Kontroversen in Militärethik und Sicherheitspolitik
Versöhnung – ein rationaler Akt der Klugheit auf dem Weg zur Gerechtigkeit
Es gibt sich anbahnende, bereits bestehende oder auch vordergründig bereits abgeschlossene Konflikte zwischen Individuen, Gruppen, Völkern und Nationen, die sich so komplex entwickelt haben, dass sie sich unter Anwendung strikter Gerechtigkeitsüberlegungen nicht mehr entwirren lassen, um vollumfänglich „gerecht“ gelöst werden zu können. Denn eine Lösung des Konflikts wäre nur dann gerecht zu nennen, wenn sie von allen beteiligten Parteien als fair, ausgewogen, transparent, respektvoll, nachhaltig und angemessen eingeschätzt und akzeptiert wird, ohne dass sich eine Seite übermäßig bevorteilt oder benachteiligt sieht. Aufgrund sowohl der Komplexität des Vorgefallenen als auch des offenkundig schuldhaften Handelns aller Beteiligten ist ein rationales Aufrechnen der gegenseitigen Ansprüche vielfach aber gar nicht mehr möglich. Würden die Konfliktparteien in dieser Situation dennoch weiterhin auf der strikten Einhaltung der Erfüllung von Gerechtigkeitsansprüchen bestehen, dann müsste der mit Verweis auf Gerechtigkeit geführte Kampf um der Gerechtigkeit willen weitergehen. Um der Gerechtigkeit willen, so könnte man sagen, nehmen die Konfliktparteien eine Eskalation des Konflikts mit weiteren Ungerechtigkeiten bewusst in Kauf, denn das Ende des Konflikts ist nicht absehbar und der Schaden nicht einzuhegen. Der Preis des Beharrens auf eine Konfliktbereinigung allein in der Gerechtigkeitsperspektive ist mithin hoch. Denn um der nicht geschehenen Gerechtigkeit in der Vergangenheit willen wird auf Gerechtigkeit auch in der Zukunft verzichtet.
1. Versöhnung als kluger Weg zur Gerechtigkeit
Will man sich der Perpetuierung der Konfliktsituation nicht einfach ausliefern und den Zustand ungerechter Verhältnisse auf Dauer akzeptieren, dann bedarf es einer anderen Strategie der Konfliktlösung. Diese muss ihre Vernünftigkeit insofern erweisen, als sie nachvollziehbar, an sinnvollen Kriterien orientiert, zielorientiert, realistisch umsetzbar, nachhaltig und ethisch fair ist. Darüber hinaus muss eine solche Strategie einer anderen Logik als der einer strikt gerechten Verrechnung wechselseitiger Ansprüche folgen, die sich in der gegebenen Situation als wenig hilfreich, im Letzten als kontraproduktiv und konfliktsteigernd erwiesen hat. Ihr Ziel kann daher nicht die Auflösung unentwirrbarer Gerechtigkeitsansprüche sein, sondern sie leitet ihre sittliche Rechtfertigung daraus ab, dass sie den in dieser Situation einzigen, damit auch sittlich gebotenen Weg bietet, einen auf Zukunft gerichteten Neuanfang gerechter Koexistenz überhaupt wieder zu ermöglichen.
Eine solche Strategie ist die der Versöhnung der Konfliktparteien. Sie ist immer dort unverzichtbar, wo Konflikte aufgrund einer sehr komplizierten Konfliktgeschichte nicht mehr allein unter Verweis auf Gerechtigkeitsüberlegungen gelöst werden können, aber wo es im Interesse aller Beteiligten liegt, trotz eines unentwirrbaren Konflikts eine gemeinsame Zukunft in gerechten Verhältnissen anzustreben. Denn eine gerechte Zukunft kann es nurmehr dann geben, wenn ihr ein Akt der Versöhnung vorausgegangen ist. In solchen Fällen ist Versöhnung die Bedingung der Möglichkeit der Wiederherstellung eines gerechten Miteinanders und nicht, wie im Normalfall üblich, Gerechtigkeit die Grundlage von Versöhnung.[1]
Versöhnung muss in einer solchen Situation als rationaler Akt der Klugheit gedeutet werden, insofern Versöhnungsbereitschaft nicht auf einseitigem Verzicht oder Nachgeben gründet, etwa im Sinne des Sprichworts „Der Klügere gibt nach!“[2], oder auch nicht auf einseitiger Vergebung, Verzeihung, Nachsicht, Milde und Barmherzigkeit, sondern auf der gemeinsamen vernünftigen Einschätzung und Überlegung aller Konfliktparteien basiert, dass weiterer Schaden abzuwenden und ein Zustand der Gerechtigkeit nur dann wiederherzustellen ist, wenn ein Neuanfang der Beziehungen im beiderseitigen Interesse gewollt ist. Ein solcher Neuanfang ist mithin nicht voraussetzungslos, sondern der ihm zugrundeliegende Versöhnungsprozess muss vernunftgeleitet, das heißt in seinem Vollzug geordnet und regelbasiert sein.
