Kontroversen in Militärethik und Sicherheitspolitik
"Hybride Kriegführung" – ein möglicher Trigger für Vernetzungsfortschritte?
"Hybride Kriegführung" – ein Konzept mit wenig Mehrwert
Seit „hybride Kriegführung“ bereits vor zehn Jahren als Beschreibung des Vorgehens der Hisbollah gegen Israel im sogenannten zweiten Libanonkrieg 2006 in die US-amerikanische Strategiedebatte einging (Frank G. Hoffmann), diente das Attribut „hybrid“ zur generischen Bezeichnung des Vorgehens gegnerischer Parteien gegen das US-Militär in so unterschiedlichen Szenarien wie in Afghanistan oder im Irak. „Hybride Kriegführung“ im US-Diskurs hatte dabei moderne militärische Gegner im Blick, die sich konventioneller wie auch unkonventioneller Instrumente, regulärer wie auch irregulärer Akteure, offener oder verdeckter Mittel im gesamten zur Verfügung stehenden Spektrum bedienen, um die westliche konventionelle Überlegenheit zu unterlaufen. Referenzpunkt der damaligen US-Debatte waren jedoch irreguläre nichtstaatliche Akteure.
Mit dem russischen Vorgehen im Konflikt mit der Ukraine seit 2014 wurde der Begriff im NATO-Diskurs aufgegriffen und befeuert seitdem auch die deutsche Debatte. Unter dem Eindruck der Ereignisse in der Ostukraine wurden weitere Nuancen von „hybrider Kriegführung“ hervorgehoben: die besondere Bedeutung des Faktors Information und die Nutzung sozialer Netzwerke im virtuellen Raum, die systematische Kontrolle (oder Zerstörung) ökonomischer und sozialer Infrastrukturen sowie die besondere Rolle der Zivilgesellschaft. Unmerklich hatte sich damit der Bezugspunkt der Diskussion um „hybride Kriegführung“ von irregulären Akteuren hin zum Einsatz durch einen staatlichen Akteur verschoben.
Das US-amerikanische Verständnis von „hybrider Kriegführung“ geht davon aus, dass diese durch eine Kombination der oben skizzierten Elemente gekennzeichnet ist. In der NATO und der deutschen Diskussion dagegen wird vor allem der spezifische Fall des russischen Vorgehens in der Ukraine als „hybride Kriegführung“ bezeichnet. Hier verfolge ein Staat seine Interessen gegenüber einem anderen Staat unter Anwendung von Gewalt mittels teilweise verdeckter, teilweise offener Unterstützung irregulärer Akteure. Dabei komme es nicht zu einer direkten Auseinandersetzung zwischen den Streitkräften der beiden Staaten. Die Form der Gewaltausübung könne Terroranschläge, Guerillataktiken oder auch konventionelle Konfrontationen beinhalten (Hans-Georg Erhardt). Diese eng gefasste Definition wird jüngst auch in Deutschland zugunsten eines breiteren Verständnisses abgelöst, das sich der US-Terminologie annähert (vgl. Veronika Bock auf einer zebis-Konferenz zum Thema im Juli 2015).
Das breitere Begriffsverständnis ist problematisch, weil zu generisch. Was unterscheidet „hybride Kriegführung“ von dem Vorgehen gegnerischer Parteien im Osten der Demokratischen Republik Kongo, in Mali, im Jemen oder in Syrien, die bislang nicht mit dieser Markierung versehen waren? In dieser Perspektive reiht sich der Begriff ohne erkennbaren analytischen Mehrwert in die Serie nicht weniger verschwommener Termini wie „asymmetrische“ oder „irreguläre“ Kriegführung ein und ist eher eine weitere Sammelbezeichnung für all jene Vorgehensweisen im Rahmen gewaltsam ausgetragener Konflikte, die sich nicht genau klassifizieren lassen und für die es bislang nur unzureichende Gegenstrategien gibt.
