Kontroversen in Militärethik und Sicherheitspolitik
Das Geschäft mit den Flüchtlingen - inwieweit trägt Europa daran eine Mitschuld?
Mit Schleusergeldern in Milliardenhöhe werden auf dunklen Wegen extremistische Gruppierungen finanziert – inwieweit trägt Europa daran eine Mitschuld?
Ungeachtet der Tatsache, dass man Menschen in Seenot helfen muss, darf man die Augen nicht vor der Komplexität der Flüchtlingsthematik verschließen. Es ist ein gewaltiges Geschäft mit dem illegalen Transport von verzweifelten Menschen. Naive Betroffenheitssentimentalität nach Gutmenschenart ist wenig zielführend. Viele Flüchtlinge bezahlen für ihren Weg nach Europa Tausende von Euros oder Dollars an die Schleuser.
Im Wissen darüber, dass sie wahrscheinlich kein Asyl erhalten werden, vernichten viele unterwegs ihre Identitätspapiere. So verhindern sie, ohne Papiere und nachgewiesene Staatszugehörigkeit, leicht wieder ausgewiesen werden zu können.
Die Bundeswehr ist seit Anfang Mai 2015 auf dem Mittelmeer im Einsatz – erst zur Rettung von Menschen in Seenot und seit Juni im Zuge der EU-Operation EUNAVFOR MED, welche die gezielte Bekämpfung der Schlepperbanden zum Ziel hat. Anfangs konzentrierte sich diese auf die Aufklärung und Informationsgewinnung über die Schleppernetzwerke, doch seit Oktober dürfen zusätzlich verdächtige Schiffe durchsucht und gegebenenfalls beschlagnahmt und umgeleitet werden.
Bei all dem bleibt jedoch die Seenotrettung ein wichtiger Bestandteil des Auftrags – ist diese doch die Pflicht eines jeden Seefahrers nach dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen und dem Internationalen Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See. Seit Mai rettete die Bundeswehr somit fast 9.000 Menschen aus Seenot.
Die Schleuser wissen um die zusätzlichen patrouillierenden Schiffe und verstärken ihre Aktivitäten. Sie liefern somit den Flüchtlingen erweiterte „Garantien“, denn wenn sie die eigenen Hoheitsgebiete verlassen haben, werden sie im Mittelmeer aufgefischt.
Die zunehmende Präsenz von grauen Schiffen im Mittelmeer verringert für die Schleuser und die Flüchtlinge das Risiko enorm und es wird kalkulierbarer. Im Wissen um „Erfolgsmeldungen“ in der Presse und um die Tatsache, dass man im besten Fall nicht mehr den ganzen Weg, sondern nur eine gewisse Teilstrecke jenseits der libyschen Hoheitsgewässer zu bewältigen hat, motiviert Schleuser und Fluchthelfer gleichermaßen.
Das Geschäft mit den Flüchtlingen ist zur Industrie geworden, die enorme Gewinne abwirft. Es geht dabei um Milliardenbeträge. Auch extremistische Gruppen nutzen die Möglichkeit, an diesem „Markt“ zu verdienen.
Insofern ist der Auftrag der Bundeswehr ambivalent, da man einerseits Menschen rettet und andererseits indirekt und nolens volens zum Helfershelfer der Fluchtorganisatoren wird und die organisierte Kriminalität unterstützt, mit der auch Gewalt, Zwangsprostitution und Menschenhandel einhergehen.
Daran ändert auch der aktuelle Auftrag der Bundeswehr zum aktiven Kampf gegen die Schlepper nichts, denn die eigentlichen Schleuser sitzen nicht selbst in den Booten. Und solange es eine Nachfrage für Schlepper gibt, wird diese auch bedient und ausgenutzt werden.
Es heißt, dass das Flüchtlingsproblem nur durch Zusammenarbeit mit den Regierungen der betroffenen Länder gelöst werden kann. Es braucht ein gemeinsames Vorgehen zusammen mit den afrikanischen und nahöstlichen Ländern, um Fluchtursachen wirksam zu bekämpfen. Solange dies nicht geschieht, versucht man nur die Symptome der Flüchtlingsdramatik zu lindern. Was ist aber, wenn diese Regierungen einer der Hauptgründe für die Flucht sind? Die Frage, ob man eine humanitäre Tragödie mit militärischen Mitteln beantworten kann, führt mitten hinein in die ethischen und politischen Gemengelagen, die von Anfang an die Flüchtlingsproblematik begleitet haben. Der Einsatz von Soldaten konfrontiert Deutschland mit der brisanten Fragestellung, wie stark Europa beispielsweise im libyschen Chaos intervenieren soll.
Es ist richtig, dass die Schlepper bei ihrem Geschäft die Seenotrettung gnadenlos einkalkulieren. Je mehr Schiffe die EU-Länder ins Mittelmeer schicken, desto geringer wird das Risiko des Transits und umso kräftiger wachsen die Gewinne der Schleuser. Europa steht damit bezüglich der Schlepperkriminalität mit in der Verantwortung.
Doch ertrinkende Menschen aus dem Meer zu fischen ist humanitär und immer richtig. Und die, die das tun, haben das Gefühl, etwas Wichtiges und Richtiges getan zu haben. Aber es kann immer nur eine Notfallmaßnahme sein.
Es handelt sich dabei um ein unauflösbares Dilemma, aus dem man nicht unschuldig herauskommt. Solange es keine legalen Wege gibt, werden Schlepper und alle, die sich an dem Geschäft beteiligen, an den illegalen Wegen verdienen. Dies gilt auch für extremistische Gruppen wie den „Islamischen Staat“ (IS).
Annahmestellen in den Herkunftsländern und legale Fluchtkorridore könnten also ein erster Schritt sein, das System der organisierten Schlepperkriminalität zu durchbrechen. Vor allem aber wird deutlich: Es braucht eine umfassende Strategie. Unüberlegte Schnellschüsse und Populismus bieten keine Lösung. Was im Süden Europas geschieht, ist zur Herausforderung für alle geworden.
Militärdekan Dr. Dr. Michael Gmelch
Militärdekan Dr. Dr. Michael Gmelch nahm als erster kath. Militärpfarrer am 1. Einsatzkontingent der Deutschen Marine „Humanitäre Hilfe für in Seenot geratene Flüchtlinge im Mittelmeer“ teil. Er ist Pastoraltheologe und Pastoralpsychologe, Psychotherapeut (Heilpraktiker) und Priester der Diözese Eichstätt. Er ist Leiter des katholischen Militärpfarramts in Flensburg und betreut u. a. die Offizieranwärter der Marineschule Mürwik auf dem Segelschulschiff Gorch Fock sowie auf hoher See im Rahmen des Einsatzausbildungsverbandes (EAV).