Kontroversen in Militärethik und Sicherheitspolitik
Sanftmut, Verzeihen und Gerechtigkeit
I. Einleitung
In seinen Kriegserlebnissen, die Ernst Jünger in In Stahlgewittern festhielt, beschreibt er – neben viel Gewalt und Brutalität – eine Szene, in der die Menschlichkeit die Bühne des Krieges betritt: Jünger trifft auf dem Schlachtfeld auf einen gegnerischen Offizier. Er hält diesem die Pistole an die Stirn und ist im Begriff, den Mann zu erschießen. Er ist auch überzeugt, dass er das Recht hat, dies zu tun. Doch der Mann zieht ein Foto seiner Familie aus der Tasche und Jünger verschont ihn. „Eine Beschwörung aus einer versunkenen, unglaublich fernen Welt“ – so charakterisiert Jünger das, was ihm hier widerfuhr.[1] In der einen Welt die Rechte und Pflichten inklusive eines vermeintlichen Rechts, seinen Gegner im Krieg zu töten, in der anderen Welt Gnade, Mitmenschlichkeit sowie – wie wir es im Folgenden nennen werden – Sanftmut und Milde.
Jünger, der ansonsten keinen Zweifel daran lässt, dass er im Krieg zu töten bereit war, wird aus der einen Welt gerissen, indem er seinen Gegner nicht länger nur als Gegner, sondern als Menschen mit weiteren − und vor allem mit liebenswerten − Facetten, als Vater und Ehemann, erkennt. Diese Erfahrung, einen Menschen nicht „zu Ende zu denken“, ihn nicht auf wenige Taten oder Eigenschaften, etwa das Gegnersein, zu reduzieren, hat Max Frisch in einem bekannten Tagebucheintrag als Wesen der Liebe charakterisiert:
„Es ist bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei. […] Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertigwerden; weil wir sie lieben, solange wir sie lieben.“[2]
Die Liebe führt für Frisch nicht dazu, dass wir gar kein Bild, keine Vorstellung des Charakters der geliebten Person haben, sondern dass wir sie niemals vollständig festlegen, dass wir uns der Begrenztheit eines jeden Bildes bewusst sind. Man ist beinahe geneigt zu mutmaßen, dass Hannah Arendt diese Textstelle vor Augen hatte, als Sie in Vita activa ihre Philosophie des Verzeihens entwickelte, das ebenso wie Jüngers Gnade Ausdruck ebenjener Tugend der Sanftmut ist. Denn genau um diese Offenheit, andere nicht vorschnell auf einzelne Handlungen zu reduzieren, gehe es im Verzeihen. Doch Liebe, so Arendt, mag zwar der christliche Grund des Verzeihens sein, sie sei philosophisch hingegen nicht hinreichend. Es könne nicht sein, dass
„das Christentum recht hätte, daß nur Liebe vergeben kann, und zwar weil nur Liebe so ausschließlich auf das Wer-jemand-ist gerichtet ist, daß sie das Um-seinetwillen des Verzeihens gar nicht mehr ausdrücklich zu realisieren braucht, sondern es gleichsam ständig in dem Lieben selbst wie ein Selbstverständliches mitvollzieht. Indessen entspricht der Liebe […] in dem weiteren Bereich menschlicher Angelegenheiten ein personaler Bezug, den wir vielleicht am besten mit dem Wort ›Respekt‹ umschreiben können. [… E]r drückt die Achtung vor der Person aus, die aber in diesem Fall aus der Entfernung gesehen ist, welche der weltliche Raum zwischen uns legt, wobei diese Achtung ganz unabhängig ist von Eigenschaften der Person […] oder von Leistungen.“[3]
II. Die Würde des Menschen als komplexes Wesen
Was Arendt hier beschreibt, ist der fundamentale Anspruch auf Achtung der Menschenwürde: Nicht die individuelle Persönlichkeit aufgrund ihrer Leistungen, sondern das Menschsein an sich fordert von uns diese Achtung gegenüber allen Menschen. Im Ausgangspunkt ist dies der klassische kantische Gedanke – und doch bei genauerem Hinsehen keinesfalls allzu kantianisch. Denn im Sinne Kants begründet unsere moralische Vernunft unsere Pflichten und Rechte.[4] Andere Menschen dementsprechend an diesen Pflichten zu messen, gehört hier denknotwendig zur Achtung der anderen hinzu. Hegels Diktum zur Strafe dürfte für Kant durchaus auch für das individuelle Zeihen und Vorwerfen gelten: Durch den Tatvorwurf wird „der Verbrecher als Vernünftiges geehrt“.[5] Für die „andere Welt“, die „Welt“ der Sanftmut und damit auch für das Verzeihen, ist in Kants Ethik daher in systematischer Hinsicht kein Platz. Der „Zugang zur Problematik des Verzeihens“ ist ihr „prinzipiell versperrt“.[6] Das liegt an Kants Trennung des Menschen in den homo phaenomenon und den homo noumenon. Moralisches Handeln ist in der Welt der Freiheit zu verorten und adressiert uns als abstrakt gedachte Vernunftwesen (homo noumenon). Menschliche Schwäche ist hier ein Problem aus der Sinnenwelt, nicht aber etwas Anzuerkennendes oder zu Achtendes.
