Kontroversen in Militärethik und Sicherheitspolitik
Barmherzigkeit als treibende Kraft der Versöhnung
Versöhnung lebt von starken Gesten. Und diese geschehen oft ungeplant, überraschend, spontan. So jedenfalls hat es Willy Brandt später über seinen Kniefall am 7.12.1970 vor dem Mahnmal zum Gedenken an den Aufstand im Warschauer Ghetto erzählt. Nicht der am selben Tag unterzeichnete Vertrag mit Polen wurde zum entscheidenden Moment der Versöhnung mit Deutschlands größtem östlichen Nachbarn, sondern der wortlose, erschütternde, alle Welt bewegende Kniefall. Ähnlich lässt sich jene andere, ebenfalls völlig überraschende Versöhnungsgeste mit dem größten westlichen Nachbarn Deutschlands einordnen: Helmut Kohl und François Mitterrand stehen am 22.9.1984 Hand in Hand vor den Kriegsgräbern von Verdun. Auch diese Geste war ungeplant, und es ist bis heute unklar, wer von den beiden die Hand des anderen ergriffen hat.
Versöhnung ist nicht planbar, nicht „machbar“. Natürlich müssen ihr die Wege bereitet werden, und das ist oft jahrelange mühevolle Arbeit. Aber der entscheidende Moment, in dem sich Versöhnung ereignet, wird von beiden Seiten als Geschenk erfahren, von den Vergebenden ebenso wie von jenen, denen vergeben wird[1]. Er steht nicht im Veranstaltungsprogramm, ist kein Tagesordnungspunkt. Diese phänomenologische Eigenart dürfte ein Grund sein, warum Vergebung und Versöhnung in der Geschichte der christlichen Theologie stets dem Bereich der Gnade zugeordnet wurden, und innerhalb dessen der Tugend der Barmherzigkeit[2].
Doch wie so oft in der Geistesgeschichte entstehen Probleme, wenn man einen einzelnen Aspekt zu stark heraushebt und andere übergeht. Denn in den Diskursen der Moderne wird die Barmherzigkeit massiv infrage gestellt. Die wichtigsten Anfragen an ihre Brauchbarkeitlauten:
Barmherzigkeit signalisiert ein immanentes Gefälle zwischen der vergebenden und der schuldigen, der helfenden und der notleidenden Person. Die barmherzige Person handelt „von oben herab“. Tendiert Vergebung dann nicht zur entwürdigenden Herablassung und ist ethisch verwerflich[3]?
Barmherzigkeit gilt als Recht und Gesetz übergeordnet. Sie scheint so etwas wie eine „höhere Gerechtigkeit“: „Gnade vor Recht“ fordert ein Sprichwort. Aber wenn dem so wäre, müssten Recht und Gesetz als unbarmherzig und damit letztlich als unmenschlich verstanden werden. Kann das wirklich so gemeint sein?
Verbunden damit verstehen viele Barmherzigkeit (und eben nicht nur Vergebung!) generell als „supererogatorisch“, das heißt übergebührlich. Barmherzigkeit, so die These, könne niemals verpflichtend sein. Pflichten gehörten vielmehr in den Bereich der Gerechtigkeit. Damit würde Gerechtigkeit jedoch so verstanden, dass sie keine Ermessenspielräume ließe. Wir wären bei einem ziemlich legalistischen, pedantischen Gerechtigkeitsverständnis angekommen.
Schließlich scheint es zur Barmherzigkeit zu gehören, dass sie sich in Zweierbeziehungenface to face abspielt. Sie scheint darauf zu verzichten, Strukturen zu verändern. Daher ist „eine durch Barmherzigkeit bestimmte Mitmenschlichkeit zunehmend dem Verdacht ausgesetzt, mit ihrer Spontaneität zufällig und im Blick auf die Gestaltung gesellschaftlicher Strukturen nicht tiefgreifend genug zu wirken“[4].
