Barmherzigkeit als treibende Kraft der Versöhnung
Versöhnung geschieht oft spontan, sie ist weder planbar noch herstellbar. Aufgrund dieser phänomenologischen Eigenart wurde sie zusammen mit Vergebung in der christlichen Theologie stets dem Bereich der Gnade und innerhalb dessen der Tugend der Barmherzigkeit zugeordnet. Letztere sieht sich in der Moderne jedoch massiven Anfragen ausgesetzt: Sie konsolidiere ein Machtgefälle, statt es aufzuheben; sie erhebe sich über das Recht; sie könne niemals verpflichtend sein; zudem sei sie ungeeignet, strukturelle Veränderungen zu bewirken. Diese Einwände können unter Rückgriff auf biblische Quellen, mit einer moraltheologischen Analyse und vom Standpunkt einer inklusivistischen Tugendtheorie jedoch entkräftet werden. Auf dieser Grundlage lassen sich Barmherzigkeit und Gerechtigkeit nicht nur als „zwei Seiten einer Medaille“ verstehen, sondern auch als persönliche Tugenden und zugleich als sozialethische Prinzipien. Barmherzigkeit als besondere Zuwendung zu den Hilfs- und Vergebungsbedürftigen muss sich damit ebenso in (Rechts-)Strukturen übersetzen wie Gerechtigkeit; Beispiele aus dem modernen Rechtsstaat illustrieren dies.
Vergebung als Voraussetzung von Versöhnung wiederum ist eine freie und spontane Handlungauf der Grundlage von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit als Haltungen. Sie kann niemals eingefordert werden. In diesem Sinne ist jedoch Überlegungen zuzustimmen, die der Barmherzigkeit eine tragende Rolle in einer Ethik politischer Versöhnung zuschreiben und das Konzept des liberalen Friedens, das vorrangig auf (straf-)rechtliche Aufarbeitung und die Wahrung von Menschenrechten setzt, erweitern sollen. Die verfassten Religionen können im Rahmen einer solchen Ethik und umfassender Aufarbeitungsprozesse eine Hilfe sein; der Geist der Versöhnung kann jedoch nur von innen heraus wachsen.
Originalartikel