Was Arendt also dadurch, dass sie über Kant hinausgeht, philosophisch erfasst, ist, dass die beiden von Jünger geschilderten Welten keinesfalls getrennte, eigenständige Welten, sondern untrennbar miteinander verwoben sind. Unter dem Gesichtspunkt ihrer Vernunft besitzen Menschen Rechte und Pflichten und sind moralisch verantwortliche Wesen – und dies bildet den Maßstab der ethisch korrekten gegenseitigen Behandlung: Nach Jüngers – sicherlich nach moderner revisionistischer Ethik des Krieges[7] anfechtbarer – Auffassung hatte er das Recht (und vielleicht sogar die Pflicht), seinen Gegner wegen dessen Beteiligung am Krieg und der Bedrohung, die er als Gegner darstellte, zu erschießen. Doch Menschen sind nicht nur Vernunftwesen. Menschen sind komplexer, sie sind fehlbar, sie sind verwundbar – und auch diese Seite an ihnen bzw., um genauer zu sein, das komplexe, stets verwobene Gesamtbild verdient Achtung. Diese andere „Welt“ auszuklammern, ist eine problematische Verengung menschlicher Sittlichkeit.
Die These dieses Essays knüpft genau hier an: Die Würde des Menschen in einem umfassenden Sinne fordert Achtung für den Menschen als komplexes Sinnen- und Vernunftwesen. Diese Achtung können wir nur gewährleisten, wenn wir einerseits die Rechte und Pflichten ernst nehmen, die sich im Rahmen einer Ethik herleiten lassen, die auf einer Verengung des Menschen auf seinen Vernunftanteil gründet. Das Menschenbild, das dieser kantischen Ethik zugrunde liegt, ist zwar eine kontrafaktische bzw. unterkomplexe, aber zugleich notwendige und richtige Annahme der Ethik. Ohne diese kontrafaktische Annahme bzw. Überzeichnung und Isolierung der menschlichen Vernunft sind das grundlegende zwischenmenschliche Achtungsgebot und unsere Praxis gegenseitiger Verantwortungszuschreibung nicht sinnvoll zu rekonstruieren. Wir können uns als moralische Akteure nur verstehen, wenn wir diese Annahme zugrunde legen. Doch das ändert nichts daran, dass sie kontrafaktisch ist. Sie bewertet andere Menschen und deren Handlungen von einem gottgleichen Standpunkt reiner praktischer Vernunft aus. Diesen Standpunkt hat aber kein Mensch inne. Denn Menschen sind immer auch fehlbare und fehlgehende Sinnenwesen. Wir alle begehen moralische Fehler und daher kann sich niemand diesen Standpunkt ohne Selbstwidersprüchlichkeit zum alleinigen Maß machen.