Im Folgenden werden diese Einwände einzeln behandelt und entkräftet. Dadurch entsteht ein neues Konzept, das die beiden Tugenden Barmherzigkeit und Gerechtigkeit näher zusammenrückt und die Praxis der Vergebung als eine freie Gabe beider ansieht.[5]
1) Barmherzigkeit „von oben herab“?
Wer Notleidenden hilft oder Schuldigen vergibt, befindet sich unbestreitbar in einer Machtposition. Ein Schwerverletzter, ein lebensbedrohlich Hungernder oder ein im kältesten Winter Obdachloser kann sich nicht selbst helfen – er ist angewiesen auf die Hilfe anderer. Und jemand, der schwere Schuld auf sich geladen hat, kann sich nicht selbst entschuldigen, sondern bedarf des vergebenden Wortes der Geschädigten. Das Machtgefälle zwischen der Barmherzigkeit schenkenden und der sie empfangenden Person lässt sich also nicht wegdiskutieren. Wohl aber lässt sich dieses Gefälle gedanklich neutralisieren, indem sich der oder die „Mächtige“ vorstellt, selbst in der Position des oder der Ohnmächtigen zu sein. So fordert schon Gregor der Große, die Demut (humilitas) müsse die Barmherzigkeit (pietas) begleiten, damit der Helfende gegenüber dem Armen nicht überheblich wird (Gregor der Große, Moralia 21, 19, 29). Überhaupt bräuchten die Tugenden alle einander – wo auch nur eine einzige fehle, würden die anderen beschädigt und seien keine wahrhaften Tugenden mehr (Gregor der Große, Moralia 22, 1, 2).
Für Gregor ist offensichtlich klar, dass das vorgeblich barmherzige Handeln „von oben herab“ erstens eine echte Gefahr darstellt und zweitens keine wirkliche Barmherzigkeit ist. Für diese ethische Bewertung braucht er keine moderne Vorstellung von Egalität im Rahmen der Menschenrechte. Es genügt ihm völlig, mit der christlichen Botschaft der Liebe und mit der Goldenen Regel ernst zu machen, die Jesus in der Bergpredigt als das Maß aller Ethik grundlegt (Mt 7,12). Denn jeder und jede Helfende kann in eine Situation kommen, wo er oder sie auf die Hilfe und Barmherzigkeit anderer angewiesen ist.
Selbstverständlich ist die Frage des verantwortlichen Umgangs mit dem faktischen Machtgefälle auch eine Frage internationaler Politik. Wenn die Siegerstaaten nach einem Krieg dauerhaft stabile Verhältnisse anstreben, werden sie den besiegten Ländern auf die Beine helfen müssen. Und sofern die besiegten Staaten die Aggressoren waren, sollten die Sieger ihnen, wenn sie darum bitten, auch Vergebung gewähren. Im Idealfall lassen sie sich dabei ihre Machtposition nicht anmerken, sondern handeln mit größtmöglichem Respekt vor den Besiegten. Das ist einerseits eine Frage politischer Klugheit, denn eine nochmalige Demütigung der ohnehin schon am Boden liegenden Nationen würde nur den Keim für einen nächsten Krieg legen. Es ist aber vor allem eine moralische Frage: Auch eine Nation, die schwere Schuld auf sich geladen hat, verliert nicht das Recht darauf, mit Respekt behandelt zu werden. Ein Staat kann die Vergebungsbitte des vormaligen Aggressors (vorläufig) ablehnen. Er darf aber nicht in einer Weise vergeben, indem er seine scheinbare moralische Überlegenheit ausspielt.
2) Barmherzigkeit über der Gerechtigkeit?
