Kontroversen in Militärethik und Sicherheitspolitik
Vielstimmiges Erinnern, gemeinsames Gedenken – Der internationale Workshop für Berufsoffiziere in Auschwitz als Bildungs- und Versöhnungsprojekt
80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist Auschwitz – sowohl das Stammlager als auch Auschwitz-Birkenau – bis heute das Symbol für die Verbrechen der Nationalsozialisten. Es steht für ein Gewaltgeschehen, das sich oft der Vorstellungskraft entzieht. Wie konnte ein solches System menschenverachtender Verbrechen entstehen? Wie wurde die Masse der Einzelnen Teil dieses Systems – und damit zu Tätern? Wie leben Opfer, Täter und ihre Nachfahren mit diesen Erinnerungen?
Auschwitz ist nicht nur Symbol, sondern ein besonderer, sensibler Lern- und Erfahrungsort. Seiner Wirkung – der Größe der Anlagen, der „Perfektion“ der Tötungsmaschinerie – kann man sich kaum entziehen. Der Gedenkort will nicht nur berühren, sondern dazu anregen, eigenes Handeln zu hinterfragen und Verantwortung zu übernehmen – getragen vom Wunsch: So etwas darf nie wieder geschehen.
Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit folgt dabei zwei Zielen: Sie hält das Unrecht präsent, ehrt die Opfer und verleiht dem Geschehenen Ausdruck. Gleichzeitig richtet sie sich auf die Zukunft: Die Erinnerung wird zum Appell für universale Solidarität, basierend auf der gemeinsamen Verletzbarkeit von Individuen und Kollektiven.
Doch angemessene Erinnerung an gewaltbelastete Vergangenheit ist herausfordernd – für Staaten, Regierungen, Gesellschaften, Bildungseinrichtungen und jeden Einzelnen. Denn Erinnerung ist immer subjektiv. Sie birgt die Gefahr der Auswahl, der Betonung, des Weglassens. Diese Tendenzen sind psychologisch nachvollziehbar, können aber auf gesellschaftlicher Ebene problematisch sein, besonders wenn sie politisch instrumentalisiert werden.
„Da Erinnerung immer auf einer Auswahl des für erinnernswert Gehaltenen und im Gegensatz dazu dem Vergessen respektive Verdrängen von weniger erinnerungswürdigen Zusammenhängen beruht, ist jede Form der Erinnerung […] auf die Kriterien der Auswahl sowie die gesellschaftliche Funktion dieser Erinnerung zu befragen. […] Vielmehr geht es darum, der Versuchung entgegenzutreten, das Unabgegoltene, das oftmals Widersprüchliche und Ambivalente von Geschichte in allzu geschlossenen Erinnerungsdiskursen nicht zur Sprache kommen zu lassen.“[1]
Vielstimmigkeit und Perspektivwechsel
Einmal im Jahr veranstaltet das Zentrum für ethische Bildung in den Streitkräften gemeinsam mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und dem Zentrum Innere Führung den einwöchigen „Internationalen Workshop für Berufsoffiziere zum Umgang mit der gewaltbelasteten Vergangenheit von Auschwitz“. Er findet im Zentrum für Dialog und Gebet in Oświęcim[2] (Polen) statt. Eingeladen werden 30 Berufsoffiziere aus Frankreich, Polen und Deutschland. Ziel ist es, in der Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Bedeutung von Auschwitz einen gemeinsamen Lernprozess über den Umgang mit Gewalterfahrungen und ihren Folgen zu ermöglichen – und eine ethisch fundierte Reflexion zu fördern, die dem Ernst militärischer Gewaltanwendung gerecht wird.
An den Gleisen zum Lagertor von Auschwitz-Birkenau (Foto: Volksbund/Vinzenz Kratzer)
Ein zentrales Merkmal des Workshops ist die bewusst initiierte Vielstimmigkeit. Die Teilnehmenden bringen unterschiedliche biografische, kulturelle und militärische Prägungen mit. In dieser internationalen Gruppe reflektieren sie sowohl ihre nationalen Erinnerungskulturen als auch ihre Perspektiven auf Auschwitz. Dabei wird deutlich, wie unterschiedlich diese geprägt sind: Die französische Erinnerung fokussiert stark auf den Widerstand, während in Polen das Leid unter deutscher Besatzung im Vordergrund steht und in Deutschland die Auseinandersetzung mit der eigenen Täterverantwortung zentral ist.
