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Versöhnung - Placebo, Sedativum oder bittere Medizin? Über den ambivalenten Umgang mit gewaltbelasteter Vergangenheit

„Wer von Versöhnung sprechen will, darf von den Verletzungen und dem Unversöhnten nicht schweigen.“[1] Diese Einsicht haben die deutschen Bischöfe 2024 in ihrem Friedenswort „Friede diesem Haus“ klar formuliert. Diese Formulierung ermutigt dazu, sich den schmerzhaften Verletzungen zu stellen und der gerade auch in kirchlichen Kreisen immer wieder anzutreffenden Versuchung. allzu schnell mit einer lieblichen Versöhnungsrede über ebenjene Verletzungen hinwegzugehen. Angesichts der Tatsache, dass Gewalterfahrungen tief an den menschlichen Kern gehen und Erschütterungen auslösen können, die sich nicht selten über Generationen forttragen, nimmt die reale Mehrdeutigkeit der gesellschaftlichen Versöhnungsreden nicht wunder. Ein produktiver Zugang zur Versöhnungsproblematik liegt in der tieferen Auseinandersetzung mit Gewalt, Gewalterfahrungen und ihren Folgen. In diesem Kontext steht jede sinnvolle Versöhnungsrede und -praxis und an ihm muss sie sich erweisen.

Gewaltbelastete Vergangenheit hat in Deutschland einen festen und großräumigen Platz im gesellschaftlichen Diskurs sowie in den Medien. Das ist eine begrüßenswerte Frucht jahrzehntelanger, häufig schmerzhafter Auseinandersetzungen. Dennoch kann man sich bisweilen des Eindrucks nicht erwehren, dass diese mediale Präsenz ein nicht selten hilfloser Akt der Beschwörung einer beunruhigenden, aber zu guten Teilen unverstandenen Anwesenheit von Vergangenheit ist. Wenn im Folgenden von gewaltbelasteter Vergangenheit die Rede ist, so geht es um den Einfluss der Gewalt und ihrer Folgen auf die gegenwärtige Situation, unsere Mentalitäten, Ängste, Hoffnungen, Erinnerungen und Verletzungen. Das heißt, wir reflektieren die Vergangenheit insofern, als sie in sehr konkreter Weise signifikant ist, um heutige Situationen und soziale Beziehungen zu verstehen. Streng genommen reden wir daher nicht über die Vergangenheit, sondern über die Gegenwart.

Zwei wesentliche Einsichten seien vorangestellt, da man sie, wie die Erfahrung lehrt, kaum oft genug betonen kann: Es gibt keine Masterpläne und Blaupausen für Versöhnungsprozesse. Jeder Kontext ist einzigartig und die damit verbundenen Besonderheiten gilt es zu respektieren. Denn diese Partikularitäten nicht zu respektieren, liefe darauf hinaus, die Leiden der Menschen, ergo die Menschen selbst, nicht zu respektieren. Die zweite wichtige Erfahrung und Einsicht ist, dass wir in all den − oftmals sehr verschiedenen − Kontexten auf dieselben Grundfragen stoßen. Diese gilt es im Rahmen der jeweiligen partikularen historischen, kulturellen und religiösen Umstände zu beantworten. In diesem Befund spiegelt sich, dass sich Menschen in ihrer anthropologischen Struktur nicht unterscheiden. Er deckt sich auch mit den Ergebnissen der Traumaforschung, dass sich die Notfallreaktionen von Menschen kulturell nicht wesentlich unterscheiden, während die spezifischen Formen der Verarbeitung und Integration sehr wohl eine hohe kontextuelle Signatur aufweisen.[2] Den Zusammenhang von Partikularität und Universalität im Kontext von Gewalterfahrungen gilt es zu erfassen und entsprechend darauf zu antworten.

Gewalterfahrung[3]

