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Hybride Kriege. Die Auflösung der binären Ordnung von Krieg und Frieden und deren Folgen

"Hybrider Krieg" als Chiffre semantischer Ratlosigkeit

Die Trennlinien zwischen Krieg und Frieden lösen sich auf, und dabei hat sich ein Zwi-schenzustand entwickelt, der weder als Krieg im klassischen Sinn noch als Frieden bezeichnet werden kann. Dieser Zwischenzustand, der nicht eindeutig zu benennen ist, weil er ständig seinen Charakter wechselt, und für den darum der Begriff des Hybriden eingeführt wurde, lässt sich vor allem an der Peripherie der Wohlstandszonen und in postimperialen Räumen beobachten. Er nimmt hier mitunter den Charakter von Bürgerkriegen an, des Wei­teren den von transnationalen Kriegen und schließlich auch den einer exzessiven Gewaltkriminalität. Gleichzeitig spricht man aber auch von hybridem Krieg, wenn staatliche Akteure im klassischen Sinn sich bestimmter Methoden unterhalb des massiven Einsatzes von Militär bedienen, um einen Nachbarstaat zu destabilisieren, etwa in Form von Cyberattacken gegen die Infrastruktur dieses Staates oder auch durch die Anzettelung bzw. Unterstützung von Revolten und Aufständen nationaler Minderheiten im Nachbarland. „Hybrider Krieg“ ist also ein Sammelbegriff, mit dem recht unterschiedliche Formen organisierter Gewalt sowie völkerrechtlich unzulässiger Einflussnahme auf einen anderen Staat bezeichnet werden. Neben dem Begriff der „neuen Kriege“ handelt es sich bei ihm um einen weiteren Versuch, der Erosion herkömmlicher Klassifikationsbegriffe bzw. ihrer zunehmenden Unzulänglichkeit bei der begrifflichen Ordnung der politischen Welt Rechnung zu tragen. Deswegen ist es auch unmöglich, präzise zu definieren, was mit dem Begriff des hybriden Krieges gemeint ist. Im Prinzip steht Hybridität für die Undefinier-barkeit des so Bezeichneten. Der Begriff „hybrider Krieg“ verweist eher auf das, was nicht mehr der Fall ist, als dass er das Neue der veränderten Lage präzise zu bezeichnen vermag.

Solche Probleme bei der Klassifikation von Kriegen bzw. der Definition des Krieges in Abgrenzung gegenüber dem Frieden sind nicht neu. Als Carl von Clausewitz in „Vom Kriege“ nach dem Ende der napoleonischen Kriege und unter dem Eindruck einer durch die Französische Revolution entfesselten Kriegsgewalt die neue Erfahrung in Absetzung gegen das herkömmliche Modell des Kabinettskrieges einer analytischen Be­trachtung unterzog, nannte er den Krieg „ein wahres Chamäleon“ und „eine wunderliche Dreifaltigkeit“, weil er immer wieder nicht nur seine Erschei­n­ungsform, sondern auch seine Antriebs­momente und seine Dynamik verändere. Immerhin identifizierte Clausewitz im Krieg einen „blinden Naturtrieb“ (die Gewaltsamkeit als sein Element sowie Hass und Feind­schaft), die „freie Seelentätigkeit“ (das Spiel mit Wahrscheinlichkeiten und Zufall) sowie den „bloßen Verstand“ (Krieg als politisches Werkzeug), um die Verschiedenartigkeit der Kriege aus der spezifischen Kombination dieser Elemente von Brutalität, Kreativität und Rationalität heraus begreifen zu können (Vom Kriege I, 1). Gleichzeitig definierte er die verwischten Grenzen zwischen Krieg und Frieden neu, indem er den Krieg nicht mit dem Angriff, sondern mit der Verteidigung beginnen ließ, weil Angreifen nur das bloße Besitzen, Verteidigen aber das wirkliche Kämpfen zum Ziel habe. Auf diese Weise hat Clausewitz den außer Rand und Band geratenen Kriegsbegriff neu gefasst.

Binäre Begrifflichkeit als politische Ordnungsstiftung

Politische Ordnung, könnte man sagen, be­­­ginnt mit einer leidlich zuverlässigen Unterscheidung von Krieg und Frieden. Über die längste Zeit der Menschheitsgeschichte war das nicht der Fall. Die nomadische Lebensweise der Jäger- und Sammler-Gemeinschaften ließ derlei nicht zu. Das änderte sich erst mit der Entstehung von Sesshaftigkeit im Gefolge der neolithischen Revolution, also dem Übergang zu Ackerbau und Viehzucht. Im Unterschied zu nomadischen Jägern sind Bauern auf Frieden angewiesen; Krieg wird zu einer Angelegenheit von Spezialisten: von Aristokraten und Berufs­kriegern, die allmählich einen eigenen Ehrenkodex ausbilden. Dieser Ehrenkodex kann als eine erste Form der Hegung von Kriegsgewalt angesehen werden. Ihm folgte mit der Verdich­tung von Staatlichkeit die Juridifizierung der Unterscheidung von Krieg und Frieden, die als voneinander aparte Aggregatzustände des Politischen begriffen wurden; die Übergänge vom einen in den anderen Zustand wurden zunächst konventionalisiert und später als Rechtsakte institutionalisiert: Kriegserklärung im einen, Friedensschluss im anderen Fall.