Diese Unterschiedlichkeit ist kein Hindernis, sondern konstitutiv für das Lernen im Sinne einer „agonistischen“ Erinnerungskultur[3]. Gerade durch das Nebeneinander verschiedener Sichtweisen entsteht ein Raum, in dem sich Reflexion entfalten kann – ohne die Erwartung eines Konsenses. Die Dialoge sind oft spannungsreich, aber produktiv – gerade weil der Umgang mit Geschichte in den drei Nationen so unterschiedlich geprägt ist.
Die Erinnerung an Auschwitz, den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg ist zentral für das Selbstverständnis europäischer Gesellschaften. Frankreich, Polen und Deutschland waren auf unterschiedliche Weise Teil des Gewaltgeschehens: Deutschland als Aggressor und Täterstaat, Frankreich und Polen als Kriegsparteien sowie – insbesondere Polen – als Leidtragende der deutschen Besatzung. Dass diese gemeinsamen Bezugspunkte in sehr unterschiedlichen Narrativen verarbeitet wurden, zeigt: Was Auschwitz bedeutet, ist historisch, politisch und kulturell nicht einheitlich – und muss deshalb im internationalen Austausch neu verhandelt werden: „Ein und dasselbe historische Ereignis wird in verschiedenen Ländern, von verschiedenen Standpunkten und Gruppen völlig unterschiedlich interpretiert.“[4]
Genau hier setzt der Workshop an: durch Vergleich, Konfrontation und offene Verständigungsprozesse entsteht ein Lernraum, in dem nationale Differenz nicht aufgehoben, sondern fruchtbar gemacht wird.
Auseinandersetzung mit Täterschaft und Würdigung der Opferperspektive
Ein besonders eindrücklicher Moment des Workshops ist die Begegnung mit Überlebenden der Konzentrationslager. Ihre persönlichen Berichte machen Geschichte konkret und emotional erfahrbar. Wenn ein Zeitzeuge etwa Dr. Josef Mengele als „höflichen Mann“ beschreibt, irritiert das zutiefst – es bricht mit etablierten Bildern und erzwingt eine neue Reflexionsebene. Täter erscheinen nicht mehr nur als abstrakte Ungeheuer, sondern als reale Menschen, eingebettet in soziale und institutionelle Kontexte. Diese Irritation eröffnet einen Raum für eine tiefere Auseinandersetzung mit Täterschaft, Mitläufertum und moralischen Grauzonen.
Zugleich wird in der Begegnung mit Überlebenden und durch die Auseinandersetzung mit künstlerischen wie dokumentarischen Zeugnissen die Perspektive der Opfer in ihrer existenziellen Tiefe erfahrbar. Besonders eindrucksvoll ist etwa die Ausstellung der Werke von Marian Kołodziej – einem Auschwitz-Überlebenden, der jahrzehntelang schwieg und seine traumatischen Erinnerungen erst spät in eindringlich-expressiven Bildern verarbeitete. Diese machen sichtbar, was Worte oft nicht fassen können: die Zerstörung von Menschlichkeit, die Gewalt des Alltags im Lager, das Nachwirken des Traumas über Generationen hinweg.
All diese Zeugnisse geben den Opfern eine Stimme – im wörtlichen wie übertragenen Sinn. Sie fordern Anerkennung, Empathie und die Bereitschaft, sich als heutiger Mensch dieser Geschichte zu stellen. Der Workshop würdigt die Opfer nicht nur als historische Bezugsgrößen, sondern als individuelle Menschen mit Namen, Gesichtern und Geschichten.