Zwar können wir uns einen Menschen vorstellen, der sehr rigide ethische Maßstäbe an sich und alle anderen anlegt, doch wenn dieser strenge Maßstab die alleinige Bewertungsgrundlage nicht nur der Handlungen, sondern auch der Menschen wäre, so müsste diese Person alle Menschen, einschließlich sich selbst, für moralische Fehltritte verachten und – im Maß der Fehltritte – Anstoß an der Persönlichkeit nehmen. Selbst der moralisch und ethisch beste Mensch würde an seinem Mangel im Vergleich zu einem Ideal gemessen. Die Begründung gegenseitiger Achtung statt Verachtung scheint aus dieser Perspektive nicht kohärent herleitbar – und doch liegt genau dieser Anspruch der ursprünglichen moralischen Bewertung zugrunde. Selbst wenn man aber diese Selbstwidersprüchlichkeit nicht für gegeben hielte, zeigten sich in einer solchen Haltung doch eine enorme moralische Hybris, Überforderung und Verkennung der moralischen Praxis der Menschen. Wohlgemerkt: Eine vollständige Charakterbewertung ist auch nicht, was Kant im Sinn hat. In seiner Ethik geht es um die Bewertung einzelner Handlungen und Pflichtverstöße. Dies ist selbstredend ohne Selbstwiderspruch oder moralische Hybris möglich.
Doch damit ist unser moralisches Verhältnis zu anderen Menschen nicht adäquat erfasst. Wenn wir wissen, dass auch wir moralisch fehlgehende Wesen sind, und wir dennoch als Gesamtwesen geachtet werden wollen, sollten wir diesen Anspruch auch anderen zugestehen. Daher fordert die Achtung für den Menschen als komplexes Wesen andererseits ebenso sehr, dass wir uns um Gegengewichte gegen die überschießenden Auswirkungen der notwendigen kontrafaktischen Annahmen bemühen. Respektvolles und friedliches menschliches Zusammenleben setzt solche Gegengewichte voraus – und die moralische Praxis der Menschen kennt zahlreiche solcher Gegengewichte wie Verzeihen, Versöhnung, Gnade, Billigkeit, Nachsicht, Kompromisse, Bereitschaft zum Frieden statt Beharren auf dem eigenen Recht. Sie alle sind Ausdruck einer Tugend, das heißt einer ethisch werthaften charakterlichen Haltung und Disposition, die einem verengten Gerechtigkeitsverständnis im Sinne einer bloßen Ethik der Rechte und Pflichten zwischen Vernunftwesen entgegengesetzt ist und die insofern die (weiterhin zentrale) Gerechtigkeit im engen Sinne komplementiert. Wir können diese Tugend Sanftmut oder Milde nennen.
Es ist wichtig zu unterstreichen, dass eine solche Tugend und Tugenden allgemein nicht im Widerspruch zur Annahme ethischer Rechte und Pflichten stehen. Aus der Perspektive einer Tugendethik ist die zentrale Frage, wie ein Mensch charakterlich beschaffen sein muss, um eine Disposition für gute Handlungen zu haben. Ethisch pflichtgemäß sind aus dieser Perspektive diejenigen Handlungen, die ein idealer tugendhafter Mensch ausführen würde. Aus der Perspektive einer deontologischen Theorie der Rechte und Pflichten wäre andersherum die Tugendhaftigkeit lediglich die Disposition, seine Pflicht zu tun. So schreibt Kant etwa: „Tugend ist also die moralische Stärke des Willens eines Menschen in Befolgung seiner Pflicht.“[8] Der zentrale Unterschied ist allerdings, dass es verschiedene Tugenden gibt und somit mit der Hervorhebung, dass eine Verhaltensart (wie das Verzeihen oder die Nachsicht) in den Anwendungsbereich einer Tugend fällt, noch kein abschließendes ethisches Urteil über Einzelhandlungen gefällt ist, weil andere Tugenden dem entgegenstehen können. Mit der Feststellung der ethischen Werthaftigkeit der Sanftmut wird diese also keinesfalls absolut gesetzt, sondern als wohlverstandenes Gegengewicht gegen andere Tugenden verstanden, etwa die Gerechtigkeit in einem engen Sinne. Die Anwendung und Abwägung – und dies betont der Tugendbegriff – muss im Einzelfall erfolgen und ist schwerlich abstrakt festzulegen. Dennoch gibt es natürlich abstrakte Leitlinien hierfür, die wir unten beispielhaft für das Verzeihen aufgreifen werden. Im Ergebnis steht die Tugend der Sanftmut nicht im Widerspruch zu ethischen Rechten und Pflichten, sondern ergänzt unsere diesbezüglichen Überlegungen und Erwägungen um einen wesentlichen, ethisch werthaften Aspekt.