In seinem enger gefassten Verständnis dient „hybride Kriegführung“ ebenfalls nicht als analytisch sinnvolle Kategorie, weil er sich nur auf den spezifischen Fall Russlands bezieht. Vielmehr ist er als Ausdruck der politischen und militärischen Herausforderungen zu lesen, vor die das russische Vorgehen in der Ukraine die NATO-Staaten gestellt hat. In dieser Eigenschaft zeigt er vor allem die Überraschung an, dass Russland so unverhohlen das Konstrukt der „gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur“ und die damit verbundenen Ordnungsvorstellungen und Erwartungen an internationale Regeltreue unterlaufen hat. Außerdem weist der Begriff darauf hin, dass die NATO-Staaten noch keine adäquate Antwort auf die Frage nach der Rolle Russlands in Europa und im transatlantischen Kontext gefunden haben – weder sicherheitspolitisch und politisch noch ökonomisch. Darüber hinaus ist er ein Indikator für das gesteigerte Bewusstsein über die Angreifbarkeit und mangelnde Resilienz unserer Gesellschaften gegenüber „hybriden“ Formen der Kriegführung, nicht nur mit Blick auf Russland. Nicht zuletzt deutet der Begriff auf die gewachsene Bedeutung von Perzeptionen und Interpretationen und die damit einhergehende Entscheidungsunsicherheit in der Sicherheitspolitik, denn ein Charakteristikum „hybrider Kriegführung“ ist u. a. die fehlende Eindeutigkeit des Charakters der Aggression und das Verschwimmen der Grenzen von Konflikt und Krieg mitsamt ihren völkerrechtlichen und politischen Implikationen. Schließlich verweist „hybride Kriegführung“ in weitem Sinne auf ein Defizit an gesamtstaatlichen Strategien und Vorgehensweisen der Außen- und Sicherheitspolitiken der NATO-Staaten.
„Hybride Kriegführung“ als Indikator für eigene Kohärenzdefizite
Der letztgenannte Aspekt verdient besondere Beachtung und wird im Mittelpunkt der nachfolgenden Überlegungen stehen. In der jüngsten deutschen Debatte über „vernetzte Sicherheit“ im Rahmen des laufenden Prozesses zur Entwicklung eines neuen Weißbuchs Sicherheitspolitik wurde das russische Vorgehen in der Ostukraine mehrfach ironisch als „perfektes vernetztes Handeln“ kolportiert. Gemeint ist, dass Russland bewiesen habe, dass es in der Lage sei, alle zur Verfügung stehenden zivilen und militärischen Instrumente gebündelt und zielgerichtet einzusetzen. Die Beurteilung, inwieweit das russische Vorgehen tatsächlich einer systematischen Strategie unterliegt oder eher auf situative Gegebenheiten reagiert, sei an dieser Stelle weitergehenden Analysen vorbehalten. Tatsächlich aber trifft die provokante Aussage eine Schwachstelle von Demokratien westlichen Typs.
Autoritäre Systeme können sich vorhandener regulärer und irregulärer Handlungsinstrumente schnell und ohne größere Restriktionen durch dezentrale Machtverteilung und demokratische Konsensfindungsprozesse bedienen. Demokratien westlichen Typs dagegen sind durch vielfältige Machtkontrollmechanismen schwerfälliger in ihren Entscheidungsprozessen und unterliegen bei der Definition ihrer politischen Ziele sowie bei der Wahl ihrer Handlungsinstrumente stärkerem Erklärungs- und Legitimationsbedarf. Die damit einhergehende höhere Ausprägung von Identitäten und Eigeninteressen auch von Institutionen der Exekutive und der Wettbewerbscharakter politischer Prozesse erschweren zentral verordnete Politiken „aus einem Guss“.
Die intensiven Diskussionen seit über einer Dekade um „vernetzte Sicherheit“ in Deutschland oder den Comprehensive Approach im NATO- und EU-Kontext basieren auf der Wahrnehmung mangelnder Kohärenz von Strategien und Implementierungsmodi in der Außen- und Sicherheitspolitik und daraus resultierenden Effektivitäts- und Effizienzverlusten. Bedrohungen durch „hybride Kriegführung“ aller Schattierungen fördern in besonderer Weise jene Defizite zutage, auf die „vernetzte Sicherheit“ oder der Comprehensive Approach Antworten zu geben versuchen.
Der Mainstream sicherheitspolitischen Denkens in Deutschland beginnt sich trotz aller Bekenntnisse zu gesamtstaatlichen Ansätzen und Vernetzung nur langsam von Schemata zu lösen, die primär auf militärische Instrumente setzen. Faktisch bestehen kaum ganzheitliche Problem- und Lagebilder. Problemanalysen und Strategien werden meist nur auf Ressortebene entwickelt, während sich Abstimmungs- und Koordinierungsprozesse überwiegend auf die operative und taktische Ebene im Einsatzland verlagern, da es an kohärenten ressortabgestimmten politisch-strategischen Weisungen fehlt. Systematische Evaluierungen finden, wenn überhaupt, kaum ressortübergreifend statt.
Mit Blick auf aktuelle Herausforderungen wie die fortgesetzten Aktivitäten Russlands in der Ostukraine unterhalb der Schwelle eines offenen Krieges, die Erosion funktionierender Staatlichkeit in Syrien, Irak oder Libyen und die Expansion von IS oder auch die wachsende Flüchtlingsbewegung nach Europa stehen wir bislang weitgehend ratlos da. Es fehlt an klarem politischen Willen und Zielen und entsprechend holistischen Lösungsstrategien, die humanitäre und entwicklungspolitische Instrumente mit polizeilichen und militärischen Mitteln komplementär zur Wirkung bringen und dabei mit wirtschaftlichen, sozialpolitischen und informationspolitischen Instrumenten verknüpfen.