Die bis heute sowohl im Volksmund als auch in der Theologie gängige Zuordnung von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit ist eine der Überbietung. „Gnade vor Recht“ ist eine oft verwendete und kaum hinterfragte populärwissenschaftliche Formel. Und nach klassischer Auffassung der Theologie „überbietet die Bibel den Schrei nach Gerechtigkeit mit dem Ruf nach Barmherzigkeit“[6]. Daher gelte: „Die Barmherzigkeit ist die vollkommenste Verwirklichung der Gerechtigkeit.“[7]
Nun ist das biblische Zeugnis keineswegs so eindeutig wie hier behauptet. Die klassische Überordnung der Barmherzigkeit ist in Wirklichkeit der Architektur der Tugendethik des Thomas von Aquin geschuldet. Barmherzigkeit ist in dieser Ordnung als Ausdruck der Liebe eine göttliche Tugend (Thomas von Aquin, summa theologiae II-II q 30), Gerechtigkeit hingegen „nur“ eine Kardinaltugend (Thomas von Aquin, summa theologiae II-II q 47). Thomas versucht, die Tugenden nach dem Schema Gregors des Großen zu ordnen, das dafür eigentlich nicht gedacht war und demzufolge überstrapaziert wird. Gregors an sich geniale Idee war es zu betonen, dass die philosophischen Tugenden wie die Gerechtigkeit von der göttlichen Gabe der Gnade durchdrungen werden müssten, dass also jede Tugend über ihre nüchtern-vernünftige Struktur als goldene Mitte hinaus im Innersten von Vertrauen (Glauben), Großherzigkeit (Hoffnung) und Hingabe (Liebe) getragen sein muss. Das gilt für die Barmherzigkeit ebenso wie für die Gerechtigkeit. Daher plädiere ich dafür, das Tugendschema des Thomas zu verlassen und das hierarchische Denken einer Überordnung der Barmherzigkeit über die Gerechtigkeit aufzugeben.
Damit vertrete ich wie die meisten Ethikerinnen und Ethiker eine inklusivistische Tugendtheorie: Wenn die eine Tugend verwirklicht ist, dann auch die anderen. Wenn die eine Tugend nicht verwirklicht ist, dann auch die anderen nicht. Denn die Gerechtigkeit ist mitnichten das rationalere Sozialprinzip oder die rationalere Tugend als die Barmherzigkeit. Beide speisen sich gleichermaßen aus Denken und Fühlen. Das können wir aktuell daran sehen, wie um die Höhe der Entschädigungszahlungen für Opfer sexuellen Missbrauchs gerungen wird. Manche argumentieren mit vielen guten Gründen für Summen im fünfstelligen Bereich, wie sie bis vor wenigen Jahren üblich waren, manche plädieren mit ebenso guten Gründen für Summen im sechsstelligen Bereich, und es gäbe sogar Gründe für Zahlungen im siebenstelligen Bereich. Was letztendlich von den Gerichten und der Allgemeinheit als angemessen „empfunden“ (!) wird, ist keine Frage rationaler Kalküle, sondern höchst emotionaler Prozesse der Empathie mit allen (!) Beteiligten – auch mit den Täterinnen und Tätern. Tugenden wie Sozialprinzipien lassen sich also nie ohne eine gehörige Portion an Emotionalität (und damit auch Subjektivität) konkretisieren.
Was aber meint dann das tief verwurzelte Sprichwort „Gnade vor Recht“? Im Kontext egalitärer Gesellschaften kann es jedenfalls keinen Willkürakt eines autokratischen Herrschers meinen, der manche Schuldige bei Belieben „begnadigt“ – wenn es das auch in manchen demokratischen Staaten noch als vordemokratisches Überbleibsel gibt. Aber auch frühere Jahrhunderte intendierten mit dem Sprichwort meist etwas anderes, nämlich das, was die Ethik mit dem Begriff der Epikie bezeichnet. Epikie, lateinisch aequitas, deutsch Billigkeit, bezeichnet den festen Willen, dem Geist eines Gesetzes zu folgen und nicht dem Buchstaben. Dahinter steht die Einsicht, dass eine Einzelsituation anders sein kann als der Normfall, den ein Gebot regeln möchte. Dass Jesus am Sabbat Kranke heilt, ist für ihn keine Gnade, die vor Recht geht – und damit auch nicht Ausdruck einer sich über das Gesetz stellenden Willkür –, sondern eine Konsequenz des richtig ausgelegten Sabbatgebots, das „für den Menschen da ist“ (Mk 2,27), also ein rechtmäßiger Akt. Die Epikie ist Teil der Gerechtigkeit, nicht der Barmherzigkeit (Thomas von Aquin, summa theologiae II-II q 120). Gerichte sind daher verpflichtet, alle Umstände eines Geschehens zu würdigen und nach dem Sinn, nicht nach dem Buchstaben des Gesetzes zu urteilen. Dass es in der Theologiegeschichte mitunter zu einer falschen Zuordnung der Epikie kam, hat womöglich mit dem Matthäus-Evangelium zu tun, das an zwei Stellen ein Handeln im Sinne der Epikie als „Barmherzigkeit“ bezeichnet (Mt 12,7; 23,23). Der Evangelist war eben kein Moraltheologe.