Sanftmut meint dann allerdings nicht nur wie bei Aristoteles[9] ein Gegengewicht gegen falschen oder überzogenen Jähzorn und Rachsucht, sondern auch gegen legitime Haltungen der Gerechtigkeit im engen Sinne. Sie meint das Aufgeben eigenen Rechts in Anbetracht und Achtung der menschlichen Fehlbarkeit. Im Verzeihen drückt sich dies beispielsweise im Aufgeben des (legitimen) Anspruchs auf Vorwürfe aus, in der Nachsicht im großzügigen Hinwegsehen über kleinere moralische Fehltritte, im Streben nach Frieden in der Bereitschaft, eigene legitime Positionen nicht mit allen Mitteln durchzusetzen, sondern einen Ausgleich zu suchen, ebenso auf individueller Ebene in der Versöhnung und im Kompromiss.[10] Aristoteles hat für ein Nachjustieren der Gerechtigkeit im Einzelfall den Begriff der Billigkeit (Epikie) geprägt.[11] Auch diese hat hier ihren Platz. Sie umfasst indes die anderen Fälle des Sanftmuts nicht, denn sie steht der Gerechtigkeit deutlich näher: Sie ist die Tugend des juristischen Ausgleichs in jenen Fällen, in denen allgemeine positive Gesetze ungerechte Einzelfälle hervorbringen. Auf sie hat man dementsprechend einen moralischen Anspruch. Das gilt für die anderen Formen der Sanftmut nicht in allen Fällen. Sie sind genau dadurch gekennzeichnet, dass sie in ihrem Kernbereich nicht einer Logik von Recht und Pflicht unterliegen, sondern zu dieser ein Gegengewicht bilden.
III. Veranschaulichung am Beispiel des Verzeihens
Schauen wir uns als Beispiel das Verzeihen näher an: Verzeihen bezeichnet das Überwinden oder Fallenlassen eines Vorwurfs an eine Person, obgleich deren Tat weiterhin für falsch und vorwerfbar erachtet wird.[12] Es ist also keine Rechtfertigung, Entschuldigung oder Duldung, sondern in ihm vereint sich die Überzeugung vom Unrechtsgehalt einer Tat mit dem Absehen von einem Vorwurf an die handelnde Person.
In seltenen Extremfällen mag ein solches Verzeihen tatsächlich geboten und einforderbar sein, vor allem dann, wenn die Handlung keinen Aussagegehalt mehr über die handelnde Person aufweist. Dann ähnelt das Verzeihen einem Ex-post-Entschuldigen. Der Tatvorwurf an die handelnde Person wird unvernünftig, zum Beispiel aufgrund von Reue und sehr langen Zeitabstands bei relativen Bagatellfällen. Man stelle sich etwa vor, dass man seiner Nachbarin, die sich mittlerweile zu einer vorbildlichen Nachbarin entwickelt hat, noch immer zum Vorwurf machte, dass sie vor 20 Jahren im Streit den Gartenzaun beschädigte. Doch im Normalfall ist Verzeihen nicht auf diese Art geboten und einforderbar. Es mag zwar durchaus in einem weiteren Sinne eine Pflicht zum Verzeihen geben, doch das ist dann entweder eine milde Pflicht[13] − das heißt eine Pflicht, der, obgleich sie im Einzelfall zu einer konkreten Handlung verpflichtet, kein Recht einer anderen Person korrespondiert, deren Einhaltung also nicht einforderbar ist − oder eine unvollkommene Pflicht[14], das heißt eine Pflicht, die keinem Recht korrespondiert und die zudem auch nicht im konkreten Einzelfall bzw. zu konkreten Einzelhandlungen verpflichtet, sondern Flexibilität in ihrer Erfüllung zulässt. Oder anders formuliert: Im Normalfall kann eine Täterin nicht ethisch gerechtfertigt einfordern, dass ihr verziehen wird (milde Pflicht) – und häufig ist man auch nicht dazu verpflichtet, konkrete Taten zu verzeihen, sondern lediglich dazu, im Leben eine grundsätzliche Verzeihensbereitschaft zu zeigen (unvollkommene Pflicht).[15] Schauen wir uns diese beiden Fälle einmal genau an:
Wenn das Zeihen bzw. Vorwerfen im konkreten Einzelfall mangelnde Einsicht in die Fehlbarkeit des Menschen und somit mangelnde Achtung für einen konkreten anderen Menschen zum Ausdruck bringt, kann eine Pflicht im Einzelfall bestehen. Einforderbar ist eine solche milde Pflicht indes nicht. Sie kann vorliegen, wenn die handelnde Person Reue gezeigt hat und hinreichend Anlass gibt, dass eine fortdauernde Zuschreibung der Tat an sie als Person zwar nicht vollkommen fehlerhaft, aber dennoch Ausdruck moralischer Hybris ist, beispielsweise wenn eine Person eine recht schwerwiegende politische Straftat begangen hat, sich aber glaubwürdig von der Ideologie distanziert und die Mitgliedschaft in entsprechenden Gruppen beendet sowie ernsthaft um Wiedergutmachung bemüht hat: Im Verweigern des Verzeihens drückt sich dann fundamental ein Mangel an Sanftmut und Einsicht in die eigene Fehlbarkeit aus. Einforderbar ist dies nicht, denn es war schließlich immer noch diese Person, die so gehandelt hat, aber es scheint dennoch moralisch geboten, ihre Wandlung anzuerkennen und vom Tatvorwurf abzusehen.