Um diese Überlegungen zu verdeutlichen, ist es wichtig, den spezifischen Typ von Versöhnung in den Blick zu nehmen, der einem nicht auf Verrechenbarkeit basierenden beidseitigem Versöhnungsgeschehen zugrunde liegt (2.) und die Bedingungen zu klären, unter denen der Prozess der Versöhnung sich entwickeln kann (3.). Solche Bedingungen gelten insbesondere für den Versöhnungsprozess im Kontext derjenigen Konflikte, die durch lang anhaltendes, beidseitiges schuldhaftes Verhalten der Konfliktpartner perpetuiert worden sind und nurmehr durch einen Akt der Versöhnung beendet werden können. Zu nennen wäre hier paradigmatisch etwa der Israel-Palästina-Konflikt, der in seinen wechselseitigen Schuldzuweisungen rational nach Gerechtigkeitserwägungen nicht mehr zu entwirren ist. Anders verhält es sich mit Konflikten, die einen einseitigen Anfang genommen haben, etwa durch einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, wie das bei dem durch nichts zu rechtfertigenden kriegerischen Überfall Russlands auf die Ukraine der Fall ist. Hier kann der Konflikt nicht durch Versöhnung beendet werden, sondern nach Beendigung des Konfliktes ist die Bitte um Vergebung vonseiten des Aggressors notwendig, die von entsprechenden Reparationen begleitet sein muss. Denn auf Versöhnung hat der Angreifer keinen moralischen Anspruch mehr. Vielmehr muss ihm Vergebung durch den Angegriffenen um einer noch möglichen gemeinsamen Zukunft willen großzügig und unverdient im Sinne einer Versöhnung aus Barmherzigkeit gewährt werden. Denn diese ist ein unverdienter, gnadenhafter Akt, dem sich der ehemalige Aggressor als würdig erweisen muss, damit es im Laufe der folgenden Jahre zu einer späten Aussöhnung kommen kann, wie dies erfolgreich bei der Versöhnung der Deutschen mit den Franzosen oder den Polen nach dem Zweiten Weltkrieg der Fall war. Dennoch ist Versöhnung kein strikt nachgelagerter Akt, der erst nach dem formalen Ende kriegerischer Handlungen beginnen kann. Vielmehr wird sie in der Friedens- und Konfliktforschung als ein prozesshaftes Geschehen verstanden, das den gesamten Konfliktzyklus durchziehen kann – von der Prävention über die aktive Phase der Gewalt bis hin zur Nachkriegszeit und dem Aufbau nachhaltigen Friedens. Der eigentliche „Abschluss“ der Versöhnung – verstanden als dauerhafte, positive Neugestaltung der Beziehungen und Heilung der Verletzungen – ist jedoch meist ein langwieriger Prozess, der oft erst nach dem Ende der offenen Gewalt seine volle Wirkung entfalten kann.
2. Unterscheidungen: Objektive und subjektive Versöhnung – Nomos- und Agape-Versöhnung
Damit der Versöhnungsgedanke Kontur bekommt, sind einige begriffliche Unterscheidungen angebracht. In der Geistesgeschichte[3] begegnet die Rede von Versöhnung in einem objektiven und in einem subjektiven Sinn. Der Gedanke einer objektiven Versöhnung ist in den Kulturen und Religionen aller Zeiten präsent. Er hat die Versöhnung von Gegensätzen, von metaphysischen Dualismen und Antagonismen zum Gegenstand, Gegensätze, die vom Menschen gerade nicht zur Einheit gebracht werden können, sondern eines Akteurs bedürfen, der selbst jenseits der Gegensätze steht, wie Gott oder die Geschichte (wie bei Hegel[4] und Marx). Als solchermaßen zu versöhnende Gegensätze lassen sich identifizieren die von Freiheit und Notwendigkeit, Endlichkeit und Unendlichkeit, Geist und Materie, Mensch und Natur, Gott und Mensch, Leben und Tod, Gut und Böse usw. Dabei ist leicht einzusehen, dass die gelungene Versöhnung metaphysischer Gegensätze immer ein metaphysisches Absolutum zur Bedingung hat, das die Versöhnung der Gegensätze in einer objektiven, nicht mehr brüchigen Weise bewirkt.
Von einer subjektiven Versöhnung dagegen muss man dann sprechen, wenn der Wille zur Versöhnung von den miteinander in Konflikt stehenden Menschen selbst ausgeht. Die Idee taucht − zumindest im Denken der christlichen Welt − erstmals im Protestantismus auf. Im 16. Jahrhundert überträgt Martin Luther (1483−1546) die Idee der Versöhnung, die zwischen Gott und Mensch durch Gott selbst in der Person Christi gewirkt wird, auf die Verhältnisse der Menschen untereinander sowie auf gesellschaftliche Gegensätze. Der Prozess der Versöhnung verdankt sich demnach allein dem Willen der Menschen und liegt als Geschehen auch ganz in deren Hand. Die Subjekte, die am Konflikt teilhaben, sind auch die Akteure der Versöhnung. Sie bedürfen keiner vermittelnden höheren Instanz. Gegenstand der Versöhnung kann folglich auch nur das sein, was von menschlichen Subjekten de facto getrennt worden ist, obgleich es dem eigentlichen Kerne nach zusammengehört und das Gleiche ist. In diesem Sinne kann man von der Versöhnung der Geschlechter, der Völker, der Nationen, der Freunde, der Feinde, der Kulturen, der Religionen usw. sprechen. Das Originäre ist die Einheit, das menschlich bewirkte Problem die Trennung des ursprünglich Zusammengehörigen. Während allerdings die von einem Absoluten gewirkte objektive Versöhnung zu einem tatsächlichen Abschluss kommt, bleibt diese subjektive Versöhnung in den genannten Bereichen eine permanente Aufgabe der beteiligten Subjekte. Subjektive Versöhnung ist also kein metaphysischer Zustand, sondern eine permanente Aufgabe, die grundsätzlich unabschließbar ist und zu keiner letzten Stabilität kommt.