Gewalterfahrung ist die Erfahrung extremer Schutzlosigkeit und Verletzlichkeit des menschlichen Lebens. Folter ist das wahrscheinlich extremste Beispiel dieser Erfahrung. Seine eigene Erfahrung reflektierend hat Jean Améry formuliert: „Wer der Folter unterlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Die Schmach der Vernichtung lässt sich nicht auslöschen.“[4] Extreme Gewalt löst einen existenziellen Schock aus, der zu Traumatisierung führen kann und der von den machtvollen Gefühlen der Demütigung, der Scham und des Gesichtsverlusts begleitet wird. Das Vertrauen in die Umwelt von Menschen, die Gewalt ausgesetzt gewesen sind, wird erheblich gestört und bisweilen verschwindet es völlig. Die Reaktionen der Opfer auf Gewalt erschließen sich uns unmittelbar.[5] Weniger offensichtlich hingegen ist im ersten Moment die Beobachtung, dass auch die Täter eine Gewalterfahrung machen, die häufig für diese nicht weniger schockierend ist, da ihre Verstrickung in Gewaltprozesse in vielen Fällen ihr Wertesystem und ihr Selbstbild infrage stellt und somit erheblich Auswirkungen auf ihre Identität hat.[6] Eine dritte, sehr vielschichtige Gruppe von Menschen, die allzu häufig nicht in den Blick genommen wird, sind die Zuschauer. Wer jemals Zeuge eines Kampfes auf der Straße gewesen ist und nicht eingegriffen hat, oder eingegriffen und in die Augen der Zuschauer geschaut hat, weiß, worum es geht: Passivität aus dem Gefühl der potenziellen Bedrohung oder der heimlich zustimmenden Komplizenschaft. Beides ist eine Abwendung von den Opfern. Für die Opfer gehören diejenigen, die passiv geblieben sind, unabhängig von deren Beweggründen, zur Gewalterfahrung. Für die Zuschauer ist die Erinnerung an dieses Ereignis bestenfalls ein Gefühl schamvoller Empörung, mit dem sie umgehen müssen. Auch sie haben ihre eigene Gewalterfahrung.[7]

Schon diese kleinen idealtypischen Beispiele zeigen, dass Gewalterfahrungen eine erhebliche Vielfalt aufweisen, die in den individuellen Rollen gründet, die die einzelnen Personen und Gruppen in den Gewaltprozessen einnehmen. In der vielschichtigen Wirklichkeit hat man es in der Regel mit unzähligen Abstufungen von Opfersein, Täterschaft und Zuschauern sowie allen möglichen Mischformen zu tun. Diese Unterschiede und Nuancen sind von großer Bedeutung, wenn man den Einfluss der Gewalt auf die sozialen Beziehungen und persönlichen Identitäten näher fassen möchte. Gewalt verstehen bedeutet auch die Einsicht, dass selbst Gewalt, die aus Gründen berechtigter Selbstverteidigung oder Nothilfe ausgeübt wird, Wunden und Spuren bei den Opfern und in anderer Weise eben auch bei den Tätern hinterlässt. Gewalt und ihre Folgen belasten die Beziehungen zwischen Menschen und Gruppen. Nicht selten belasten sie auch das Verhältnis, das Menschen zu sich selbst haben. Gewalterfahrung lässt kaum jemanden unberührt. Sie prägt die Menschen tief und hat erheblichen Einfluss auf die Identitäten aller Betroffenen. Umgang mit Gewaltfolgen ist daher zu einem großen Teil Umgang mit beschädigten Identitäten.

Deutungen und Narrative als Reaktionen auf Gewalterfahrung

Der durch die Gewalterfahrung ausgelöste existenzielle Schock erfordert eine Antwort und eine Deutung. Die erschütterte Weltsicht bedarf der Re-Stabilisierung durch Verstehen des Geschehenen. Die Fähigkeit, die erlebten Ereignisse in bedeutsamer Weise zu erklären, ist keineswegs trivial. Sie ist vielmehr eine Überlebensfrage im metaphorischen und konkreten Sinne. Dies belegt auch die in deutschen Konzentrationslagern gemachte Beobachtung, dass es für die politisch Verfolgten, seien sie katholische Priester, Kommunisten oder Sozialdemokraten gewesen, leichter war, sich psychologisch an die Gewaltsituation anzupassen, als für die rassisch Verfolgten. Abgesehen von der anderen Behandlung durch die Nazis war entscheidend, dass viele politische Häftlinge sich auf starke Orientierungsrahmen abstützen konnten. Wer im Widerstand zum NS-Regime stand und tätig war, rechnete mit der Möglichkeit der Inhaftierung. Diese Orientierungsrahmen halfen den Betroffenen zu verstehen, was passiert war, und sie konnten sich in diesem Rahmen neu verorten und so schneller als andere die nach dem Schock lebenswichtige Orientierung wiedergewinnen.[8] Solschenizyn hat dieselben Erfahrungen aus dem Gulag berichtet.[9]