In anschließenden Gesprächen und Reflexionsphasen setzen sich die Teilnehmenden mit den Ambivalenzen menschlichen Handelns auseinander. Die Beschäftigung mit Täterbiografien zeigt, dass NS-Verbrechen nicht aus individueller Abnormität resultierten, sondern im Zusammenspiel von Ideologie, Opportunismus, Karrieredenken, Gruppenmechanismen und Gehorsamskultur entstanden. Die Soldaten analysieren diese Strukturen vor dem Hintergrund ihrer eigenen beruflichen Rolle. Dies wirft die existenzielle Frage auf: „Wie hätte ich gehandelt?“
Für Soldaten, insbesondere aus Deutschland, stellt sich diese Frage mit besonderer Schärfe. Denn sie stehen heute selbst im Spannungsfeld von Befehl, Gehorsam und persönlicher Verantwortung. Sie tragen das staatliche Gewaltmonopol mit, sind gleichzeitig aber auch selbst potenziell Gewaltbetroffene. Die doppelte Perspektive – als mögliche Täter und als mögliche Opfer – prägt soldatische Identität grundlegend. Der Workshop bietet Raum, diese Spannung nicht nur theoretisch zu diskutieren, sondern auch emotional und erfahrungsbezogen zu durchdringen.
Die Diskussion über Täterschaft wird dabei nicht auf moralische Verurteilung reduziert. Die Teilnehmenden beschäftigen sich mit Studien, die zeigen, dass NS-Täter oft keine sadistischen Persönlichkeitsmerkmale aufwiesen, sondern unter bestimmten Bedingungen „ganz normale Männer“ waren.[5] Diese Erkenntnis ist unbequem, aber notwendig und konfrontiert jeden Teilnehmenden mit der Frage nach der eigenen moralischen Standfestigkeit in Extremsituationen.
Im Workshop bedeutet dies auch, über mögliche strukturelle und kulturelle Bedingungen heutigen Handelns nachzudenken: Welche institutionellen, gesellschaftlichen und persönlichen Faktoren fördern die Bereitschaft zum Mitmachen? Welche Rolle spielen berufliche Sozialisation, Gruppendruck oder politische Narrative? Und was unterscheidet die Soldatinnen und Soldaten von heute von jenen, die einst in Auschwitz Dienst taten?
Die Einbindung der Täter- und Mitläuferperspektiven dient nicht der Relativierung begangenen Unrechts, sondern der Schärfung historischer Urteilskraft. Zugleich steht sie untrennbar in Verbindung mit der Achtung und Würdigung der Opfer. Nur durch diese doppelte Perspektive – auf das Leid und auf die Verantwortung – kann ethisches Lernen gelingen.
Ein zentraler Bestandteil des Workshops ist die vertiefte Auseinandersetzung mit den historischen Kontexten von Auschwitz. In umfangreichen Führungen durch das Stammlager Auschwitz I und das Vernichtungslager Birkenau sowie durch begleitende Fachvorträge wird den Teilnehmenden ein umfassendes Bild der Struktur, Funktionslogik und institutionellen Rahmenbedingungen des nationalsozialistischen Lagersystems vermittelt. Thematisiert werden dabei die Ideologie der Täter, bürokratische Abläufe, soziale Mechanismen sowie die systematische Planung und Durchführung der Massenvernichtung.
Dabei wird bewusst versucht, auf jede Form von Heroisierung, Moralisierung oder vereinfachender Einteilung in „gut“ und „böse“ zu verzichten. Die Teilnehmenden sollen nicht mit fertigen Urteilen zurückgelassen werden, sondern befähigt werden, selbstständig historische Komplexität zu durchdringen. Ziel ist es, ein vertieftes Verständnis für das Zusammenspiel individueller, institutioneller und gesellschaftlicher Faktoren zu entwickeln – und damit auch für die Mechanismen, die Gewalt begünstigen können.
Der Workshop fördert die Erkenntnis: Es gab nicht die eine Ursache, nicht das eine Motiv – sondern ein Netz aus politischer Indoktrination, bürokratischer Normalität, kollektiven Deutungsmustern und individuellen Interessen. Täter waren nicht durchweg „Monster“, sondern oft sozial angepasst, funktional integriert und von ihrem Umfeld getragen. Gerade dies macht die Auseinandersetzung so herausfordernd – und ethisch produktiv.
An dieser Stelle wird auch der Blick auf die Mitverantwortung von Institutionen, der Einfluss politischer Narrative und der Wandel gesellschaftlicher Normen einbezogen. Die historische Kontextualisierung erweitert den Blick für Kontinuitäten und Brüche, für institutionelle Mechanismen und die Wirkkraft von Ideologien – auch mit Blick auf heutige sicherheitspolitische Herausforderungen.