Je präziser die beiden Aggregatzustände des Politischen definiert und die Übergänge zwi-schen ihnen juridifiziert wurden, desto stärker bildete sich eine Binarität der politischen Ordnung heraus, die auf dem Prinzip des tertium non datur beruhte: Es herrschte Krieg oder Frieden, ein Drittes dazwischen gab es nicht. Die Pointe des Begriffs „hybrider Krieg“ ist, dass er genau für dieses „Dazwi­schen“ steht, für ein Drittes, das die Ordnung der Binarität auflöst. Damit haben auch die Hüter der binären Ordnung, die Völkerrecht-ler, an Einfluss verloren, denn ihr Einfluss auf die Politik bestand darin, dass sie über die Macht des Definitorischen verfügten. Aber wo die realen Grenzziehungen erodieren, verlieren auch die Definitionsspezialisten an Relevanz. Was wir zurzeit beobachten und wofür die Redewendung von der Hybridi­sierung des Krieges ebenfalls steht, ist eine wachsende Distanz zwischen der völkerrecht­lichen Normstruktur und dem tatsächlichen Gewalt- bzw. Kriegsgeschehen. Vor allem die neuen Kriege an der Peripherie der Wohl-standszonen sind gegenüber den kriegsrecht­lichen Normierungen indifferent, während die strategische Hybridisierung von Krieg, etwa in Form von Cyberattacken von Staaten gegen Staaten, bei denen territoriale Grenzen nicht „mit bewaffneter Hand“ überschritten werden und die verantwortlichen Akteure nur schwer zu identifizieren sind, die normative Ordnung des Völkerrechts gezielt unterlaufen.

Die Ordnungsleistung der Binarität war freilich nicht auf die Unterscheidung von Krieg und Frieden (ius ad bellum) beschränkt, sondern machte auch das innere Ordnungsgerüst des ius in bello aus: Das gilt etwa für die Unter­scheidung zwischen Staaten- und Bürgerkrieg oder Kombattanten und Nonkombattanten. Auch hier galt, dass es ein Drittes nicht gab bzw. nicht geben durfte, weil die Anerkennung eines solchen Dritten die gesamte Ordnung in Frage gestellt hätte. Der Begriff des Semikombattanten, den Michael Walzer in seinem Buch „Just and Unjust Wars“ als Bezeichnung für die deutschen Rüstungsarbeiter im Zweiten Weltkrieg ins Spiel gebracht hatte, widersprach der Struktur des klassischen Kriegsvölkerrechts, und auf der realen Ebene waren die Strategien des Nuklearkriegs, wie sie die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmten, durch eine radikale Negation der Binarität gekennzeichnet, da in ihnen alle Lebewesen im Zielgebiet der Atomraketen als Kombattanten behandelt wurden. Die Erosion der binären Ordnung ist also kein jüngerer Vorgang, sondern reicht weit bis ins 20. Jahrhundert zurück.

Das gilt auch für die Unterscheidung von Staaten- und Bürgerkrieg, denn schon immer war klar, dass Bürgerkriege durch eine notorische Missachtung kriegsrechtlicher (oder religiöser bzw. ethischer) Regeln gekennzeichnet waren. Bürgerkriege wurden darum gegen Staatenkriege abgegrenzt, damit Letztere als Regelfall der Normentwicklung dienen konnten. Bürgerkriege bzw. innergesellschaftliche Kriege galten als das absolut zu Vermeidende, weil sie notorisch auf eine kataklysmische Entfesselung der Kriegsgewalt hinausliefen. Die politischen Ordnungen nach dem Dreißigjährigen Krieg oder den napoleo-nischen Kriegen, in denen sich Bürgerkrieg und Staatenkrieg miteinander vermischt hatten, waren an einer Reregulierung des Staatenkriegs und einer aktiven Verhinderung des Bürgerkriegs orientiert. Im Unterschied dazu kann man die neuen Kriege als die Wieder-kehr von Gewaltmustern des Dreißigjährigen Krieges beschreiben, und für die Ära der Dekolonisation ist charakteristisch, dass dem bürgerkriegsähnlich geführten Befreiungs-krieg eine Legitimität zugesprochen wurde, die auf das genaue Gegenteil seiner vorherigen Delegitimation hinauslief. Gleichzeitig ist im Gefolge des Ersten Weltkriegs der klassische Staatenkrieg unter normative Kuratel gestellt worden, die zunächst im Verbot von Angriffs­kriegen und nach dem Zweiten Weltkrieg gemäß UN-Charta in einem generellen Kriegsverbot seinen Niederschlag gefunden hat.