Das Erkennen und die Definition des Feindes erklären die Ursachen des Leidens und sie gehen oft mit einem Gefühl von Sinnhaftigkeit einher. Die Notwendigkeit, die individuelle Gewalterfahrung zu verstehen oder zumindest mit ihr umzugehen, besteht für alle Beteiligten. Aus dieser Konstellation entstehen komplexe und interaktive Netze konfligierender Interpretationen, in denen sich die Struktur der sozialen Beziehungen spiegelt, die die Gewalt hinterlassen hat. Diese Deutungen unterliegen im Laufe der Zeit einem Wandel entsprechend der Entwicklung der sozialen Beziehungen sowie der politischen Umstände.[10]

Für Heilungs- und Versöhnungsprozesse ist es von großer Bedeutung zu verstehen, wie die jeweiligen Deutungsmuster zustande kommen und entlang welcher Fragen und Erfahrungen sie sich entwickeln. Generell gilt, dass diese Deutungen schon bestehende Muster, Feindbilder und Stereotypen aufgreifen und diese entsprechend den bestehenden Notwendigkeiten und Plausibilitäten aktualisieren. Diese Deutungen und Narrative tradieren Erfahrungen in einer oftmals schwer verständlichen, aber nichtsdestominder wirkungsvollen Art und Weise.[11] Sie fungieren als Container identitätsrelevanter Informationen. Die Herausforderung besteht darin, diese Container zu öffnen und vorsichtig den oftmals schmerzbesetzten Inhalt zu bergen. In diesem Zusammenhang ist es für die individuellen wie auch sozialen Heilungsprozesse wichtig, Sprechfähigkeiten und Gesprächsbereitschaften zu entwickeln. Da nach systemischen Gewalterfahrungen die gesellschaftlichen (Kommunikations)beziehungen massiv gestört sind, trifft das Sprechen über die Erfahrungen auf erhebliche Widerstände.[12]

Grundorientierung oder die Matrix des Umgangs mit gewaltbelasteter Vergangenheit

Die wesentliche politische Herausforderung besteht darin, soziale Beziehungen soweit möglich (wieder)herzustellen, was das Akzeptieren immanenter Begrenzungen einschließt. Diese Begrenzungen zu akzeptieren, ohne sich an sie zu gewöhnen, ist eine Frage des Respekts vor den Opfern und der menschlichen Würde. Will man die komplexen Prozesse der Versöhnung messen, reicht es nicht, nach politischer Stabilisierung und entsprechenden Arrangements Ausschau zu halten. Diese tragen allzu oft zur Chronifizierung der verletzten gesellschaftlichen Beziehungen bei.[13] Es geht vielmehr darum, einen umfassenden und dynamischen Ansatz zu entwickeln, der den komplexen Ambivalenzen der zu bewältigenden Probleme standhält.

Die hier abgebildete Grafik – die Problemmatrix – markiert die verschiedenen Pole des Umgangs mit gewaltbelasteter Vergangenheit. Sie sind in vielfältiger Weise miteinander verknüpft. Man kann sie sich wie ein Mobile vorstellen. Zieht man an einer Seite, so hat dies Einfluss auf alle Teile.

Solidarität mit den Opfern − Wiederaufrichtung ihrer Würde

Gewaltüberwindung erfordert zu lernen, die Wirklichkeit mit den Augen der Opfer oder der „Anderen“ zu sehen. Versöhnungsprozesse sind an der Solidarität mit und dem Respekt vor den Opfern zu messen. Die Hauptaufgabe in diesem Zusammenhang ist es, alles Mögliche zu tun, um die Würde der Opfer wiederaufzurichten. Das bedeutet: praktische Solidarität sowie den Opfern und ihren Bedürfnissen Gehör schenken. Dabei kommen rechtlicher, sozialer und politischer Rehabilitierung und Entschädigung große Bedeutung zu. Besonderes Augenmerk ist auf das Bedürfnis vieler Opfer nach „geschützten“ Räumen zu richten, in denen sie ihre Erfahrungen in angemessener Form zum Ausdruck bringen und zugleich die Erfahrung von Sicherheit und Respekt machen können, was einen wichtigen Beitrag zur Wiedererlangung von Vertrauen in soziale Beziehungen leisten kann. Der Aufbau von belastbaren Beziehungen zu den Opfern erfordert seitens der „Helfer“ eine ehrliche Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Rolle im Gewalt- bzw. Generationenprozess.