3) Barmherzigkeit als übergebührlich?
Ist Barmherzigkeit prinzipiell supererogatorisch, betrifft also freiwillige, über Gebühr gehende Hilfeleistungen? Und gehören umgekehrt alle Pflichten im engeren Sinn zum Bereich der Gerechtigkeit? Diese Unterscheidung, die die Moraltheologie von Thomas von Aquin bis in die Gegenwart geprägt hat, geht so einfach nicht auf. Im Neuen Testament gibt es Werke der Barmherzigkeit, die wir als verpflichtend einordnen müssen, wie die Nothilfe, die der barmherzige Samariter dem unter die Räuber Gefallenen leistet (Lk 10); und Werke der Gerechtigkeit, die weit über die Pflicht hinausgehen, zum Beispiel das Besuchen Kranker oder Gefangener, die sich ja bereits in einer für sie sorgenden Umgebung befinden (Mt 25). Andererseits gibt es Werke der Barmherzigkeit, die nicht verpflichtend sind, wie das Vergeben von Schuld (Lk 15), und Werke der Gerechtigkeit, die verpflichtend sind, wie das Versorgen Hungernder mit Essen und Dürstender mit Trinken (Mt 25).
Wir sollten also die Frage der Übergebührlichkeit nicht an eine der beiden Tugenden, Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit, binden, sondern an konkrete Handlungen. Denn nur Handlungen können verpflichtend oder freiwillig sein. Dass der räumlich betrachtet Nächste im Notfall erste Hilfe leistet, ist verpflichtend. Dass der durch eine schuldhafte Handlung Geschädigte die Vergebungsbitte des Täters erfüllt, ist freiwillig.
4) Barmherzigkeit und Gerechtigkeit als zwei Seiten einer Medaille
Aus diesem Grund mache ich nun folgenden Vorschlag:Ich verstehe Barmherzigkeit und Gerechtigkeit als zwei gleichrangige personprägende Tugenden bzw. strukturprägende Prinzipien, die beide sowohl verpflichtende als auch übergebührliche Handlungen bestimmen können. Vergebung und Versöhnung verstehe ich hingegen als konkrete Handlungen (und nicht als Tugenden), die unter bestimmten Bedingungen sowohl barmherzig als auch gerecht sind, aber keineswegs verpflichtend, sondern stets eine freie Gabe der Person, die vergibt oder sich versöhnt. Diesen Vorschlag will ich im Folgenden entfalten und begründen.
Versuchen wir zunächst eine exakte Definition der Barmherzigkeit:
Barmherzigkeit ist der feste Wille, sich gedanklich und emotional in die Hilfs- oder Vergebungsbedürftigkeit eines anderen Geschöpfs hineinzuversetzen und ihm individuell, aber auch strukturell zu helfen bzw. zu vergeben, wo es nötig und möglich ist.
Wenn dem die etablierte Definition der Gerechtigkeit zur Seite gestellt wird, wird schnell ersichtlich, wie sich die beiden Tugenden zueinander verhalten:
Gerechtigkeit ist der beständige Wille, im Rahmen der Möglichkeiten individuell, aber auch strukturell jedem das SeineB zu geben und von jedem das SeineF zu verlangen, auch im Kontext von Vergebung und Versöhnung[8].