Akteure, die sich „hybrider“ Vorgehensweisen bedienen, haben dagegen ein utilitaristisches Verhältnis zu den verfügbaren Instrumenten und kombinieren diese vorbehaltlos. Dabei verschwimmen die Trennlinien ziviler und militärischer Instrumente und vor allem sind sie nicht durch normative Rücksichten gebremst. Die Konfrontation mit „hybrider Kriegführung“ bringt uns an die Grenzen der schnellen und effektiven internationalen Handlungsfähigkeit unserer politischen Systeme. Die ordnungspolitischen und normativen Grundlagen und freiheitlich-demokratischen Willensbildungsprozesse unserer Gesellschaften gehören zu den höchsten Gütern und stehen in einem gewissen Spannungsverhältnis zu den Notwendigkeiten konsequenter Bündelung staatlicher Instrumente und deren schnellem Einsatz zur Erreichung besserer internationaler Handlungsfähigkeit. Eine Entscheidung zugunsten stärkerer Zentralisierung außen- und sicherheitspolitischen Handelns könnte nur auf Grundlage eines gesellschaftlichen Konsenses erfolgen. Dieser setzte aber eine verbreitete Bedrohungsperzeption voraus, die im Falle von Bedrohungen durch „hybride Kriegführung“ bis dato nicht gegeben ist.
Die Rolle der Zivilgesellschaft als Subjekt mit eigenen legitimen Interessen, spezifischen Funktionen und besonderen Handlungsformen wird in internationalen Krisenmanagementstrategien der NATO und EU unverändert vernachlässigt. Das gefährliche Potenzial der Radikalisierung breiterer Kreise der Bevölkerung, die Verwundbarkeit von Gesellschaften mit schwachen sozialen und ökonomischen Infrastrukturen oder die Notwendigkeit der präventiven Arbeit an den Konfliktursachen sind zwar vollständig erkannt, doch fand dies bisher keinen Niederschlag in entsprechenden Strategien. Maßnahmenpakete, die Radikalisierungstendenzen vorbeugen, die Stärkung von Institutionen und Regierungsfähigkeit in fragilen Staaten, die Nutzung wirtschaftspolitischer Instrumente zur Verbesserung von Infrastruktur und Arbeitsmarktchancen oder das systematische Mainstreaming konfliktpräventiver Vorgehensweisen sind bis heute Gegenstand von Fachcommunitys und einzelnen Ressortstrategien geblieben. Sie haben nicht Eingang gefunden in übergeordnete Strategien, die polizeiliche und militärische mit entwicklungspolitischen und privatwirtschaftlichen Instrumenten komplementär und systematisch verbinden.
Demgegenüber spielt die Zivilgesellschaft als Rekrutierungsbasis, Ressourcenreservoir, Finanzierungsbasis, Herrschaftssubjekt, Refugium, Legitimationsbeschaffer und oftmals auch soziale Basis eine zentrale Rolle in der „hybriden Kriegführung“. „Vernetzte Sicherheit“ und Comprehensive Approach müssen weiter gedacht werden denn als Flankierung des Militärs mit zivilen Mitteln oder Ersatz militärischer Maßnahmen durch zivile Mittel infolge sinkender Bereitschaft zum Einsatz des Militärs. Gesamtstaatliche Ansätze zur Lösung sicherheitspolitischer Herausforderungen stehen in EU- und NATO-Staaten entgegen landläufiger Rhetorik noch ganz am Anfang.
Bedrohungen durch „hybride Kriegführung“ als möglicher Trigger für Vernetzungsfortschritte?
Die Aufmerksamkeit um die Bedrohungen durch „hybride Kriegführung“ bietet bei allen Schwächen auch die Chance, ressortübergreifende Politikkonzepte zu befördern. Allerdings ist, wie oben angedeutet, die Bedrohungsperzeption zum einen bisher nur auf Fachkreise beschränkt. Zum anderen darf nicht übersehen werden, dass weder „vernetze Sicherheit“ noch Comprehensive Approach jemals befriedigend definiert wurden.