Ergänzt wird dieser Teil durch Vorträge und Diskussionen zu Fragen der Erinnerungskultur, zur Weitergabe von Traumata über Generationen hinweg und zur psychischen Langzeitwirkung von Gewalterfahrungen. Die Teilnehmenden reflektieren dabei nicht nur die NS-Vergangenheit, sondern auch ihre gegenwärtige Bedeutung für den Soldatenberuf.
Die historische Kontextualisierung zielt nicht auf moralische Entlastung, sondern auf ethische Schärfung. Sie ist Voraussetzung dafür, Verantwortung heute zu übernehmen – auf einer fundierten, reflektierten und differenzierten Grundlage.
Thomas Hoppe beschreibt authentische Erinnerung als Fundament für tragfähige Versöhnung. Sie soll historische Tatsachen nicht selektiv deuten, sondern der Gerechtigkeit dienen, indem sie den Opfern eine Stimme gibt und ihre Würde öffentlich anerkennt. Vor allem aber soll sie die Wiederholung von Gewalt verhindern – durch institutionelle und individuelle Aufarbeitung, durch ethische Reflexion und insbesondere durch Bildung.[6]
In diesem Sinne eröffnet der Workshop einen Raum für Selbstbefragung: Wie gehe ich, als Soldat, als Bürger, als Mensch, mit dem Erbe dieser Geschichte um? Wie nutze ich meine Handlungsspielräume heute verantwortungsvoll und menschenwürdig?
Ziel ist es, Geschichtsbewusstsein nicht über moralische Lehrsätze zu vermitteln, sondern über aktive Aneignung: durch Wissen, durch Empathie, durch Bezug zur eigenen Lebenswelt. Dazu gehört das Zuhören, das Aushalten unterschiedlicher Erinnerungsmuster und die Bereitschaft zum offenen Diskurs. Die Erfahrung zeigt: Gerade in kontroversen, grenzüberschreitenden Gesprächen entsteht Verständnis für die Vielfalt nationaler Perspektiven, aber auch für gemeinsame ethische Grundlagen.
Auschwitz steht nicht nur für unfassbare Verbrechen, sondern auch für die Zerstörung menschlicher Beziehungen zwischen Individuen, Gruppen, Staaten. Gedenk- und Versöhnungsarbeit an diesem Ort ist deshalb nie nur rückwärtsgewandt. Sie dient auch der Wiederherstellung von Beziehungen und der gemeinsamen Gestaltung von Zukunft.
Emotionale Erfahrung und kollektive Verantwortung
Die emotionale Dimension ist unverzichtbarer Bestandteil und zentrales pädagogisches Moment des Workshops. Der Gedenkort Auschwitz wirkt nicht nur über das vermittelte Wissen, sondern vor allem über seine Unmittelbarkeit. Die Teilnehmenden bewegen sich durch ein Gelände, das selbst Zeugnis ist: für industrielle Vernichtung, systematische Entwürdigung und die völlige Missachtung menschlicher Existenz. Dieses „Er-Gehen“ ist körperlich spürbar und emotional fordernd.
Ein ganzer Seminartag ist diesem bewussten Wahrnehmen gewidmet. Das Stammlager Auschwitz I und das Vernichtungslager Birkenau werden nicht nur als historische Orte, sondern als Erfahrungsräume erschlossen. Das Zentrum für Dialog und Gebet – nur wenige Gehminuten entfernt – bietet einen Rückzugsort, der spirituelle Besinnung mit intellektueller Auseinandersetzung verbindet. Hier werden Reflexionsräume geöffnet, in denen das Gesehene, Gehörte und Gefühlte verarbeitet werden kann.
Besonders intensiv wirken jene Momente, in denen die Teilnehmenden nicht nur über, sondern mit Zeitzeug:innen sprechen. In den persönlichen Erzählungen wird Geschichte nicht analysiert, sondern erlebt: als Fragment biografischer Erinnerung, als verletzliche, oft schmerzhafte Offenlegung. Gerade weil die Berichte nicht vollständig erklärbar oder eindeutig einzuordnen sind, berühren sie tief. Die Konfrontation mit gelebtem Leid und überlebtem Trauma wirkt nach – jenseits rationaler Einordnung.