Die Gerechtigkeit sieht das größere Ganze, den Gesamtzusammenhang, die Bedürftigen und die Fähigen sowie beider (!) Bedürfnisse (hier als „das SeineB“ bezeichnet) und Fähigkeiten (hier als „das SeineF“ bezeichnet). Barmherzigkeit hingegen konzentriert sich ganz auf die Bedürftigen und ihre Bedürfnisse. Die Gerechtigkeit braucht die Barmherzigkeit, denn „das SeineB“ lässt sich nur in Barmherzigkeit erkennen. Barmherzigkeit ist also ein konstitutioneller Teil der Gerechtigkeit. Zugleich ist sie deren wichtigster Prüfstein. Denn sie garantiert die Einlösung der vorrangigen Option für die „Armen“, also die (Hilfs- oder Vergebungs-)Bedürftigen, die der Gerechtigkeit inhärent ist, aber in der alltäglichen, meist auf Fähigkeiten orientierten Interpretation derselben leicht aus dem Blick gerät.
Wir können auch sagen: Barmherzigkeit schaut vor allem auf jene Asymmetrien, die zwischen „Normalmenschen“ und Bedürftigen bestehen, und versucht diese zu überwinden, indem sie die Bedürftigen durch tätige Hilfe oder durch aktive Vergebung emporhebt. Gerechtigkeit hingegen schaut auf alle Asymmetrien, die zwischen „Normalmenschen“ und Bedürftigen, aber auch die zwischen mehreren „Normalmenschen“ und die zwischen Mächtigen oder Reichen. Die Überwindung von Asymmetrien versucht sie nach zwei Richtungen voranzutreiben. Damit greift sie weiter aus als die Barmherzigkeit, muss jedoch stets darauf achten, dass sie die Bedürftigen nicht aus dem Blick verliert.
5) Barmherzigkeit als Teil des Rechts
Mit diesen Überlegungen wird offenkundig, dass es ein Trugschluss ist, Barmherzigkeit sei vorwiegend oder ausschließlich individualethisch und Gerechtigkeit vorwiegend oder ausschließlich strukturethisch zu verstehen. Barmherzigkeit muss sich ebenso in (Rechts-) Strukturen übersetzen wie Gerechtigkeit[9]. Und faktisch geschieht das in verschiedensten Bereichen der Gesellschaft – allen eingangs gemachten Beobachtungen zum Trotz, dass die moderne Gesellschaft mehr nach Gerechtigkeit als nach Barmherzigkeit strebt. Einige wenige Beispiele seien genannt:
Das Strafrecht moderner Demokratien, wie es in den Reformen der 1970er-Jahre etabliert wurde, ist zumindest in der Theorie der Versuch einer barmherzigen Gerechtigkeit. Sein Ziel ist die Resozialisierung der Täterinnen und Täter, auch im Falle schlimmster Schuld. „Lebenslängliche Haft“ darf nicht lebenslänglich sein, auch wenn das populistisch oft gefordert wird. Vielmehr gehört es zum humanen Strafvollzug, dass jeder und jede Gefangene eine realistische Perspektive hat, das Gefängnis zu Lebzeiten wieder verlassen zu können.
Undifferenzierte Straflosigkeit ist unbarmherzig. Das muss derzeit wohl niemand mehr lernen als die Kirche selbst: „Der weitgehende Ausfall von Kirchendisziplin ist […] ein Missverständnis dessen, was Barmherzigkeit […] meint.“[10] Priester, die Kinder oder Jugendliche sexuell missbraucht haben, einfach in eine andere Gemeinde zu versetzen, ist aufs höchste unbarmherzig gegenüber den Opfern, hilft aber auch nicht den Tätern.