Die Idee der subjektiven Versöhnung wird nicht erst bei Luther diskutiert, sondern taucht bereits in den Schriften der Kirchenväter des vierten Jahrhunderts mit wichtigen Unterscheidungen auf. Augustinus (354−430) unterscheidet im Kontext der Versöhnung Gottes mit den Menschen[5] zwei Typen von Versöhnung: die Nomos-Versöhnung und die Agape-Versöhnung. Der griechische Begriff nomos meint einen gesetzmäßigen Ausgleich. Eine Nomos-Versöhnung ist also eine Versöhnung, bei der der Gedanke der Kompensation und der Gegenseitigkeit der Ansprüche im Vordergrund steht. Sie zielt auf gerechte Wiedergutmachung und den Ausgleich von Ansprüchen. Augustinus aber erkennt, dass es Situationen geben mag, die als Folge komplizierter Konflikte nicht mehr unter diesen Gesichtspunkten lösen lassen. Gerechtigkeit ist gar nicht mehr herzustellen. Soll eine Versöhnung der Konfliktparteien daher noch möglich sein, dann ist ein anderer Typ von Versöhnung notwendig. Er nennt dies eine Agape-Versöhnung. Der griechische Begriff agape ist wörtlich zu übersetzen mit „Liebe“, in unserem (primär außertheologischen) Zusammenhang aber am besten mit (ungeschuldetem) Wohlwollen. Unter Agape-Versöhnung ist also eine Versöhnung zu verstehen, die nicht den gegenseitigen Ausgleich zum primären Ziel hat und die deswegen zustande kommt, weil Gerechtigkeit schon erlangt ist, sondern die einen Strich unter den bestehenden Konflikt zieht, die dafür einen Akt der Vergebung etabliert mit dem Ziel, trotz aller vergangenen Verwerfungen für die Zukunft wieder Gerechtigkeit walten zu lassen. Die Agape-Versöhnung setzt mithin einen Akt der nachsichtigen und wohlwollenden Anerkennung voraus, mit dem der unter Gesichtspunkten der Gerechtigkeit nicht mehr zu lösende und tragisch zu nennende Konflikt beendet wird, um überhaupt eine gemeinsame Zukunft in den Blick nehmen zu können, in der wieder Gerechtigkeit herrschen soll.
3. Sieben Bedingungen eines erfolgreichen Versöhnungsprozesses
Eine horizontal[6]-subjektive Agape-Versöhnung ist kein statisches, sondern ein prozessuales Geschehen. Dieser Prozess ist permanent fragil. Er hat keinen Vollendungszustand. Die Idee vollendeter Versöhnung ist mithin eine regulative Idee, das heißt eine Idee, von der wir wissen, dass wir sie nicht hundertprozentig in Realität überführen können, von der wir aber ebenso sicher wissen, dass wir nicht auf sie verzichten können, soll der Schaden nicht enorm sein. Versuche, subjektive Versöhnung nach dem Muster eines objektiven Versöhnungsgeschehens mit dem geschichtlichen Ziel eines End- und Vollendungszustands zu erzwingen, führen unter den Bedingungen raumzeitlicher Endlichkeit immer in Diktatur und Ideologien. Sie scheitern auch, weil sie diesem Anspruch nicht gerecht werden können. Kurzum: Wir müssen uns damit abfinden, dass der erreichte Friede und die Konfliktfreiheit als Ergebnis eines Versöhnungsprozesses permanent gefährdet sind und daher der beständigen Aufrechterhaltung bedürfen. Dies gilt gleichermaßen für Versöhnungsprozesse auf persönlicher wie auf zwischenstaatlicher Ebene.
Damit subjektive Versöhnung im Sinne einer Agape-Versöhnung überhaupt gelingt kann, muss sie sieben Bedingungen erfüllen, die sich auch als aufeinanderfolgende Schritte der Versöhnung darstellen lassen.[7]
3.1 Erste Bedingung: Existenz einer ursprünglichen Einheit
Eine erste Bedingung besteht im Vorhandensein einer ursprünglichen Einheit oder benennbaren Gemeinsamkeit vor dem Konflikt, die im Konflikt zerbrochen ist. Dies kommt im Begriff „re-conciliatio“ (Wieder-Versöhnung/-Vereinigung) zum Ausdruck. Der Prozess der Versöhnung intendiert die Rückkehr zu diesem ehedem gemeinsamen Ausgangspunkt, wenn auch unter veränderten Bedingungen. Dieser gemeinsame Ausgangspunkt kann eine historische, kulturelle, religiöse oder bloß räumliche Gemeinsamkeit sein, eine gemeinsame Geschichte, eine Wesenseinheit, eine naturale Einheit oder all das, was die aufgebrochenen Gegensätze ehedem verbunden hat. Allein die Erinnerung an eine ehedem friedliche Koexistenz reicht als Anlass, sich auf eine solche wiederherzustellende Gemeinsamkeit zu beziehen.
3.2 Zweite Bedingung: Schuldhafte Zerstörung der ursprünglichen Einheit durch einen fortdauernden, unter strengen Gerechtigkeitsgesichtspunkten nicht mehr zu lösenden Konflikt
Eine zweite Bedingung, um von Versöhnung überhaupt sprechen zu können, lautet: Die ursprüngliche Einheit ist durch einen Konflikt zerstört worden, dessen Ursache fortdauert. Die Ursachen des Konflikts können dabei beliebig sein: Es kann sich um eine unilaterale oder bilaterale Ursache handeln. Der Konflikt kann selbst- oder fremdverursacht sein. Wichtig ist nur das Faktum der Aufhebung einer ursprünglichen Einheit und die dadurch bedingte Zerstörung einer ehedem bestehenden Beziehung, die gleichsam zu einem existenziellen Entfremdungszustand geführt hat.