Auch künstlerische Ausdrucksformen wie die bereits erwähnte Ausstellung eröffnen in diesem Zusammenhang besondere Zugänge, indem sie das Unsagbare auf anderem Wege transportieren. Hier begegnen die Teilnehmenden nicht historischen Daten, sondern inneren Zustände: Angst, Schmerz, Ohnmacht. Das fördert eine Form des Lernens, das nicht nur kognitiv, sondern emotional resonant ist.
Diese Erfahrungen schaffen Raum für das, was oft fehlt: die Erlaubnis, betroffen zu sein. Sie ermöglichen ein Erinnern, das nicht auf Erklärbarkeit, sondern auf Empathie zielt. Und sie zeigen: Gedenkstättenarbeit ist keine reine Wissensvermittlung. Sie ist eine ethisch-emotionale Praxis, die anerkennt, dass Würde auch im Erinnern selbst verteidigt werden muss.
Reaktionen wie Sprachlosigkeit, Rückzug oder Tränen werden im Seminar nicht als Schwäche bewertet, sondern als Ausdruck moralischer Irritation – und damit als Teil des Lernprozesses. Sie markieren jenen Punkt, an dem Wissen nicht mehr reicht, sondern Haltung gefragt ist. In gemeinschaftlich gestalteten Gedenkritualen, etwa bei der Kranzniederlegung an der Erschießungsmauer, übernehmen die Soldaten selbst Verantwortung: für einen Ausdruck des Erinnerns, der Sprache, Symbolik und Mitgefühl verbindet. Die Zeremonie ist mehrsprachig, interreligiös und wird von den Teilnehmenden selbst entwickelt; so entsteht eine Form kollektiver Verantwortung, die aus dem Moment erwächst, aber über ihn hinauswirkt.
Die Teilnehmenden gestalten selbst den Gedenkakt (hier 2024) (Foto: Volksbund/Vinzenz Kratzer)
Mihaela Mihai spricht in diesem Zusammenhang von emotionalem Lernen als demokratischer Ressource.[7] Es geht nicht um sentimentale Ergriffenheit, sondern um die Entwicklung von Empathie, moralischer Urteilskraft und geschichtsbewusster Verantwortung. Wer Geschichte nicht nur versteht, sondern auch spürt, ist eher in der Lage, die ethischen Konsequenzen für sein eigenes Handeln zu ziehen.
Soldaten sind in besonderer Weise gefordert: Sie verfügen im Rahmen ihres Dienstes über ein Gewaltmonopol und tragen Verantwortung in hochkomplexen, oft ambivalenten Situationen. Zugleich sind sie selbst den Wirkungen von Gewalt ausgesetzt – physisch, psychisch und moralisch. Der Workshop macht diese doppelte Perspektive erfahrbar: als Chance zur Selbstvergewisserung und zur Ausbildung einer ethisch fundierten beruflichen Identität.
In der Summe zeigt sich: Emotionen sind kein pädagogisches Beiwerk, sondern konstitutiv für den Bildungsprozess. Sie ermöglichen den Übergang von Erkenntnis zu Haltung. Sie sensibilisieren für Verantwortung. Und sie eröffnen – im internationalen, militärischen und persönlichen Kontext – Wege zu einem Erinnern, das nicht moralisierend belehrt, sondern menschenwürdig bindet.
Dialog statt Konsens
Der Workshop in Oświęcim versteht sich nicht als Ort der Einigung, sondern als Ort des Dialogs. Er zielt nicht auf harmonisierende Verständigung, sondern auf ein gegenseitiges Ernstnehmen von Unterschiedlichkeit – in Erfahrungen, Narrativen und moralischen Bewertungen. Das Konzept der agonistischen Erinnerung setzt genau hier an: Differenz wird nicht als Störung empfunden, sondern als notwendige Bedingung eines demokratischen Lernprozesses.
Ein polnischer Offizier, dessen Großvater unter deutscher Besatzung litt, spricht anders über Auschwitz als ein deutscher Soldat, der sich mit der Tätergeschichte seiner Familie auseinandersetzt. Diese Perspektiven stehen nebeneinander, teils im Spannungsverhältnis, aber sie stoßen aufeinander in gegenseitiger Achtung und mit dem Ziel, voneinander zu lernen.