Barmherzigkeit bedeutet auch Sorge um die Opfer. Das ist ein weiterer blinder Fleck kirchlicher Praxis: In der Beichte, bei sexuellem Missbrauch, in der Gefangenenseelsorge usw. schaut Kirche einseitig auf die Täterinnen und Täter. Das ist ungerecht und unbarmherzig. Dasselbe ist im weltlichen Strafrecht zu beobachten: Erst seit den 1970er-Jahren, mit der Gründung des Weißen Rings, haben die Opfer von Verbrechen größere Beachtung gefunden.
Auch für unverschuldete Not kennt der moderne Staat Strukturen der Barmherzigkeit: Es gibt ein Recht auf Mindestlohn, ein Recht auf soziale Mindestsicherung, ein Recht auf Insolvenz und Schuldenschnitt und vieles mehr – wie schon im Alten Testament. Gerechtigkeit kann sehr barmherzig sein.
Magdalene Frettlöh betont in diesem Sinne, dass Vergebung das Recht nicht ersetzt oder überwindet, sondern ein inneres Moment des Rechts ist. Vergebung ist nicht „Gnade vor Recht“ oder „Gnade statt Recht“, sondern „Gnade im Recht“[11]. Auf einer abstrakteren Ebene könnten wir auch sagen: Vergebung ist nicht Barmherzigkeit vor Gerechtigkeit oder Barmherzigkeit statt Gerechtigkeit, sondern Barmherzigkeit in und durch Gerechtigkeit.
6) Vergebung als freie Gabe von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit
Wir haben gesehen, wie wichtig es ist, zwischen der Haltung der Barmherzigkeit und der Handlung der Vergebung zu unterscheiden. Vergebung bedeutet das vollständige Weggeben allen berechtigten Zorns und aller Vorbehalte gegenüber der schuldigen Person. Sie ist eine Konsequenz sowohl der Gerechtigkeit (vgl. Mt 1,19) als auch der Barmherzigkeit. Barmherzigkeit ihrerseits ist wie oben definiert der feste Wille, sich gedanklich und emotional in die Hilfsbedürftigkeit des Gegenübers hineinzuversetzen und ihm individuell, aber auch strukturell zu helfen, konkret also zu vergeben, wo es nötig und möglich ist.Barmherzigkeit und Gerechtigkeit gemeinsam bilden die Grundlage echter Vergebung.
Ist Vergebung einforderbar? Eindeutig nicht[12]. Aber warum nicht? Das lässt sich aus verschiedenen Blickwinkeln begründen:
Von dem Täter/der Täterin her: Weil der Schuldige andere geschädigt hat und weil vor allem der psychische Schaden nie völlig ungeschehen gemacht werden kann, kann die Schuld nicht vollständig „abgegolten“ werden. Ein Recht bzw. ein Anspruch auf Vergebung könnte jedoch nur bestehen, wenn wirklich alle Folgen der schuldhaften Tat gutgemacht sind. Da dieser Fall nicht eintreten kann, gibt es keinen Anspruch auf Vergebung.
Von dem/der Geschädigten her: Weil Vergebung nur möglich ist, wenn die vergebende Person ein erhebliches Maß an innerer Heilung und Befreiung erfahren hat, diese Heilung aber nicht „gemacht“ oder erzwungen werden kann. Barmherzigkeit als eine „natürliche“ Voraussetzung der Vergebung kann geübt, erworben, „gemacht“ werden. Mitgefühl können wir (in einem gewissen Maß) lernen. Vergebung jedoch setzt über das Mitgefühl mit der schuldigen Person hinaus Prozesse der eigenen Heilung voraus, die nicht erlernbar sind, sondern die wir (über die Teilnahme an Therapien und Hilfsangeboten hinaus) nur an uns geschehen lassen können.
Systemisch von der Gesellschaft her gedacht: Eine Verpflichtung oder ein starker Erwartungsdruck zur Vergebung würde der geschädigten Person oder der geschädigten Bevölkerung(-sgruppe) eine weitere Last auferlegen, anstatt sie zu entlasten. Das wäre ungerecht und absurd[13]! Nein, der „Schwarze Peter“ muss auf jeden Fall in der Hand der schuldigen Person oder Partei verbleiben. Er darf nicht unter der Hand die Seite wechseln.