Solidarität mit den Opfern erfordert zudem, ihrer Marginalisierung entgegenzutreten. Diese Trends, die normalerweise erhebliche ökonomische Auswirkungen auf die betroffenen Personen haben, werden von diesen in der Regel als Fortsetzung der durch die Gewalt bewirkten Diskriminierung und Herabwürdigung erlebt. Dabei stellt die Überwindung der in der Gewaltgeschichte begründeten Armut der Opfer eine sehr ernst zu nehmende Herausforderung dar, der letztlich nicht mit paternalistischer Wohltätigkeit − mit dem vielleicht unbewussten Wunsch, die Opfer ruhigzustellen − beizukommen ist. Das generelle Unbehagen der Mehrheitsgesellschaft in der Begegnung mit Opfererfahrungen ist ein wesentlicher Faktor bei der Marginalisierung der Opfer und zugleich ein ernstes Hindernis für die individuellen und gesellschaftlichen Transformationsprozesse. Dies wird zusätzlich durch den ebenfalls problematischen Trend zur politischen Instrumentalisierung von Opfern verstärkt.[14] Manche Opfergruppen werden benutzt, um politische Legitimität zu generieren, während andere weiterhin ausgeschlossen sind. Die Heroisierung einzelner Opfergruppen ist problematisch, da sie indirekt zur Marginalisierung anderer Opfer beiträgt und zudem mittels ihrer narrativen Überinterpretation der Ereignisse dazu neigt, die Erfahrung der Sinnlosigkeit der Gewalt und Schuld zu unterdrücken und die erforderlichen Gespräche über diese Erfahrungen zu behindern.

Diese problematischen Umgangsweisen mit Opfern beachten deren verletzte Würde nicht angemessen. Sie sind von den bewussten oder unbewussten Bedürfnissen der gesellschaftlich dominanten Akteure nach schnellstmöglicher Stabilisierung angetrieben und neigen gerade dazu, über die verunsichernden Gewalterfahrungen hinwegzugehen. Dabei drohen die Heilungspotenziale, die solcher Auseinandersetzung innewohnen, geschwächt zu werden. Die kritische Auseinandersetzung mit diesen Verhaltensweisen kann daher einen wichtigen Beitrag zum Prozess der politisch-kulturellen Transformation leisten. Der feine Unterschied zwischen dem notwendigen politischen Diskurs und falscher politischer Instrumentalisierung ist dabei angesichts der vielfältigen Ambivalenzen der Perspektiven nicht immer einfach zu erkennen, da die Auseinandersetzung mit diesen Fragen in sich selbst hochpolitisch ist. Letztlich geht es um die Frage nach den individuellen und gesellschaftlichen Selbstverständnissen, die sich in der einen oder anderen Weise zu den hochgradig identitätsrelevanten Gewalterfahrungen verhalten müssen. Entsprechend wäre ein rein humanitärer Umgang mit den Opfern sowohl eine Illusion als auch eine Form, der politischen Herausforderung auszuweichen. Denn es geht nicht um eine Frage der Barmherzigkeit, sondern um Solidarität und Gerechtigkeit.

Differenzierte Auseinandersetzung mit den Tätern

Über die Solidarität mit den Opfern hinaus besteht die Notwendigkeit einer differenzierten Auseinandersetzung mit den Tätern. Ungeachtet dessen, wie schwierig dies oft ist, ist es nichtsdestominder unverzichtbar, auch ihre menschliche Würde in Rechnung zu stellen. Dies schließt psychosoziale Angebote ebenso mit ein wie Angebote zur angemessenen Reintegration. Vorschnelle und generalisierende Bestrafung bedienen in der Regel die gesellschaftlichen Bedürfnisse nach Wiederherstellung des inneren Zusammenhalts mittels der Marginalisierung der „Schuldigen“ oder mittels der Bestimmung eines Sündenbocks. Nicht selten ist die Versuchung zu beobachten, sich von den harten und tendenziell verunsichernden Fakten dadurch zu distanzieren, dass man die Last der Verantwortung anderen zuschiebt.[15] Den tiefen und ernsthaften Folgen von Gewalt ist allerdings auf diese Weise kaum beizukommen. Es gilt, dem verständlichen Vermeidungs- und Verdrängungsverhalten geduldig entgegenzuwirken. Denn man hat es mit einem häufig schmerzhaften individuellen und kollektiven Prozess politischer, kultureller und nicht zuletzt spiritueller Transformation zu tun. Es ist daher nicht überraschend, dass man auf vielfältige Formen der Abwehr und des Widerstands trifft, die häufig Kompromisse erforderlich werden lassen. So notwendig solche Kompromisse sein können, so notwendig ist es aber zugleich, im Auge zu behalten, wer am Ende den Preis für diese Kompromisse zu tragen hat. Wer Kompromisse schließt, muss auch die Verantwortung für deren Preis übernehmen.