Eine unvollkommene Pflicht gilt hingegen nicht im Einzelfall. Hier zeigt sich die moralische Hybris erst in einem Verhaltensmuster: Wer nie oder nur sehr selten verzeiht, zeigt dadurch, selbst wenn die Einzelfälle nicht den Status einer vollkommenen oder milden Pflicht erreichen, ebenfalls mangelnde Einsicht in die Fehlbarkeit des Menschen und somit mangelnde Achtung für andere. Das spiegelt sich in unserem alltagsweltlichen moralischen Urteil, wenn wir jemandem vorwerfen, nachtragend zu sein.
Wir können also zwischen drei Stufen der Gebotenheit des Verzeihens unterscheiden: vollkommene Pflichten in den seltenen Fällen, in denen der Tatvorwurf an die Person nicht mehr gerechtfertigt ist, weil ihr die Tat nicht mehr sinnvoll zugeschrieben werden kann; milde Pflichten in Fällen, in denen eine fortdauernde Zuschreibung der Tat an die Täterin im konkreten Einzelfall zwar nicht vollkommen fehlerhaft ist, aber Ausdruck einer mangelnden Einsicht in die eigene Fehlbarkeit, sodass der konkrete Vorwurf fehlgeleitet ist; und schließlich unvollkommene Pflichten, das heißt eine grundsätzliche, allerdings nicht im Einzelfall verbindliche Pflicht, durch gelegentliches Verzeihen die Tugend der Sanftmut auszuüben.
Doch diese Pflichten, auch die unvollkommene Pflicht, gelten nur für Fälle, in denen das Verzeihen erlaubt und ethisch positiv ist. Das ist nur dort gegeben, wo ein Verzeihen die oben diskutierte Achtung zum Ausdruck bringt, in der das Verhältnis von Vernunftwesen und Sinnenwesen adäquat gewahrt bleibt. Menschen sind für ihre Taten verantwortlich und die Anerkennung menschlicher Fehlbarkeit darf dies nicht negieren. Wer vorschnell verzeiht, verletzt fundamentale Pflichten gegen sich selbst, weil die eigene Person nicht hinreichend in ihren moralischen Rechten geachtet wird[16], und potenziell drückt sich in einem solchen vorschnellen Verzeihen auch mangelnde Achtung für das Gegenüber aus, weil dessen Handlungen nicht ernst genommen werden. Es müssen demnach Indikatoren dafür vorliegen, dass die Tat nicht Ausdruck der Persönlichkeit der handelnden Person ist. Das können etwa Reue, Zeitablauf, eine geringe Schwere der Tat oder eine tiefere Kenntnis der Person sein. Ohne solche Indikatoren ist Verzeihen nicht nur nicht geboten, sondern sogar selbst moralisch pflichtwidrig.[17]
IV. Gerechtigkeit im engeren Sinne und Sanftmut als Säulen der Ethik
Hierin spiegelt sich genau das Verhältnis der zwei ethischen „Welten“ oder besser gesagt der zwei fundamentalen Säulen einer wohlverstandenen Ethik: Gerechtigkeit in einem engen Sinne als Ethik der (vollkommenen) Rechte und Pflichten und Sanftmut oder Milde als Gegengewicht in Anbetracht der menschlichen Fehlbarkeit. Für sich allein genommen wird jede dieser Säulen ethisch problematisch; die Gerechtigkeit im engen Sinne, weil sie die Menschen nicht als komplexe Wesen achtet und sich darin moralische Hybris und ein Verkennen der moralischen Erfahrung und des gemeinsamen menschlichen Schicksals der Fehlbarkeit ausdrückt, die Milde oder Sanftmut, weil sie alleine die Menschen – sich selbst und andere – nicht hinreichend als Vernunftwesen achtet und ernst nimmt. Das wurde am Beispiel des Verzeihens dargestellt, entsprechende Überlegungen ließen sich jedoch auch für alle anderen Fälle der Milde und Sanftmut entwickeln.