Das Konzept einer Verpolizeilichung des Krieges

Mit der Erosion des Systems der Binarität und dem damit verbundenen Verlust seiner Ordnungsstiftung kam die Vorstellung einer Verpolizeilichung des Krieges auf, die nicht nach den Modellvorgaben des Duells, sondern als Durchsetzung des Friedens gegen notorische Friedensstörer mit polizeilichen Mitteln entworfen wurde. Auf der einen Seite standen damit die Mächte, die für sich die Rolle und Aufgaben einer „Weltpolizei“ in Anspruch nahmen, und auf der anderen Seite standen die „Schurken“, gegen deren übles Wirken die gute Ordnung durchgesetzt werden sollte. Parallel dazu tauchten die Theorien des gerech­ten Krieges wieder auf, die ebenfalls durch eine normative Asymmetrie zwischen den kriegführenden Parteien gekennzeichnet sind. Sie wurden zur Blaupause für das Konzept der humanitären militärischen Intervention. Diese unterscheidet sich vom herkömmlichen Krieg legitimatorisch dadurch, dass sie nicht im je eigenen Interesse der Konfligierenden, sondern im Interesse eines Dritten, nämlich der Zivilbevölkerung des Interventionsgebiets, durchgeführt wird. Die Erklärungen von US-Präsident Wilson beim Kriegseintritt der USA im Jahre 1917 können als der Ausgangs­pukt für die Vorstellung einer Verpolizeilichung des Krieges angesehen werden. Retrospektiv kann man darin den Anfang einer normativen Hybridisierung des Krieges sehen, insofern ein Krieg zur Beendigung aller Kriege (a war to end all wars) in der Binarität von Staatenkrieg und Bürgerkrieg keinen Platz hatte.

Um nicht missverstanden zu werden: Es handelte sich bei diesen Entwürfen eines Dritten, in denen die Aufrechterhaltung und Durchsetzung des Friedens zum absoluten Imperativ der Politik gemacht wurde (was in der Ordnung des Binären mit ihrer Gegenüberstellung von Krieg und Frieden als von im Prinzip gleichwertigen Aggregatzuständen des Politischen nicht der Fall ist), um keine mutwillige Zerstörung einer bewährten Ordnung, sondern um eine Konsequenz aus der Selbst­zerstörung dieser Ordnung infolge natio­naler Mobilisierungsfähigkeit und indust­riell bereitgestellter Zerstörungspotenziale. Der Kippmoment in dieser Entwicklung war der Erste Weltkrieg, aber erst der Zweite Weltkrieg hat mit dem Einsatz der beiden Atombomben Anfang August 1945 die Einsicht in die Unmöglichkeit dieser Art des Krieges zwingend gemacht. Das Problem besteht darin, dass es vorerst nicht gelungen ist, eine Begrifflichkeit zu entwickeln, die eine ähnliche Übersichtlich­keit und Klarheit schafft wie die frühere Binarität. Insofern ist der Begriff „hybrider Krieg“ nur ein Platzhalter, der für das Ende der alten Ordnung steht, selbst aber nicht in der Lage ist, den Grundstein für die Entwicklung einer neuen Ordnung darzustellen. Das liegt vor allem daran, dass es sich bei ihm um einen inklusiven Begriff ohne diskriminierende Kraft handelt, einen Begriff, der bloß deskribiert, also keine ordnende und schon gar nicht eine präskribierende Dimension aufweist. Mehr noch: Es handelt sich um einen semantischen Kostgänger der alten Binaritätsordnung, die er aufrufen muss, um Hybridität als Wesensmerkmal des Neuen beschreiben zu können.

Es spricht somit alles dafür, von dem Begriff „hybrider Krieg“ nicht allzu viel an Klärung zu erwarten. Vor allem ist davon abzuraten, auf ihm politische Ordnungsmodelle aufzubauen, denn das Hybride steht für die Verbindung konträrer Elemente, und insofern ist davon auszugehen, dass bei jedem Schritt in die politische Praxis darüber gestritten wird, welches dieser beiden Elemente das größere Gewicht hat oder haben soll. Insofern ist der Begriff des hybriden Krieges nicht mehr als ein semantischer Stempel auf der gegenwär-tigen Praxis des sicherheitspolitischen „Durchwurstelns“. Anders formuliert: Bevor man darangehen kann, die politische Welt nachhaltig zum Besseren zu verändern, kommt es darauf an, sie zunächst einmal zu erklären, und das tut man, indem man sie in klare und eindeutige Begriffe fasst. Das scheint derzeit nicht möglich zu sein. Für die Unmöglichkeit dessen steht der Begriff des hybriden Krieges.

Zusammenfassung

Prof. Dr. Herfried Münkler

Herfried Münkler, geboren 1951, ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Viele seiner Bücher gelten als Standardwerke, etwa „Die Deutschen und ihre Mythen“ (2009, ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse), sowie „Der große Krieg“ (2013), „Die neuen Deutschen“ (2016) und „Der Dreißigjährige Krieg“ (2017), die alle monatelang auf der Bestsellerliste standen. Herfried Münkler wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Wissenschaftspreis der Aby-Warburg-Stiftung und dem Carl Friedrich von Siemens Fellowship.

herfried.muenkler@sowi.hu-Berlin.de

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