Das Verständnis von „vernetzter Sicherheit“ in Deutschland reicht heute von verbesserter Zusammenarbeit von zivilen und militärischen Akteuren auf der operativen und taktischen Ebene bis hin zu abgestimmten Krisenmanagementstrategien auf der internationalen Ebene. In den Anfängen der Diskussion hatte das Konzept eine systemreformerische Konnotation. In diesem Sinne wurde „Vernetzte Sicherheit“ verstanden als Qualität von Sicherheitspolitik, die sich auszeichnet durch 1. ein ressortgemeinsames, umfassendes und systemisches Lage- und Problemverständnis; 2. ein ganzheitliches, wirkungsorientiertes außen- und sicherheitspolitisches Denken, das auch Interdependenzen, Effektkaskaden und unbeabsichtigte Wirkungen berücksichtigt; 3. systematische, ressortgemeinsame und organisationsübergreifende Entscheidungsfindungs-, Planungs- und Implementierungsverfahren und 4. ressortgemeinsame und organisationsübergreifende Fortschrittskontrollen und Wirkungsmessung als integraler Bestandteil im internationalen Krisenmanagement.
Die heutige Diskussion um „vernetzte Sicherheit“ hat diesen reformerischen Impetus weitgehend eingebüßt. Das Konzept hat eine Inflation durchgemacht, in deren Folge zuweilen „miteinander reden“ schon zum „vernetzten Ansatz“ stilisiert wird. Auf EU- und NATO-Ebene ist eine konsequente Entwicklung kohärenter und ganzheitlicher Strategien aufgrund nationaler bzw. institutioneller Interessendivergenzen bislang ausgeblieben. In Deutschland sind teilweise beträchtliche Verbesserungen von Kommunikations- und Kooperationsmodi zwischen Ressorts und nachgeordneten Behörden zu konstatieren, doch sind sie im Ansatz inkrementell geblieben und haben nennenswerte Qualitätsfortschritte vor allem in der politisch-strategischen Abstimmung unter den Ressorts vermissen lassen.
Anlässe und Handlungsbedarf zur Verbesserung der Kohärenz im internationalen Krisenmanagement hat es in den letzten Jahren hinreichend gegeben – in Afghanistan, in Nahmittelost, im Maghreb, in Bezug auf die Gefahr durch islamistischen Terrorismus; von den aus dem Blick geratenen Krisen und Konflikten in Afrika, Asien und Lateinamerika ganz zu schweigen. Die erreichten Fortschritte im Sinne verbesserter ressort- und organisationsübergreifender Zusammenarbeit auf nationaler Ebene wie auch im Rahmen von NATO und EU zeigen an, dass Problembewusstsein vorhanden ist. Allein, die Verbesserungen greifen zu kurz. Um die oben beschriebenen Herausforderungen langfristig bewältigen zu können, ohne dass die normativen und ordnungspolitischen Fundamente unserer Gesellschaften daran Schaden nehmen, bedarf es der konsequenten Weiterentwicklung gesamtstaatlicher politischer Umsetzungsstrategien.
In diesem Kontext steht zu hoffen, dass der laufende Prozess zur Entwicklung eines neuen Weißbuchs Sicherheitspolitik im Jahr 2016 in einem Dokument der Bundesregierung resultiert, das neben der Bundeswehr auch das gesamte Spektrum an außen- und sicherheitspolitisch relevanten Instrumenten der anderen Ressorts ins Auge fasst. Auch ist zu wünschen, dass der Impuls, der vom Review-Prozess des Auswärtigen Amtes zur Neuorientierung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik hin zu einer stärkeren Übernahme von internationaler Verantwortung ausging, von anderen Ressorts aktiv aufgegriffen wird und deren Instrumente systematisch zur Gestaltung ganzheitlicher deutscher Strategien im internationalen Krisenmanagement gebündelt werden.
Die Debatte um „hybride Kriegführung“ kann einen positiven Beitrag dazu leisten, wenn sie sich auf jene Bedarfsfelder einlässt, für die sie ein Problemindikator ist.
Dr. Fouzieh Melanie Alamir ist Politologin und begann ihre Karriere als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität der Bundeswehr Hamburg und Dozentin an der Führungsakademie der Bundeswehr im Jahr 1997. 2001 wechselte sie als Referentin in die Abteilung Militärpolitik des Bundesministeriums der Verteidigung (BMVg). Als Leiterin des Sektorvorhabens „Sicherheitssektorreform“ arbeitete sie von 2004 bis 2006 bei der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ). Dem folgte eine Tätigkeit als Programm-Managerin „Vernetzte Sicherheit“ von 2006 bis 2011 bei der IABG mbH. Ende 2006 arbeitete sie als Political Advisor beim NATO Senior Civilian Representative im ISAF-Headquarter Kabul. Nach einer Phase als selbstständiger Consultant leitete Frau Alamir von 2013 bis 2015 das Kompetenzcenter „Sicherheitssektor“ bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ). Seit Oktober 2015 arbeitet sie als Portfolioleiterin für die GIZ in Pakistan. Ihre Engagements führten sie u.a. nach Afghanistan, Aserbaidschan, Ghana, Kenia, Indonesien, und Sudan.