Die Zerstörung der ursprünglichen Einheit muss ferner durch ein schuldhaftes Verhalten oder ein Vergehen als Auslöser des Konflikts verursacht worden sein. Diese Schuld oder Verfehlung bleibt während des Konfliktes permanent präsent und wird nicht aufgelöst. Denn der Kern der Schuld besteht darin, dass die ursprüngliche Einheit aufgelöst worden ist, dass getrennt worden ist oder getrennt bleibt, was eigentlich zusammengehört.
Wenn wir von Schuld sprechen, die Ausgangspunkt des Konfliktes ist, dann wird einsichtig, dass es sich nicht um einen schicksalhaften, unvermeidlichen Konflikt handeln kann. Denn nur sittliche Subjekte, die auch anders handeln könnten, können Schuld auf sich laden. Nur sittliche Subjekte können Verantwortung übernehmen, zur Verantwortung gezogen werden und Rechenschaft ablegen. Der Konflikt ist daher grundsätzlich auflösbar. Es gibt einen Ausweg, freilich nicht als schicksalhaftes Geschehen, sondern durch aktive Bemühungen der Konfliktpartner.
Die Schwierigkeit, den ursprünglichen Konflikt zu lösen, besteht darin, dass der Konflikt selbst sehr produktiv war: Er erzeugte neue Ungerechtigkeiten und weitere Konflikte, mit neuen daraus resultierenden Gerechtigkeitsproblemen, mit zunehmenden, aber im Einzelnen nicht mehr klar zuzuweisender Schuld auf beiden Seiten. Rückblickend ist es nicht mehr möglich zu bestimmen, welche der Konfliktparteien im Verlauf des Konflikts mehr Schuld angehäuft hat. Der ursprüngliche Konflikt wird in der langen Geschichte der Eskalation immer mehr zu einer bloßen Metapher. Selbst wenn er gelöst werden könnte, sind die in der Folge entstandenen Probleme und die Schuld so groß geworden, dass dies die Konfliktparteien nicht zufriedenstellen würde. Wir können von einer Konfliktspirale sprechen, die keine faire Lösung mehr zulässt. Der Status vor dem Konflikt kann in keiner Weise und niemals wiederhergestellt oder neu etabliert werden. Daher wird derjenige, der den Konflikt im Sinne von Gerechtigkeit und Fairness lösen will, dramatisch scheitern.
3.3. Dritte Bedingung: das notwendige Scheitern traditioneller Methoden des Konfliktmanagements und der Konfliktbeendigung
Angesichts des eskalierenden Konflikts, der Verworrenheit der Schuldzuweisungen und der zunehmend irrational agierenden Konfliktparteien, so eine dritte Konstitutionsbedingung von Versöhnung, versagen die herkömmlichen, auf gerechte Kompensation abzielende Mittel der Konfliktbeendigung. Die bestehende Konfliktsituation kann unter Gesichtspunkten der Gerechtigkeit nicht mehr aufgelöst werden. Der alte Zustand vor dem Konflikt kann nicht einfach wiederhergestellt werden, außer dadurch, dass eine der Konfliktpartner weitere Schuld auf sich lädt. Im Laufe des Konflikts haben sich die Schuldverhältnisse multipliziert. Es ist nicht mehr erkennbar, wer Täter und wer Opfer ist. Die Konfliktsituation wird immer komplexer, ja hyperkomplex. Hyperkomplex sind auch die Schuldverhältnisse. Es ist nicht mehr ersichtlich, welche der Konfliktparteien die größere Schuld auf sich geladen hat. Die Konfliktspirale dreht sich immer weiter. Alle Mittel der klassischen Konfliktbewältigung beziehungsweise der Beendigung des Konflikts versagen daher: Eine Versöhnung im Sinne einer Nomos-Versöhnung, die einen gerechten Ausgleich für das erlittene Unrecht intendiert, ist nicht mehr möglich. Die Schuldverhältnisse sind nicht mehr allein durch Strafe oder Vergeltung lösbar. Keine der Konfliktparteien wird als Sieger oder Verlierer aus diesem Konflikt hervorgehen. Wird der Konflikt nicht beendet, wird es nur Verlierer geben. Jeder Kompromiss, der kurzzeitig für Frieden sorgt, ist nur von kurzer Haltbarkeit.
Der Weg rationaler Konfliktbewältigung durch Gerechtigkeit bleibt auch deswegen versperrt, weil das Handeln der Konfliktparteien zunehmend von Irrationalität bestimmt ist und von moralisch relevanten Gefühlen wie Hass, Neid, Wut und Zorn, die zum Ruf nach Rache und Vergeltung führen, dominiert wird. Die Irrationalität des Konflikts führt zur Irrationalität der Konfliktbewältigungsstrategien und zu weiterem schuldhaftem Verhalten.
3.4 Vierte Bedingung: Einsicht in die Unlösbarkeit des Konflikts und der Wille zur klugen Gestaltung einer Zukunft in Gerechtigkeit
Zu einer Beendigung des Konflikts muss eine vierte Bedingung gegeben sein, die zwei Aspekte umfasst: zum einen die Einsicht in die Unlösbarkeit des Konfliktes, zum anderen der Wille, durch Besinnung auf die ursprüngliche Einheit zumindest für die Zukunft unter Bedingungen der Gerechtigkeit zusammenzuleben.