Gelingendes und wertvolles menschliches Zusammenleben basiert auf zwei fundamentalen ethischen Säulen: Rechten und Pflichten zwischen verantwortungsfähigen Vernunftwesen einerseits und andererseits der Fähigkeit, seine Rechte nicht immer einzufordern und umzusetzen, sondern die anderen Menschen auch als fehlbare Wesen zu achten und akzeptieren. Der richtige Ausgleich zwischen diesen beiden Prinzipien (Gerechtigkeit im engeren Sinne und Sanftmut) kennzeichnet die zentrale Aufgabe menschlicher Ethik und Tugend.
V. Eine Vertiefung: Verzeihen und Versöhnen
Verzeihen findet ausschließlich in asymmetrischen Verhältnissen statt: hier das Opfer, dort die Täterin. In der philosophischen Literatur zum Verzeihen wird zudem definitorisch gesetzt, dass Verzeihen sich auf tatsächliche moralische Rechtsverletzungen beziehe.[18] Doch damit wird ein interessanter und in der Realität ständig auftretender Fall ausgeblendet, der zugleich die notwendige Asymmetrie infrage stellt, nämlich der Fall eines fehlerhaften Zeihens – und Ver-Zeihens. Häufig ist das Zeihen, ist der Tatvorwurf schließlich gar nicht berechtigt. Das liegt daran, dass Menschen nicht nur moralisch, sondern auch epistemisch fehlbar sind. Wir erkennen nicht mit Sicherheit, was moralisch richtig und falsch ist. Daher werfen wir auch häufig etwas vor, das objektiv nicht vorwerfbar ist. Hieraus resultiert sowohl die Möglichkeit eines Verzeihens ohne tatsächliche vorherige Rechtsverletzung als auch die Möglichkeit eines gegenseitigen Vorwurfs, die in der ethischen Diskussion zum Verzeihen, soweit ersichtlich, nicht vorkommt.
Wenn wir einander gegenseitig etwas vorwerfen, ist das Verhältnis nicht mehr asymmetrisch. Statt klarer Opfer und Täterinnen gibt es vielmehr die sich widersprechende, aber wechselseitige Wahrnehmung, dass man selbst Opfer und das Gegenüber Täter ist. In diesen Situationen kommt der Versöhnung eine besondere Bedeutung zu. Versöhnung ist zwar auch in asymmetrischen Fällen möglich, und viele Standardbeispiele sind selbstredend asymmetrisch: So dienen etwa viele politische Versöhnungskommissionen der Aufarbeitung eines einseitigen Unrechts, etwa in Südafrika der Apartheid oder in Kanada der Unterdrückung der indigenen Bevölkerung. Doch es gab auch Versöhnungskommissionen nach politischen Konflikten und Kriegen, in denen beide bzw. alle Parteien sich im Recht wähnten, etwa in der Demokratischen Republik Kongo oder in Nordirland.
Selbst in asymmetrischen Konstellationen ist Versöhnung jedoch kein einseitiger Prozess wie das Verzeihen. Verzeihen kann man auch den Toten oder Menschen, die man nicht mehr trifft. Sich zu versöhnen ist hingegen eine gemeinschaftliche Handlung. Sie impliziert in einem gewissen, im Folgenden genauer zu bestimmenden Sinne ein Verzeihen, aber auch einen gemeinsamen Prozess, der es dem Opfer überhaupt erst ermöglicht zu verzeihen − der also die oben dargestellten Bedingungen des Verzeihens hervorbringen soll, das heißt Indikatoren dafür, dass die Tat nicht Ausdruck der Persönlichkeit der handelnden Person ist. Sich zu versöhnen setzt also ein beidseitiges Entgegenkommen voraus. Es ist oft vor allem dort angezeigt, wo Personen einander nicht dauerhaft meiden können, etwa in Familien oder in politischen Gemeinschaften.