7) Barmherzigkeit als treibende Kraft der Versöhnung
Vergebung ist also, wo sie geschieht, „ein Geschenk des Himmels“, eine Gabe. Genau hier setzen die politologischen Überlegungen Daniel Philpotts[14] an. Er sieht Versöhnung zwischen gesellschaftlichen Gruppen oder Nationen als ein Konzept der Gerechtigkeit an, das von der Barmherzigkeit angetrieben wird. Allerdings sieht Philpott in den gegenwärtigen Debatten zwei Gerechtigkeitskonzepte unterschiedlicher Weite: Das erste ist die Vorstellung einer Gerechtigkeit im liberalen Frieden. In diesem Konzept geschieht die Vergangenheitsbewältigung mehr oder weniger ausschließlich über die juristische Aufarbeitung, also über (Straf-)Gerichte. Dadurch können jedoch die Wunden einer Diktatur oder eines Bürgerkriegs nicht geheilt werden. Deswegen plädiert Philpott für das zweite, weiter gefasste Gerechtigkeitskonzept, das Gerechtigkeit in eine Ethik politischer Versöhnung einbettet. Diese adressiert die Verwundungen der betroffenen Personen und strebt deren Heilung an. Sie schließt die Berücksichtigung der Menschenrechte und das Verständnis des liberalen Friedens ein, geht aber darüber hinaus. In diesem erweiterten Gerechtigkeitskonzept sieht Philpott einen Ansatz, der vorwiegend von den Religionen angeboten wird. Barmherzigkeit ist in diesem Modell der Gerechtigkeit die Tugend, die zur Versöhnung animiert.
Im Großen und Ganzen halte ich Philpotts Modell für richtig. Versöhnung braucht mehr als nur die Wiederherstellung eines gerechten Zustands, so wichtig diese ist. Versöhnung braucht mehr als staatliche Regelungen, die für die Bestrafung der Täter*innen und die Entschädigung der Opfer sorgen. Sie braucht eine Aufarbeitung auf vielen Ebenen: historisch, indem das ganze Grauen an den Tag kommt, auch jenes, das von bereits Verstorbenen verursacht wurde. Ethisch, indem das Unrecht in seiner ganzen Tiefe analysiert wird. Psychologisch, indem Prozesse der Heilung begleitet und gefördert werden. Sozialpädagogisch, indem ein Kommunikationsraum eröffnet wird, in dem versöhnungsbereite Täter*innen und Opfer geschützt miteinander ins Gespräch kommen. Rituell und im weiten Sinne religiös, indem eine Erinnerungskultur mit Symbolen und Gedenkfeiern etabliert wird.
Auf manchen dieser Ebenen können die verfassten Religionen eine Hilfe sein, wie es Philpott betont. In jedem Fall aber braucht es gesellschaftliche Bewegungen, die wir nicht „machen“ können, sondern für die wir uns nur öffnen und bereithalten können. Letztlich braucht es eine von innen heraus wachsende Kultur der Versöhnung, eine Kultur, von der Ernst-Wolfgang Böckenförde einmal gesagt hat, dass sie der Staat braucht, aber nicht selbst herstellen kann:
„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“[15]
Jahrzehnte später verdeutlicht Böckenförde sein mittlerweile berühmtes Zitat so: „Vom Staat her gedacht, braucht die freiheitliche Ordnung ein verbindendes Ethos, eine Art ‚Gemeinsinn‘ bei denen, die in diesem Staat leben. Die Frage ist dann: Woraus speist sich dieses Ethos, das vom Staat weder erzwungen noch hoheitlich durchgesetzt werden kann? Man kann sagen: zunächst von der gelebten Kultur. Aber was sind die Faktoren und Elemente dieser Kultur? Da sind wir dann in der Tat bei Quellen wie Christentum, Aufklärung und Humanismus. Aber nicht automatisch bei jeder Religion.“[16]
Versöhnung ist kein geplanter Punkt einer Tagesordnung, wie ich eingangs an den Beispielen des Kniefalls von Willy Brandt am Denkmal des Warschauer Ghettos 1970 und des Händereichens von Helmut Kohl und François Mitterrand vor den Kriegsgräbern von Verdun 1984 verdeutlicht habe. Sie muss von innen heraus wachsen, tief verwurzelt in einer Kultur der Barmherzigkeit. Nur auf diesem Weg kann die Barmherzigkeit zur Treiberin der Versöhnung werden. Dann aber können „Wunder“ geschehen.