Den Beteiligten muss die Tragik der Konfliktspirale bewusst werden, verbunden mit der Einsicht, dass die Weiterführung des Konflikts das Gerechtigkeitsproblem immer größer werden lässt. Diese Einsicht setzt die Prädominanz von Klugheit und Rationalität voraus, mithin auch die Überwindung einer rein emotionalen Betrachtung des Konflikts bei allen Konfliktparteien. Die Einsicht, dass Gerechtigkeit mit Mitteln des Konfliktes nicht wiederherzustellen sein wird, kann klug genannt werden. Denn die Verstandestugend Klugheit (phronesis) wird klassisch schon bei Aristoteles (384−322 v. Chr.) im 6. Buch der Nikomachischen Ethik definiert als die Fähigkeit, die richtigen Mittel zur Erreichung eines Zieles zu wählen.[8]
Das Aufgeben einer rein emotionalen Betrachtung des Konflikts wird dadurch erleichtert, dass der Blick gelenkt wird auf den gemeinsamen Ursprung und die gemeinsame, ehedem bestehende Einheit. Dieser Blick auf die ursprüngliche Einheit, wird, weil in ihm Emotionalität und Rationalität eine Symbiose eingehen, zum Movens der Versöhnung, wohl wissend, dass der ehedem friedliche Zustand nicht in der gleichen Weise wiederherzustellen sein wird. Denn die neue Einheit darf das Geschehene nicht einfach vergessen machen, sondern muss die geschichtlichen Erfahrungen des Konflikts auf einer höheren Stufe integrieren. Die neue Einheit ist Einheit auf einer höheren Stufe: Der Konflikt und die gegenseitigen Standpunkte sind in ihr aufgehoben in einem dreifachen Sinn (nach Hegel[9]):
im Sinne der Bewahrung (conservare): Der Konflikt wird nicht einfach vergessen, sondern die mahnende Erinnerung daran wird zum Movens der Kontinuität der Versöhnung.
im Sinne des Negierens (negare): Der Konflikt ist im neuen Zustand der Versöhnung tatsächlich beendet. Er wird nicht mehr mit Mitteln physischer oder psychischer Gewalt ausgetragen.
in dem Sinne, dass er auf eine höhere Stufe gehoben wird (elevare): Die Sachfragen bleiben bestehen, der Konflikt wird nun freilich mit anderen, nämlich friedensbewahrenden Mitteln ausgetragen: mit Mitteln der Rationalität, der Verhandlung, des Vertrages, der Kompensation, der gemeinsamen Erinnerung etc.
Der Wille zur Versöhnung setzt zum einen eine hohe Rationalität im Sinne der Klugheit voraus. Zum anderen aber ebenso die Einsicht, dass die Zukunft wichtiger ist als die Vergangenheit. Tatsächlich ist Gerechtigkeit mit Blick auf die Vergangenheit nicht mehr herzustellen. Was passiert ist, ist passiert. Was der Mensch noch im Griff hat, ist die Herstellung der Gerechtigkeit mit Blick auf die Zukunft. Soll also die Ungerechtigkeit der Vergangenheit nicht auch zur Ungerechtigkeit der Zukunft werden, ist eine Unterbrechung des Zeitkontinuums im Übergang von der Vergangenheit zur Zukunft notwendig, eine wirkliche historische Zäsur, wie sie durch einen Akt der Versöhnung erzeugt wird. Diese Zäsur, die zudem ein wirklicher Akt der Freiheit ist, bricht die Dominanz der Vergangenheit und eröffnet damit eine Zukunft in selbstgestalteter Freiheit. Gegenwart und Zukunft entziehen sich dadurch der Determination durch die Vergangenheit. Wem die Zukunft in Gerechtigkeit wichtiger ist als die Ungerechtigkeit der Vergangenheit, der wird eine solche Zäsur setzen müssen. Versöhnung hebt also die Orientierung an der Gerechtigkeit nicht auf, sondern sie erfolgt ausschließlich um der Gerechtigkeit willen, die in der zukünftigen Koexistenz bestimmend sein soll. Versöhnung kommt nicht zustande, weil ein Klügerer dem weniger Klugen nachgibt, sondern nur dann, wenn sich alle beteiligten Parteien als klug erweisen.
Die Bereitschaft zur Versöhnung verdankt sich also einer hoch rationalen Einsicht. Der Wille zur Versöhnung selbst aber muss wachsen. Er fällt einem nicht zu. Zwar gibt es einen kairos der Versöhnung, der nicht planbar ist, den man nur ergreifen kann, wenn er anwesend ist. Versöhnung ist kein Ereignis, das zwangsweise hergestellt oder produziert werden kann. Was aber vorhanden sein muss, das ist die gegenseitige Bereitschaft zur Versöhnung, der Wille zur Umkehr bzw. zur geschichtlichen Zäsur. In der Geschichte der monotheistischen Religionen waren es die Propheten, die zu dieser Umkehr aufgerufen haben. Auf personaler Ebene ist es das Gewissen, das zur Versöhnung mahnt. Im Feld des Politischen sind es Organisationen, Aktivisten und Protagonisten des Friedens und der Versöhnung, die heute diese Funktion übernommen haben und deren wichtigste Aufgabe es ist, die oben geforderte Rationalität und Einsicht als Voraussetzung der Versöhnungsbereitschaft zu befördern. Zu dieser Rationalität gehört auch, dass Versöhnung nicht bedingungslos ist: Die Bereitschaft zur Versöhnung muss begleitet sein von der Erfüllung bestimmter Voraussetzungen, deren Erfüllung notwendig ist, weil sie im Sinne einer Surrogatkompensation an die Stelle der nicht mehr einzulösenden Gerechtigkeitsforderung treten.