Genau deshalb hat es häufig etwas Kompromisshaftes. Beide Seiten machen Zugeständnisse, um weiterhin oder wieder miteinander auszukommen. Dies gilt umso mehr für symmetrische Situationen, in denen man sich gegenseitig Vorwürfe macht. Hier kann der Versöhnungsprozess nur sehr schwer auf genuines und vollständiges Verzeihen oder dessen Bedingungen, etwa Reue, gerichtet sein. Das würde nur funktionieren, wenn eine Seite ihren Irrtum erkennt – und für eine moralisch legitime Versöhnung müsste dies natürlich die tatsächlich schuldige Seite sein, denn eine mittels Gaslighting oder anderer Manipulation hervorgebrachte Versöhnung hat moralisch keinen Wert.
Der häufigere Fall in symmetrischen Konstellationen ist, dass beide Seiten von dem Vorwurf absehen, das heißt einander verzeihen, obgleich sie beide weiterhin von der grundsätzlichen Vorwerfbarkeit überzeugt sind. Hier sind nun nicht die klassischen Bedingungen des Verzeihens wie Reue, Zeitablauf oder eine geringe Schwere der Tat ausschlaggebend für das Verzeihen, sondern vor allem eine tiefere Kenntnis der Person in Nähebeziehungen und der Wunsch nach einem friedvollen Zusammenleben. Die Kenntnis der anderen Person kann in der Tat, wie oben bereits erwähnt, ein legitimer Grund des Verzeihens sein, insofern sie den Schluss von der Tat auf die Täterpersönlichkeit infrage ziehen kann. Sie kann die Einsicht, dass die Handlung mehr Ausdruck allgemeiner menschlicher Fehlbarkeit als der konkreten Täterpersönlichkeit ist, leichter zugänglich machen. Gleichzeitig birgt eine solche vermeintliche Kenntnis, vor allem in emotionalen Beziehungen wie der von Frisch und Arendt zitierten Liebe, auch die Gefahr, dass vorschnell und fehlerhaft verziehen wird, weil man das Gegenüber besser zu kennen meint.
Besonders interessant ist aber auch der andere Grund des Verzeihens in symmetrischen Konstellationen der Versöhnung, also der Wunsch nach einem friedvollen Zusammenleben. Hier ersetzt ein Kompromiss das genuine Verzeihen. Man hat keine inhärenten Gründe zu verzeihen, aber man ist ernsthaft gewillt, jedenfalls nach außen keine Vorwürfe mehr zu erheben. Im Idealfall führt das dazu, dass auch innerlich der Tatvorwurf durch eine gemeinsame Zukunft, die andere Kenntnisse des Gegenübers erst ermöglicht, langsam zurückgedrängt wird und so einem genuinen Verzeihen Raum geschaffen wird. Voraussetzung für eine Versöhnung ist dies jedoch nicht.
Ein solches kompromisshaftes Versöhnen wird durch die bereits erörterte epistemische Fehlbarkeit des Menschen in seiner Legitimität bestärkt. Wenn wir wissen, dass unsere moralischen Urteile falsch sein können und dass die Möglichkeit besteht, dass unser Gegenüber mit seinen Vorwürfen an uns recht hat, liegt es nahe, nicht bedingungslos auf der eigenen Position zu beharren. Doch auch hier gibt es moralische Grenzen, die insbesondere mit dem Grad an Unsicherheit der eigenen Position, der Nachvollziehbarkeit der anderen Position und der Wahrscheinlichkeit zusammenhängt, dass das Gegenüber eine andere, bessere Persönlichkeit offenbaren könnte als durch die Tat indiziert.
[1] Jünger, Ernst (2013): In Stahlgewittern. Editorisch-kritische Ausgabe, hrsg. von Helmuth Kiesel. Stuttgart, S. 523. Für wertvolle Anmerkungen, die meine Gedanken zum Thema und den Text sehr bereichert haben, danke ich Marie-Luise Böttcher und Rüdiger Frank.