[1] An diesem Satz wird indirekt deutlich, wie ich Versöhnung und Vergebung miteinander in Beziehung setze: Vergebung ist ein einseitiger Akt dessen, der vergibt, gegenüber dem, der um Vergebung bittet. Versöhnung ist das beiderseitige Wieder-aufeinander-Zugehen der vormaligen Konfliktparteien. Es setzt Vergebung voraus, erschöpft sich aber nicht in ihr.
[2] Ein weiterer Grund, vermutlich der frühere, ist in Jesu Gleichnis vom barmherzigen Vater (Lk 15) zu sehen.
[3] Sautermeister, Jochen (2014): Das Gegenteil von Barmherzigkeit. Ein theologisch-ethischer Blick auf das Phänomen Skandalisierung. In: Herder Korrespondenz 68, S. 187−192, S. 190.
[4] Bayer, Oswald (1998): Barmherzigkeit. IV. Dogmatisch-ethisch. In: Religion in Geschichte und Gegenwart 1, S. 1119−1120, S. 1119.
[5] Siehe zum Folgenden auch Rosenberger, Michael (2019): Frei zu vergeben. Moraltheologische Überlegungen zu Schuld und Versöhnung. Münster, S. 127−138.
[6] Kasper, Walter (2012): Barmherzigkeit. Grundbegriff des Evangeliums – Schlüssel christlichen Lebens. Freiburg i. Br., Wien u. a., S. 27.
[8] Aus den beiden Definitionen wird deutlich: Was individuell als eine persönliche „Tugend“ bezeichnet wird, ist in Strukturen gegossen ein „sozialethisches Prinzip“. Die Tugend der natürlichen Personen und das Strukturprinzip der juristischen Personen = Institutionen entsprechen einander.
[11] Frettlöh, Magdalene (2014): Leben aus der Hoffnung auf die Zurechtbringung aller. Notizen zu Schuld und Vergebung, Sühne und Strafvollzug in eschatologischer Perspektive. In: Evangelische Theologie 74, S. 364–379, S. 370.
[13] Wolbert, Werner (2013): Vergebungen – Zum christlichen Umgang mit Unrecht. In: Salzburger theologische Zeitschrift 17, S. 152–172, S. 156–157.
[14] Vgl. zum folgenden Abschnitt Philpott, Daniel (2009): An Ethic of Political Reconciliation. In: Ethics & International Affairs 23, S. 389−407 sowie ausführlicher ders. (2012): Just and Unjust Peace. An Ethic of Political Reconciliation. Oxford.
[15] Böckenförde, Ernst-Wolfgang (1976): Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht. Frankfurt/Main, S. 60.
[16] Böckenförde, Ernst-Wolfgang (2010): Freiheit ist ansteckend. In: Frankfurter Rundschau, 2.11., S. 32−33.
Prof. Dr. Michael Rosenberger, geboren 1962, studierte Theologie in Würzburg und Rom und wurde 1987 in Rom zum Priester geweiht. Seit 2002 hat er den Lehrstuhl für Moraltheologie an der Katholischen Privatuniversität Linz inne. Er ist unter anderem Erster Vorsitzender der Internationalen Vereinigung für Moraltheologie und Sozialethik und hat umfangreich zu Moraltheologie, Tier- und Schöpfungsethik und Spiritualität veröffentlicht.