3.5 Fünfte Bedingung: Der Wille zur Versöhnung und die Bereitschaft zu Umkehr und Vergebung
Der ernste Wille zur Umkehr, zur geschichtlichen Zäsur und zur Versöhnung zeigt sich in der Bereitschaft zur Entwicklung eines bestimmten Versöhnungshabitus, in dem sich folgende Aspekte manifestieren müssen:
Die Konfliktpartner müssen über ausreichend Rationalität verfügen, frei sein in ihren Entscheidungen (auch frei gegenüber der Geschichte) und fähig zur wirklichen Umkehr. Diese Art der Rationalität darf sich nicht auf Zweckrationalität beschränken, die etwa dazu eingesetzt wird, nur den eigenen Vorteil zu suchen oder bloß den Schaden wiedergutzumachen. Gefordert ist vielmehr eine Rationalität, die sich an vernünftigen gemeinsamen Zielen orientiert und um der Aufnahme der zerstörten Beziehung sowie um des Zukunftsvorteils der Versöhnung willen bereit ist, momentane Nachteile in Kauf zu nehmen.
Ziel der Versöhnung kann nicht die Herstellung eines alten Zustandes sein, der vor dem Konflikt bestanden hat. Die Herstellung der ursprünglichen Einheit und Gemeinsamkeit muss vielmehr auf einer geschichtlich höheren Ebene erfolgen, die die Geschichte des Konflikts nicht einfach negiert, sondern in die neue Einheit integriert. Lediglich Fundamentalisten wollen einen Status quo der Vergangenheit ungeschichtlich und starr konservieren. Die Zukunft ist für sie im Sinne des Geschichtsdeterminismus bloßes Abbild der Vergangenheit, nicht der Ort der freien Gestaltung. Auch wer der religiösen Überzeugung ist, dass nicht der Mensch, sondern allein Gott in der Geschichte handelt, wird die Zukunft nicht selbst gestalten wollen und damit zur Versöhnung unfähig sein.
Wichtiger für das gemeinsame Handeln muss die Orientierung an der zukünftigen Gerechtigkeit sein als die Orientierung an der vergangenen Ungerechtigkeit. Freilich dürfen der Konflikt und das beiderseitig zugefügte Unrecht nicht vergessen werden. Es geht nicht um Geschichtsvergessenheit, sondern darum, Geschichte zu akzeptieren und anzuerkennen, ohne das zukünftige Handeln vollkommen von der Vergangenheit bestimmen zu lassen.
Die Bereitschaft zur Versöhnung muss sich im Wissen darum, dass alle Konfliktparteien schuldig geworden sind, in der Anerkennung auch der eigenen Schuld manifestieren und in der Bereitschaft, diese öffentlich einzugestehen. Die Versöhnungsbereitschaft darf mithin nicht primär die Entlastung von der eigenen Schuld zum Ziel haben.
Die Bereitschaft zur Versöhnung muss vom Willen zur Wahrheit und zur Ehrlichkeit begleitet sein. Kein Thema der gemeinsamen Geschichte darf tabu sein. Die Geschichte des Konflikts und die Schuld aller sind dabei schonungslos und ohne Vorbehalte offenzulegen und anzuerkennen.
Es muss die Bereitschaft gegeben sein, sich gegenseitig das erlittene Unrecht zu vergeben, freilich ohne dieses Unrecht in der Zukunft vergessen zu wollen. Verzeihen und Vergeben machen die notwendige Erinnerung an das erlittene Unrecht gleichsam ungefährlich für das zukünftige Handeln.
Der Versöhnungshabitus erfordert Reziprozität: Die Versöhnungsbereitschaft muss von allen beteiligten Konfliktparteien in gleicher oder zumindest sehr ähnlicher Weise ausgehen.
Sind all diese Voraussetzungen gegeben, dann herrscht bei allen die Tugend der Versöhnlichkeit. Wie alle Tugenden fällt sie nicht vom Himmel, sondern muss auf einem langen Weg eingeübt und immer wieder trainiert werden, sodass sie den Beteiligten irgendeinmal zur zweiten Natur wird. Denn versöhnlich wird man nur durch Akte der Vergebung[10] und der Versöhnung, die sich in irgendeiner Weise auch konkret manifestieren müssen. Die Fähigkeit zur Versöhnung wird schon von Aristoteles als Ausdruck von Klugheit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Großmut verstanden. Der „Großgesinnte“ (megalopsychos) etwa sieht über Unrecht hinweg und vermeidet es, Vergeltung zu üben, was durchaus als Zeichen moralischer Überlegenheit gelten kann.[11]
3.6 Sechste Bedingung: Existenz von Manifestationen des Versöhnungswillens
Der gegenseitige Versöhnungswille darf nicht nur ein Lippenbekenntnis bleiben, er muss sich manifestieren, damit das gegenseitige Vertrauen wächst. Solche Manifestationen sind Tests der Reziprozität, der Verlässlichkeit, der Versöhnungsbereitschaft und der Versöhnungsfähigkeit. Sie erzeugen das neu aufzubauende Vertrauen, dass der Versöhnungswille permanent und nicht nur kurzfristig ist. Solche Manifestationen sind Teil der Katharsis, der Reinigung von Schuld, und können etwa bestehen in der gemeinsamen Aufarbeitung der gemeinsamen Konfliktgeschichte unter Bedingungen der Wahrheit (Einrichtung einer „Wahrheitskommission“ wie in Südafrika[12]), der gegenseitigen Kompensation des noch Kompensierbaren wie der Bestrafung der Täter, der Wiedergutmachung für die Opfer, der Rückgabe von Eigentum et cetera und damit so weit als möglich der Herstellung von Gerechtigkeit im Sinne einer Nomos-Versöhnung. Gleichzeitig muss Einigung darüber bestehen, was zum Bereich des nicht direkt Kompensierbaren gehört und was daher „indirekt“ kompensiert werden muss und wie dies zu bewerkstelligen ist. Der diesbezügliche Dialog zwischen den ehemaligen Kontrahenten muss institutionalisiert werden, auch um Übereinkünfte zu finden und Verträge zu schließen, die tatsächlich eingehalten werden. Des Weiteren bedarf es der Schaffung von Orten und Zeiten (Festtag) der gemeinsamen Erinnerung, die einerseits den Konflikt nicht vergessen lassen, andererseits aber auch den Versöhnungswillen manifestieren. Darüber hinaus muss sich die Orientierung an der gemeinsamen Zukunft in der Schaffung gemeinsamer Institutionen der Bildung und des Austausches manifestieren, die zum Vorteil aller sind und deren Zerfall ebenso zum Nachteil aller wäre.
3.7 Siebte Bedingung: Der feierliche Akt der Versöhnung als Bekräftigung einer realistischen Hoffnung
Der Schritt vom Versöhnungswillen zum Vollzug der Versöhnung manifestiert sich in einem gemeinsamen feierlichen und öffentlichen Versöhnungsakt. Die Erinnerung an diesen Versöhnungsakt muss um der Beständigkeit der Versöhnung willen in der Regel ritualisiert werden, das heißt, in festen Abständen erfolgt eine gemeinsame Erinnerung an diesen Versöhnungsakt, etwa mittels eines jährlichen Feiertags, eines regelmäßigen Festes usw. In der Regelmäßigkeit des Gedenkens manifestiert sich die realistische Hoffnung, dass Versöhnung zu einem permanenten Zustand wird.
Das Versöhnungshandeln endet aber nicht mit dem punktuellen Versöhnungsakt. Versöhnung bleibt auch danach eine permanente Aufgabe. Denn der Versöhnungswille ist auch weiterhin gefordert, da die Bürde der Geschichte noch immer schwer auf den ehemaligen Konfliktparteien lastet, sodass permanent die Gefahr besteht, dass die Orientierung an der Vergangenheit erneut über den Willen zur Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft in Gerechtigkeit dominiert. Denn es ist wirklich schwierig, vergeben zu können, ohne vergessen zu dürfen. Zu dieser Schwierigkeit mag beitragen, dass die Frucht der Versöhnung nicht die identische Wiederherstellung der ursprünglichen Einheit oder des ursprünglichen Zustandes ist, sondern die Wiedererlangung einer höheren Einheit in Verschiedenheit, deren Mehrwert in einer neuen Freundschaft besteht, die sich sowohl der Last der Geschichte als auch des Vorteils des neu erworbenen Friedens bewusst ist. Denn das Ziel der Versöhnung ist immer die Etablierung einer neuen Ordnung in Gerechtigkeit.
Versöhnung bleibt eine permanente Aufgabe. Der Versöhnungswille ist deshalb eine Grundbedingung menschlicher Koexistenz, zumal permanent die Gefahr besteht, dass die Orientierung an der Vergangenheit erneut über den Willen zur Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft in versöhnter Gerechtigkeit dominiert. Versöhnung dekonstruiert dabei die Logik des „Anderen als Feind“, indem sie Beziehungen neu justiert.
Vergeben und Erinnern müssen daher, soll die Versöhnung beständig sein, in einen rechten Ausgleich gebracht werden. Papst Franziskus reflektiert in seiner Enzyklika Fratelli tutti von 2020[13]auf diesen Zusammenhang ausführlich, wenn er „Wert und Bedeutung von Vergebung“ (Nr. 237−245) und die besondere Rolle des Erinnerns (Nr. 246−254) eigens zum Gegenstand der Enzyklika macht. Das Ergebnis lautet: „Vergebung beinhaltet nicht das Vergessen“ (Nr. 250) der Opfer, der Gewalt und des erlittenen Leids, auch wenn „es […] keine leichte Aufgabe ist, das vom Konflikt hinterlassene Erbe von Ungerechtigkeit, Feindseligkeit und Misstrauen zu überwinden“ (Nr. 243). Denn auch nach der Versöhnung gilt: „Wahre Versöhnung geht dem Konflikt nicht aus dem Weg, sondern wird im Konflikt erreicht“ (Nr. 244). Auch der geschichtlich unbequemen Wahrheit darf man nicht aus dem Weg gehen. Franziskus verweist exemplarisch auf das heilsame und versöhnungsorientierte Erinnern an die Schoah (Nr. 247) und die Atombombenangriffe von Hiroshima und Nagasaki (Nr. 248). Das Erinnern muss sich aber auch positiv auf die „kleinen und großen Gesten für Solidarität, Vergebung und Geschwisterlichkeit“ (Nr. 249) beziehen. „Ohne Erinnerung geht es nicht voran, man entwickelt sich nicht weiter ohne eine umfassende und hellsichtige Erinnerung.“ (249).
Erinnernde Versöhnung führt zur Gerechtigkeit, indem sie erstens die Würde aller Beteiligten wiederherstellt und sowohl Opfer als auch Täter als Personen mit Entwicklungspotenzial betrachtet; weil sie zweitens partizipative Prozesse ermöglicht, die alle Betroffenen in die Lösungsfindung einbeziehen und damit demokratische Prinzipien der Selbstbestimmung verwirklichen; weil sie drittens nachhaltige Lösungen schafft, die nicht nur Vergeltung üben, sondern die Ursachen von Konflikten adressieren und deren Wiederholung verhindern. Nicht die Logik der Vergeltung, sondern die Logik der Versöhnung eröffnet einen Weg zu einem dauerhaften Frieden in Gerechtigkeit.