Strafrechtliche Verfolgung und Aufklärung sollen nach Möglichkeit eine zentrale Rolle bei der differenzierten Auseinandersetzung mit den Tätern spielen.[16] Ansonsten drohen die normativen Grundlagen der Gesellschaft durch faktische Amnestie untergraben zu werden. Das Ziel ist eine differenzierte Sicht der verschiedenen Formen von Täterschaft und Verantwortlichkeit zu entwickeln, diese der Öffentlichkeit in normativ relevanter Weise bekannt zu machen und so dazu beizutragen, die falschen Legitimationen und damit verbunden die falsche Akzeptanz von Gewalt zu überwinden. Der Versuch zur Wiederherstellung von Gerechtigkeit ist unverzichtbar, auch wenn Gerechtigkeit in einem völlig zufriedenstellenden Umfang politisch niemals erreicht werden kann. Aber allein schon der ernsthafte Versuch zeigt, dass Gerechtigkeit das Fundament des zukünftigen gesellschaftlichen Zusammenlebens sein soll, und das hilft, Vertrauen wiederherzustellen.

Rückbindung des Gewaltphänomens an konkrete menschliche Schuld und ihre Konsequenzen

Gewalt ist immer ein Resultat konkreter menschlicher Schuld und ihrer Konsequenzen. Diese Sichtweise erlaubt es, das Gewaltphänomen auf seine wirklichen Dimensionen zu reduzieren, ohne es harmlos erscheinen zu lassen. Das ist umso wichtiger, als in den entsprechenden Situationen Gewalt häufig als überwältigend erlebt wird, was sich in den Ohnmachtsgefühle der Betroffenen spiegelt und diese zugleich verstärkt. Daher liegt in der Rückbindung von Gewalt an freies menschliches und damit auch schuldhaftes Handeln ein wesentliches Element wirksamer Friedens- und Versöhnungsarbeit. Im Gegensatz zur scheinbaren Unausweichlichkeit der Gewalt weist diese Rückbindung an menschliche Schuld, die eine Möglichkeit menschlicher Freiheit ist, auch auf die Notwendigkeiten und Potenziale möglicher Veränderung hin. Das Sprechen über persönliche Schuld berührt die Identitäten der betroffenen Personen tief und hat sich mit besonderen Versuchungen auseinanderzusetzen.[17] Diese können darin liegen, das Ausmaß der eigenen Schuld hinter einem Vorhang der Ausreden zu verbergen oder die Idee der Schuld nur auf kriminelle Aktivitäten anzuwenden. Karl Jaspers hat vor dem Hintergrund der deutschen Erfahrungen die Bedeutung einer differenzierten Rede über Schuld eindrücklich verdeutlicht. Denn ohne einen differenzierten Blick auf die verschiedenen Dimensionen menschlicher Schuld wird man auch nur ein problematisch verzerrtes Bild der komplexen menschlichen Wirklichkeit bekommen und die Betroffenen angesichts der hohen identitätsmäßigen Bedeutung dieser Fragen kaum ermutigen können, aus dem inneren Gefangensein ihrer Schuld herauszutreten und neue Beziehungen aufzubauen.[18]

Schuldbekenntnisse sind eng verbunden mit den persönlichen und gesellschaftlichen Sprachfähigkeiten und Vergebungspotenzialen. Vergebung und Versöhnung können nicht eingefordert werden und schon gar nicht auf abstrakte oder generelle Weise. Sie sind ebenso wie die Gewalterfahrung konkret und können nur dann Realität werden, wenn klar ist, wer wem gegenüber in welcher Weise schuldig ist und wer demzufolge in der Position zu vergeben.[19] Es ist daher von großer Wichtigkeit, politisch-kulturelle Räume und Zusammenhänge zu entwickeln, in denen die vielschichtigen und komplexen Schulddimensionen ins Wort gebracht werden können und das zerstörerische Schweigen überwunden werden kann.[20] Gerade auch mit Blick auf diese Herausforderung können insbesondere die Religionsgemeinschaften als Agenten der transzendentalen Würde der Menschen eine wichtige Rolle spielen, insofern sie sich ihrer eigenen Verstrickung in die Gewaltkontexte stellen.

Auseinandersetzung mit den systemischen Zusammenhängen der Gewalt

Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten ist es wichtig, der Versuchung zu widerstehen, die gesamte Last der gewalttätigen Realität und der menschlichen Schuld ausschließlich auf den Schultern der Individuen abzulegen. Dies wäre den Realitäten nicht angemessen und unfair. Die Rückbindung des Gewaltphänomens an konkrete menschliche Schuld und ihre Konsequenzen verfehlt ihr Ziel, wenn sie nicht auch die systemischen und strukturellen Bedingungen von Ungerechtigkeit und Gewalt in den Blick nimmt. Ungerechte, gewalttätige Regime zeichnen sich nicht zuletzt dadurch aus, dass sie dazu neigen, Menschen in ihre Handlungen zu verstricken und zu Komplizen zu machen. Dies gilt in nicht wenigen Fällen auch gerade in Bezug auf die Opfer. Daher hat man es in der Regel nicht mit einem Schwarz-Weiß-Bild zu tun. Stattdessen sehen wir uns einem Gemälde in allen möglichen Grauschattierungen ausgesetzt. Die Herausforderung besteht darin, einen feinen Sinn zum Verständnis und zur Unterscheidung der Grautöne und damit ein tieferes Verständnis der Zusammenhänge zu entwickeln. Um die geforderten notwendigen Unterscheidungen zu treffen, wird eine klare Vorstellung von Schwarz und Weiß benötigt, ohne allerdings der Versuchung zu erliegen, das Bild auf Schwarz und Weiß zu reduzieren.

Eine umfassende Aufklärung über die Grundlagen, Strukturen und Auswirkungen von Ungerechtigkeit und Gewalt, zum Beispiel in Wahrnehmungsmustern und Stereotypen, ist unverzichtbar, will man Heilungs- und Versöhnungsprozesse nachhaltig stärken. Dabei gilt es, der Versuchung zu widerstehen, die Verantwortung für die Gewalt ausschließlich auf das System oder die situativen Umstände zu verschieben. Die Kunst liegt darin, die richtige Balance zwischen den Polen individueller Verantwortung und systemischer Zusammenhänge zu finden. Das Aufdecken der individuellen und strukturellen bzw. systemischen Zusammenhänge der Gewalt ist eine Bedingung für persönlichen und gesellschaftlichen Wandel. Es schließt die Benennung der von Gewalt und ihren Folgen betroffenen Personen, Täter und Opfer gleichermaßen, sowie die Offenlegung ihrer Motivationen und Geschichten mit ein. Insbesondere die konkrete (namentliche) Benennung der Opfer ist von herausgehobener Bedeutung, solange es in einer würdigenden Weise geschieht. Das Offenlegen der Geschichten der Opfer ist zudem wesentlich für den Prozess der gesellschaftlichen Transformation, da durch das Offenlegen der schmerzhaften und tiefen Wunden der vielschichtige Einfluss der Gewalt auf die gesamte Gesellschaft deutlich werden kann. Es beginnt mit den Opfern, aber darf dort nicht stehen bleiben, will man wirkliche Veränderung bewirken.

Versöhnung? Placebo, Sedativum oder bittere Medizin?

Was bedeuten die bisher angestellten Überlegungen für die Idee der Versöhnung? Der Gebrauch des Begriffs der Versöhnung ist häufig von einem hohen Maß an Ambivalenz gekennzeichnet.[21] Denn gerade wenn man das Wort nutzt, um den Horizont der angestrebten sozialen und individuellen Entwicklungen zu bezeichnen, sollte man sich der vielfältigen Versuche, die Versöhnungsidee zu missbrauchen, bewusst sein. Politische (auch kirchliche) Versöhnungsreden zeichnen sich allzu häufig durch eine gewisse Oberflächlichkeit aus, die die Tiefe der anwesenden Verletzungen zu überspringen versuchen. Eine solche scheinbar beruhigende Versöhnungsrede läuft letztlich ins Leere. Dies gilt insbesondere für jene Art der „Täter-Versöhnung“, die fordert, dass man im Sinne der Versöhnung nunmehr von der Vergangenheit schweigen solle. Vordergründig liegt solches Verhalten nur im Interesse von Tätern und Zuschauern, da es die schmerzhafte Infragestellung des eigenen Verhaltens vermeidet. Von den Opfern wird dies in der Regel als ein Mangel an Respekt und als weitere Verletzung erlebt.

Man ist daher gut beraten, vorsichtigen Gebrauch vom Begriff der Versöhnung zu machen, damit seine realen Hoffnungspotenziale nicht beschädigt werden. Bevor man über Versöhnung sprechen kann, ist es notwendig, das Unversöhnte angemessen zur Sprache zu bringen. Dieses Zursprachebringen ist hochgradig voraussetzungsreich. Es erfordert neben dem notwendigen Wissen über die Zusammenhänge auch ein Mindestmaß an gesellschaftlichem und persönlichem Vertrauen. Paradoxerweise erfordert das Arbeiten an der Versöhnung bisweilen Schweigen über Versöhnung. Es ist notwendig, die Fähigkeit zu entwickeln, die aus den verletzten Beziehungen und Identitäten erwachsenen Spannungen auszuhalten, ohne sich an sie zu gewöhnen.

Die Wege der Versöhnung beginnen mit dem Respekt vor dem Leiden der Opfer bzw. der „Anderen“. Das ist sowohl eine Frage von Solidarität und Gerechtigkeit als auch eine hermeneutische Notwendigkeit, um die Augen, Herzen und Köpfe für die volle Realität der Gewaltfolgen zu öffnen. Dazu bedarf es der schrittweisen Entwicklung einer Kultur der Multiperspektivität und des Dialogs. Dabei gilt es zu verstehen, dass Versöhnung ein langwieriger Prozess der persönlichen und gesellschaftlichen Transformation ist. Wie Karl Jaspers 1945 so treffend feststellte: „Wenn Erfolg denkbar ist, dann nur in langen Fristen.“[22] Es ist ein Weg in und durch Konflikte, die es auszuhalten und mit denen es konstruktiv umzugehen gilt. Für Versöhnung arbeiten erfordert die Bereitschaft, die Komfortzonen zu verlassen, sich selbst anderen Perspektiven, Haltungen und Erfahrungen auszusetzen und sich mit sich selbst zu konfrontieren. Dialog beginnt in der Regel nicht mit Reden, sondern mit Zuhören. Wer diese Wege gegen alle inneren und äußeren Hindernisse beschreitet, ist gut beraten, eine Haltung tätiger Geduld zu entwickeln. Denn zwar stimmt es nicht, dass die Zeit alle Wunden heilt, aber Heilung braucht Zeit. Nicht alles kann geheilt werden. Aber man kann lernen, mit den anwesenden Wunden zu leben, und das ist viel mehr, als Menschen sich nach gewalttätigen Konflikten häufig vorstellen können.

 


[1] Die deutschen Bischöfe (2024): Friede diesem Haus. Bonn, S. 105.

[2] Zum vertieften Verständnis des dialektischen Charakters von Trauma und Kontext siehe auch Baró, Ignacio Martín (2003): Poder, ideología y violencia. Madrid  (posthum veröffentlicht), Seite 366 f.

[3] Die Frage einer Definition von Gewalt ist in der Forschung durchaus strittig. Für das handlungspraktische Anliegen der folgenden Ausführungen hat es sich aber als hilfreich und hinreichend orientierend erwiesen, von den Erfahrungen der Subjekte mit Gewalt auszugehen. Zur Diskussion um den Gewaltbegriff siehe Heitmeyer, Wilhelm und Soeffner, Hans-Georg (Hg.) (2004): Gewalt. Frankfurt; Reemtsma, Jan Philipp (2008): Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne. Hamburg; Arendt, Hannah (1970): Macht und Gewalt. München.

[4] Améry, Jean (1977): Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart, S. 59.

[5] Bettelheim, Bruno (1982): Trauma und Reintegration. In: ders.: Erziehung zum Überleben. Zur Psychologie der Extremsituation. München, S. 34–39.

[6] Siehe dazu die Überlegungen und Beispiele von Schwan, Gesine (1997): Politik und Schuld. Die zerstörerische Macht des Schweigens. Frankfurt a. M., S. 101 ff., sowie Levi, Primo ([1990] 2015): Die Untergegangenen und die Geretteten. München, S. 21 ff.

[7] Die Einbeziehung der hier als Zuschauer bezeichneten Gruppe in das Gewaltgeschehen kann vielfältig verschiedene Formen annehmen. Dies spiegelt sich auch in den verschiedenen theoretischen Zugriffen auf das Problemfeld. Die Traumaforschung kennt in diesem Zusammenhang den Begriff der Indirekten Traumatisierung. Vgl. Kühner, Angela (2008): Trauma und kollektives Gedächtnis. Gießen, S. 57−60. Reemtsma betont die besondere Bedeutung der „interessierten Dritten“ als Adressaten der Kommunikation durch Gewalt. Vgl. Reemtsma, Jan Philipp (2008), s. Endnote 3, S. 471 ff. Elie Wiesel hingegen hebt in diesem Zusammenhang das Problem der Gleichgültigkeit hervor. Wiesel, Elie (1986): Erinnerungen gegen die Gleichgültigkeit. In: Schwenke, Olaf (Hg.): Erinnerung als Gegenwart. Elie Wiesel in Loccum. Loccumer Protokolle 25, S. 157 f.

[8] Bettelheim Bruno (1982): Individuelles und Massenverhalten in Extremsituationen. In: ders., s. Endnote 5, S. 66 ff.; Levi, Primo (2015), s. Endnote 6, S. 152 f.

[9] Solschenizyn, Alexander (1993): Der Archipel Gulag. [Originalausgabe Reinbeck 1976]. Reinbeck, S. 125.

[10] Assmann, Jan (1992): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München; ders. (2000): Religion und kulturelles Gedächtnis. München, S. 11–28; Gudehus, Christian, Eichenberg, Ariane und Welzer, Harald (Hg.) (2010): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart, S.75 ff.

[11] Ein klassisches Beispiel einer solchen Narration liegt im serbischen Amselfeld-Narrativ vor, das einen hochgradig projektiven Charakter trägt. Siehe dazu Sundhausen, Holm (2007): Geschichte Serbiens 19.–21. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimar, S. 33–41.

[12] Jaspers, Karl (22016): Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschlands. [Originalausgabe 1946.] München/Berlin, S. 8–15; Schwan, Gesine (1997), siehe Endnote 6, S. 202 ff.

[13] Gesine Schwan macht in ihrer sorgfältigen Auseinandersetzung mit den von Hermann Lübbe eingebrachten Überlegungen zum „kommunikativen Beschweigen“ auf die tieferen psychologischen Dimensionen der Beschädigungen sowie deren Auswirkungen auf die Demokratie deutlich. Schwan, Gesine (1997), s. Endnote 6, S. 69 ff. Lübbe, Hermann (2007): Vom Parteigenossen zum Bundesbürger. Über beschwiegene und historisierte Vergangenheiten. München.

[14] Schwan, Gesine (1997), siehe Endnote 6, S. 245.

[15] Martin Walser hat diese Beobachtung während des Auschwitz-Prozesses 1963−1965 gemacht und in prägnanter Weise ins Wort gehoben. Walser, Martin (1968): Unser Auschwitz. In: ders.: Heimatkunde. Aufsätze und Reden. Frankfurt, S. 7−23.

[16] Zur Rolle der strafrechtlichen Verfolgung und ihren Grenzen siehe Schwan, Gesine (1997), siehe Endnote 6, S. 237−244. Walser (1968, s. Endnote 15, S. 20) macht ebenfalls auf die Grenzen des Strafrechts aufmerksam: „Aber das idealistische Strafrecht schaut am liebsten auf die Hände. Und die sind einfach nicht blutig beim politischen oder wirtschaftlichen Verursacher.“

[17] Schwan, Gesine (1997), s. Endnote 6, S. 42 f.

[18] Jaspers, Karl (22016), s. Endnote 12, S. 19; Schwan, Gesine (1997), s. Endnote 6, S. 42 f. Knorn, Bernhard (2016): Versöhnung und Kirche. Theologische Ansätze zur Realisierung des Friedens mit Gott in der Welt. Frankfurter Theologische Studien, Band 74. Münster, S. 31 ff.

[19] Knorn, Bernhard (2016), s. Endnote 18, S. 34 f. und S. 41 f.

[20] Schwan, Gesine (1997), s. Endnote 6, S. 217 f.

[21] Zur Vielschichtigkeit des Versöhnungsbegriffs siehe Knorn, Bernhard (2016), s. Endnote 18, S. 21−23.

[22] Jaspers, Karl (22016), s. Endnote 12, S. 9.

Zusammenfassung

Jörg Lüer

Jörg Lüer, geboren 1965, Dr. phil., hat Neuere Geschichte, Katholische Theologie und Politikwissenschaften in Münster und Berlin studiert und ist seit 2018 Geschäftsführer der Deutschen Kommission Justitia et Pax. Von 2005 bis 2008 war er Generalsekretär von Justitia et Pax Europa, seit 2009 ist er stellvertretender Vorsitzender der Maximilian-Kolbe-Stiftung.


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Versöhnung - Placebo, Sedativum oder bittere Medizin? Über den ambivalenten Umgang mit gewaltbelasteter Vergangenheit
Jörg Lüer
Wahrheit nach Gewaltkonflikten – Wahrheitsfindung im Kontext von Transitional Justice und Versöhnungsprozessen
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Barmherzigkeit als treibende Kraft der Versöhnung
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Sanftmut, Verzeihen und Gerechtigkeit
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Versöhnung – ein rationaler Akt der Klugheit auf dem Weg zur Gerechtigkeit
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