[2] Frisch, Max (1950): Tagebuch 1946–1949. Frankfurt am Main, S. 31.
[3] Arendt, Hannah (20233): Vita activa oder Vom tätigen Leben. München, § 33, S. 345–346.
[4] Kant, Immanuel (1903): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Gesammelte Schriften. Bd. 4. Berlin, S. 385–463, passim.
[5] Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970): Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Frankfurt am Main, § 100.
[6] Kodalle, Klaus-Michael (2013): Verzeihung denken. München, S. 161.
[7] Vgl. Gisbertz-Astolfi, Philipp (2024): Ethik des Krieges. Baden-Baden, S. 102–105.
[8] Kant, Immanuel (1907): Die Metaphysik der Sitten. In: Gesammelte Schriften. Bd. 6. Berlin, S. 405.
[9] Aristoteles (1956): Nikomachische Ethik. Übersetzt und erläutert von Franz Dirlmeier. Hamburg, 1125b26–1126b10.
[10] Zum Verhältnis von Kompromiss und Frieden vgl. etwa Margalit, Avishai (2009): On Compromise and Rotten Compromises. Princeton, NJ, S. 7–9; Wendt, Fabian (2016): Compromise, Peace and Public Justification, Basingstoke; ders. (2013): Peace beyond Compromise. In: Critical Review of International Social and Political Philosophy 16 (4), S. 573-593; Zanetti, Véronique (2022). Spielarten des Kompromisses. Berlin, S. 266–269. Vgl. auch Gisbertz-Astolfi, Philipp (2025): Pazifismus als Lehre des Friedenschaffens, nicht des bloßen Kriegablehnens. In: Zeitschrift für Ethik und Moralphilosophie 8, S. 3–25. doi.org/10.1007/s42048-025-00212-w.
[11] Aristoteles (1956), s. Endnote 9, 1137a31–1138a3.
[12] In der Literatur wird standardmäßig nicht von Vorwürfen, sondern von „resentment“ gesprochen, vgl. etwa Murphy, Jeffrie (1982): Forgiveness and Resentment. In: Midwest Studies in Philosophy 7, S. 503–516. Um die implizite Einschränkung auf emotionale Reaktionen des Vorwerfens zu vermeiden, wird hier allgemeiner von „Zeihen“ oder „Vorwerfen“ statt von „resentment“ gesprochen.
[13] Wildt, Andreas (2007): Milde Pflichten. Moralische Verpflichtungen ohne korrelative moralische Rechte anderer. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55 (1), S. 41–57.
[15] Vgl. Murphy, Jeffrie (1982), s. Endnote 12, S. 511.
[16] Vgl. etwa Murphy, Jeffrie (1982), s. Endnote 12, S. 505.
[17] In der Literatur wird gelegentlich noch die Möglichkeit eines erlaubten, jedoch supererogatorischen Verzeihens diskutiert, vor allem anhand eines realen Falles eines nordirischen Vaters, der, nachdem seine Tochter bei einem terroristischen Angriff ums Leben gekommen war, den Tätern wenige Stunden später bereits in einem Fernsehinterview vergab, ohne dabei ihre Schuld oder die Grausamkeit der Tat zu relativieren. Dieser Sonderfall kann hier nicht diskutiert werden. Vgl. zum Fall Gamlund, Espen (2010): Supererogatory Forgiveness. In: Inquiry 53 (6), S. 540-564, S. 546-557.
[18] Vgl. etwa Murphy, Jeffrie (1982), s. Endnote 12, S. 506; Koj, Nicolas (2024): Verstoß und Verzeihen. Paderborn, S. 49.
Philipp Gisbertz-Astolfi ist seit 2012 in Göttingen am Lehrstuhl für Rechts- und Sozialphilosophie tätig. Dort wurde er 2017 mit einer Arbeit zur Rechtsphilosophie der Menschenwürde zum Dr. iur. promoviert. Im gleichen Jahr wurde ihm der Young Scholar Prize der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie verliehen. Nach einem Forschungsaufenthalt in Oxford wurde er im Jahr 2024 mit einer Arbeit zur Philosophie des Krieges und Friedens zum Dr. phil. promoviert. Aktuell forscht er an einem Habilitationsvorhaben zur Philosophie des Verzeihens.