[1] Siehe zum Thema auch Schaub, J. (2009): Gerechtigkeit als Versöhnung: John Rawls’ politischer Liberalismus. Frankfurt/Main.
[2] Der Spruch geht auf Ovids (43 v. Chr.–17/18 n. Chr.) „Ars Amatoria“ (Die Kunst zu lieben, Buch II, 197) zurück und lautet in der Ursprungsversion: „Cede repugnanti; cedendo victor abibis.“ („Gib dem nach, der sich wehrt! Im Nachgeben wirst Du als Sieger hervorgehen!“)
[3] Zur Begriffsgeschichte siehe Alpers, H. und Loock, R. (2001): Versöhnung. In: Ritter, J., Gründer, K. und Gabriel, G. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 11. Basel, Sp. 891-904; sowie Schenker, A. et al. (2003): Versöhnung. I. Altes Testament II. Neues Testament III. Theologiegeschichtlich und dogmatisch IV. Ethisch. In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 35. Berlin, S. 16–43.
[4] Dazu Rózsa, E. (2005): Versöhnung und System: Zu Grundmotiven von Hegels praktischer Philosophie. München.
[5] Augustinus: De trin. XIII, 13, 17. MPL 42, 1026 f.
[6] Horizontale Versöhnung bezeichnet die beschriebene Versöhnung zwischen Menschen (im Gegensatz zur vertikalen Versöhnung zwischen Mensch und Gott). Im Folgenden wird von Versöhnung immer im horizontalen Sinne gesprochen. Mit Blick auf eine Systematisierung des Versöhnungsgedankens, insbesondere auf die Unterscheidung von vertikaler und horizontaler Versöhnung in der Enzyklika Fratelli tutti von Papst Franziskus, siehe Wildfeuer, A. G. (2021): Zerbrochene Geschwisterlichkeit und die Logik horizontaler Versöhnung. In: Nothelle-Wildfeuer, U. und Schmitt, L. (Hg.): Unter Geschwistern? Die Sozialenzyklika Fratelli tutti: Perspektiven – Konsequenzen – Kontroversen. Freiburg i. Br., S. 86−104.
[7] Siehe Wildfeuer, A. G. (2011): Justice and Reconciliation. In: Adwan, S. und Wildfeuer, A. G. (Hg.): Participation and Reconciliation: Preconditions of Justice. Opladen/Farmington Hills, S. 119−132. Eine vom folgenden Vorschlag abweichende Prozesssystematik (in den Schritten Apologies – Memorials – Truth Telling – Amnesties – Trials and Punishment – Lustration – Reparations – Forgiveness – Participation in Deliberative Processes) bieten etwa Radzik, L. und Murphey, C.: Reconciliation (2023). In: The Stanford Encyclopedia of Philosophy. plato.stanford.edu/archives/fall2023/entries/reconciliation/ (Stand: 2.6.2025).
[8] Zur Tugend der Klugheit siehe Müller, J. (2013): Tugend. In: Kolmer, P. und Wildfeuer, A. G. (Hg): Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Darmstadt, Bd. 3, S. 2244–2258.
[9] Siehe Hegel, G.W.F. (1978): Die objektive Logik (1812/13; 1. A. 1831). In: Jaeschke, W. (Hg.): Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Gesammelte Werke. Band 11. Hamburg, S. 57 f.
[10] Die Forschung differenziert zwischen Vergebung und Versöhnung: Vergebung gilt als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für Versöhnung. Das heißt, ohne eine zumindest partielle Bereitschaft zur Vergebung ist eine nachhaltige Versöhnung kaum denkbar, doch Vergebung allein garantiert noch keine Versöhnung, da diese wechselseitige Prozesse und oft auch strukturelle Veränderungen voraussetzt.
[11] Dazu Herzberg, S. (2014): Verzeihen ist besser als Vergelten. Über den Umgang mit moralischen Verfehlungen in der antiken Ethik. In: Brachtendorf, J. und Herzberg, S. (Hg.): Vergebung. Philosophische Perspektiven auf ein Problemfeld der Ethik. Berlin, S. 85−114. Vgl. auch Kodalle, W. (2013): Verzeihung denken. Die verkannte Grundlage humaner Verhältnisse. München.
[12] Vgl. Tutu, D. (2000): No Future Without Forgiveness. London.
[13] Enzyklika Fratelli tutti von Papst Franziskus über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 227, 3. Oktober 2020, Libreria Editrice Vaticana, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2020.
Armin G. Wildfeuer, geb. 1960 in Passau, hat Philosophie, Musikwissenschaft, Christliche Sozialethik und Katholische Theologie in Rom und Bonn studiert. Seit 1997 ist lehrt er als Professor für Philosophie an der Katholischen Hochschule NRW in Köln mit den Schwerpunkten Philosophische Ethik, Philosophische Anthropologie und Sozialphilosophie/Sozialethik. Von 2007 bis 2010 war er Dekan, von 2018 bis 2021 Studiengangsleiter des Masterstudiengangs „Innovationsmanagement in der Sozialen Arbeit“. Seit 2016 ist er Gutachter der European Research Executive Agency der EU-Kommission und seit 2021 Berater der Kommission XIII der Deutschen Bischofskonferenz.