Die Teilnehmenden diskutieren offen über nationale Schulddiskurse, kollektive Narrative und moralische Dilemmata. Unterschiedliche Erinnerungsmuster werden dabei nicht aufgelöst, sondern sichtbar gemacht. In diesem Sinne ist der Workshop kein Konsensraum, sondern ein Resonanzraum – in dem Widerspruch zugelassen, Ambivalenz ausgehalten und Pluralität anerkannt wird. Es geht nicht um „eine“ Wahrheit, sondern um das Ringen um Verstehen in Differenz.
Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die vergleichende Auseinandersetzung mit den erinnerungspolitischen Narrativen der drei beteiligten Länder. Diese Unterschiede werden im Workshop nicht relativiert, sondern bewusst reflektiert. Die Teilnehmenden erkennen: Erinnerung ist kein neutraler Prozess, sondern Ausdruck gesellschaftlicher Verarbeitungsstrategien – sie ist zugleich Spiegel und Konstruktion kollektiver Identität.
Gerade diese Offenheit gegenüber konkurrierenden Deutungen macht die Stärke des Workshops aus. Denn hier begegnen sich zugleich Soldaten mit unterschiedlichen Biografien, Wertvorstellungen und Einsatzerfahrungen. Das Berufsethos verbindet – die Erinnerung unterscheidet. Diese Spannung wird im Workshop nicht verdeckt, sondern offen angesprochen.
Besonders bedeutsam ist dieser Dialog auch vor dem Hintergrund der gemeinsamen Verantwortung für die Zukunft. Denn die Teilnehmenden sind nicht nur individuelle Repräsentanten nationaler Erinnerungskulturen, sondern zugleich Akteure aktueller sicherheitspolitischer Realitäten.
In diesem Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Gegenwart entfaltet der Workshop seine Wirkung: Er ermöglicht einen Dialog, der sich der Komplexität von Geschichte stellt, ohne sie zu relativieren – und der in der Vielfalt der Stimmen keine Schwäche sieht, sondern eine ethische Ressource.
Schluss
Im Zentrum des Workshops steht eine Haltung, die Kommunikation als Schlüssel zur Lernfähigkeit begreift – und das ein Leben lang Diese Haltung bildet die Grundlage: Ziel ist es nicht, eine bestimmte Deutung durchzusetzen, sondern einander zuzuhören: über nationale Grenzen, militärische Kulturen und persönliche Hintergründe hinweg.
„Für Versöhnung arbeiten erfordert die Bereitschaft, die Komfortzonen zu verlassen, sich selbst anderen Perspektiven, Haltungen und Erfahrungen auszusetzen und sich mit sich selbst zu konfrontieren. […] zwar stimmt es nicht, dass die Zeit alle Wunden heilt, aber Heilung braucht Zeit“, so Jörg Lüer in seinem Beitrag in dieser Ausgabe. Die Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigen: Es ist möglich, gemeinsam zu erinnern, ohne Unterschiede zu leugnen. Es ist möglich, Verantwortung zu teilen, ohne Schuld zu vergleichen. Und es ist notwendig, miteinander im Gespräch zu bleiben – gerade angesichts aktueller politischer Spannungen, rechtspopulistischer Tendenzen und einer neuen Konfrontation in Europa.
[1] Lüer, Jörg (2002): Katyn und Chatyn – Fragen an die gesellschaftliche Bedeutung von Erinnerung.In: Ost-West 3, S. 45‒51, S. 50 f.
[2] Die Gedenkstätte des ehemaligen Stammlagers Auschwitz und des ehemaligen deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau befindet sich in der südpolnische Stadt Oświęcim. Am 4. September 1939 wurde die Stadt von der deutschen Wehrmacht besetzt und wurde von den Deutschen in Auschwitz umbenannt. Im Oktober 1939 wurden Oświęcim und seine Umgebung unmittelbar dem damaligen Deutschen Reich einverleibt.
[3] Ausführlich zu den Konzepten der antagonistischen, kosmopolitischen und agonistischen Erinnerung: Bull, Anna Cento und Hansen, Hans Lauge (2015): On agonistic memory. In: Memory Studies 9(4), S. 390–404.
Kristina Tonn ist seit 2012 wissenschaftliche Referentin und Projektleiterin Didaktik-Portal beim zebis. Sie studierte Rechtswissenschaften in Hannover, Göttingen und Leuven (Belgien) und absolvierte den Masterstudiengang „Peace and Security Studies“ (Universität Hamburg/Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik).