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"Mein Bild für das sich einigende Europa sind mehr und mehr Inseln funktionierender Kooperation"

Herr Dr. Bartels, angenommen, wir befinden uns auf dem Weg zur europäischen Armee: Wie übersetzen Sie die Grundsätze der Inneren Führung für europäische Verteidigungspolitiker? Hätten diese Probleme, sie zu verstehen?
Staatsbürger in Uniform, also Soldaten als Teil des demokratischen Gemeinwesens, das gibt es auch anderswo in Europa. Aber unser Konzept mit Namen „Innere Führung“ ist schon ein sehr deutsches. 

Gemeint ist die Ergänzung des militärischen Prinzips von Befehl und Gehorsam, also wenn Sie so wollen: der „äußeren Führung“, durch ethische Maßstäbe, die jeder einzelne Soldat und jede Soldatin verinnerlicht haben soll. Jede und jeder muss in sich selbst so einen Maßstab tragen für Gut und Böse, für Richtig und Falsch, für Recht und Unrecht. Und dieser Maßstab muss mit Freiheitlichkeit und Demokratie vereinbar sein. Wohlgemerkt: Diese individuellen Maßstäbe können in einem christlichen Menschenbild wurzeln oder im Humanismus oder im kritischen Rationalismus. Der beliebte pauschale Verweis auf die sogenannten „Werte des Grundgesetzes“ greift meines Erachtens eigentlich immer zu kurz. Das ist mechanistisches Ableitungsdenken, geprägt vom Glauben an militärische Dokumentenhierarchien. 

Unsere feste Überzeugung, dass etwa die klassischen Menschenrechte universell gültig sind, überall und jederzeit, leitet sich nicht erst aus dem Grundgesetz ab, sondern geht dem Grundgesetz voraus und liegt ihm zugrunde. Das heißt: Die Menschenrechte gelten nicht deshalb, weil sie in unserer Verfassung stehen, sondern sie stehen in unserer Verfassung, weil sie universell gültig sind – auch schon bevor 1949 das Grundgesetz beschlossen wurde. 

Auf solche „inneren“ universell gültigen Maßstäbe für Gut und Böse mussten im Zweiten Weltkrieg die Soldaten des Widerstandes gegen das Nazi-Regime zurückgreifen, als das System der „äußeren Führung“ sie immer wieder zum Bösen, zum Falschen, zum Unrecht zwang. Viele haben vor dem 20. Juli 1944 mit sich gerungen, ob sie ihren Eid auf Hitler brechen und den Befehlsgehorsam, der in der Wehrmacht absolut galt, verweigern durften. Sie hatten ja sonst nichts anderes als ihr eigenes Inneres, ihr Gewissen. Reichte das? 

Das Konzept der Inneren Führung sagt jetzt: Euer freiheitliches Gewissen ist Teil Eures Soldatseins. Der gewissenlose Nur-Kämpfer kann kein Verteidiger von Freiheit und Recht sein. Deutschlands Soldaten müssen wissen, wofür sie kämpfen: nicht für irgendein ihnen vorgegebenes Ziel, sondern für etwas, das ihnen selbst wertvoll ist – für ihre, für unsere freiheitliche Ordnung. Kämpfen können und kämpfen wollen, nicht nur weil es befohlen ist, sondern weil die Sache gut und richtig ist, mit dem Gewissen vereinbar: Das ist „Innere Führung“. Deshalb hat jeder Soldat Anspruch auf historische, ethische und politische Bildung, vom ersten bis zum letzten Tag seines Dienens. 

Und deshalb gibt es übrigens in unserer Verfassung diesen seltsamen, einzigartigen, sehr deutschen Satz in Artikel 20, Absatz 4: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Jeder Einzelne ist die letzte Instanz, die unsere Freiheit bewahrt. So, das war jetzt eine besonders lange Antwort, aber so ist es eben mit der besonderen deutschen Geschichte, Erfahrung und Verantwortung.  

Konkret nachgefragt – glauben Sie, das Verhältnis von Demokratie und Streitkräften, wie wir es in Deutschland aus guten historischen Gründen gestaltet haben, ist in der gesamten EU konsensfähig? 
Im Grundsatz ja. Das heißt in Stichworten: Primat demokratischer Politik, aktives und passives Wahlrecht, Beschwerde- und Petitionsrecht, Wahl von Vertrauensleuten und Koalitionsfreiheit, etwa in eigenen soldatischen Berufsverbänden, Gewissens-, Meinungs- und Äußerungsfreiheit im Rahmen der allgemeinen Loyalitätspflicht, Unvereinbarkeit des Soldatseins mit extremistischen, antidemokratischen Haltungen. Und politische Bildung! Nichts davon ist exklusiv deutsch. Manches davon muss in manchen Mitgliedstaaten, gerade den jüngeren, noch rechtliche und gelebte Normalität werden. Aber der Zug fährt genau in diese Richtung. „Innere Führung“ müssen wir es dann vielleicht nicht nennen, „Staatsbürger in Uniform“ reicht. 

Als Argument für die europäische militärische Integration wird immer wieder die Kosteneffizienz angeführt. Wäre es da nicht sinnvoll, zunächst im nationalen Bereich – sprich: bei der Bundeswehr – die Kosteneffizienz zu verbessern, bevor man – um bei wirtschaftlichen Begriffen zu bleiben – eine Fusion eingeht?
Man braucht die nationale nicht gegen die europäische Effizienzsteigerung auszuspielen. Jeder weiß, dass in der Bundeswehr jeden Tag eine Menge Geld sinnlos verbrannt wird. Da muss man ran! Aber dass EU-Europa und Nato-Europa nicht wahnsinnig stark wirken, wenn 22, 25 oder 30 nationalstaatliche Klein-Armeen nebeneinander antreten mit 200 unterschiedlichen Panzertypen, Flugzeugmustern und Fregatten, scheint mir evident. Im Übrigen „fusionieren“ das deutsche und das niederländische Heer gerade ganz real, im täglichen Grundbetrieb. Die Rückmeldungen sind gut. Ich finde das super! 

Viele Skeptiker führen ja an, dass bei einer Europäischen Armee „der Karren vor das Pferd gespannt wird“: Gemeinsame Streitkräfte will man schaffen, aber eine gemeinsame strategische Kultur will man erst später diskutieren. Was antworten Sie diesen Skeptikern?

Natürlich gibt es auf dem Weg zur europäischen Verteidigungsunion noch tausend große und kleine Probleme zu lösen. Aber angesichts unserer europäischen Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts sind das keine schlimmen, sondern alles ziemlich gute Probleme. Mein Bild für das sich einigende Europa ist nicht der eine große, von allen Nationen auszuhandelnde Masterplan, nach dem dann alles weitere nur noch planmäßig abrollen muss. Mein Bild sind mehr und mehr Inseln funktionierender Kooperation, die wachsen, sich beim Größerwerden berühren, zusammenwachsen und nach und nach Festland bilden. 

Und was die heute noch gewiss recht unterschiedlichen strategischen Erfahrungen und Kulturen angeht: Gibt es Integrationsfortschritte beim Militär, dann gibt es auch die sogenannte „normative Kraft des Faktischen“ für die Außen- und Sicherheitspolitik. Gibt es keinen Fortschritt, dann bleiben wohl erst mal die historisch gewachsenen Unterschiede in den strategischen Kulturen bestehen.

Herr Dr. Bartels, vielen Dank für das Interview!


Dr. Hans-Peter Bartels

Dr. Hans-Peter Bartels ist seit 2015 Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages. Er studierte Politische Wissenschaft, Soziologie und Volkskunde an der Christian-Albrechts-Universität Kiel und wurde dort 1988 promoviert. Er trat 1979 in die SPD ein und war von 1998 bis zur seiner Ernennung zum Wehrbeauftragten Mitglied des Deutschen Bundestages – zuletzt als Vorsitzender des Verteidigungsausschusses. Zudem ist Dr. Hans-Peter Bartels Mitglied der SPD-Grundwertekommission. 

wehrbeauftragter@bundestag.de

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