden, Freiheit, Menschenrechte und Demokratie – nach innen wie nach außen. Das wäre jedenfalls ein wirklich substanzieller Beitrag der EU zur globalen Friedensordnung.

Zusammenfassung

Christof Mandry

Nach akademischen Stationen in Tübingen, Berlin, Erfurt und Saarbrücken hat Christof Mandry seit 2015 die ­Professur Moraltheologie/Sozialethik an der Goethe Universität Frankfurt inne. Seine Forschungs- und Inter­essenschwerpunkte liegen zum einen im Bereich  der politischen Ethik (gesellschaftlicher Pluralismus, Europäische Union, Migration), auf der anderen Seite in den Bereichen der Lebensführung und der Identität moralischer Personen sowie der Bio- und Medizinethik (Ethik im Gesundheits­wesen, medizinethische Entscheidungsfragen).

mandry@em.uni-frankfurt.de


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