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Versöhnung - Placebo, Sedativum oder bittere Medizin? Über den ambivalenten Umgang mit gewaltbelasteter Vergangenheit

Von Jörg Lüer

Gewalterfahrungen gehen tief an den menschlichen Kern und können generationenübergreifende Erschütterungen auslösen. Wie die deutschen Bischöfe im jüngsten Friedenswort betonen, muss sich Versöhnung daher der tieferen Auseinandersetzung mit der Gewalt und ihren Folgen stellen. Gewalterfahrung ist die Erfahrung extremer Schutzlosigkeit und Verletzlichkeit des menschlichen Lebens. Übersehen wird allerdings häufig, dass nicht nur Opfer, sondern auch Täter und Zuschauende eine Gewalterfahrung machen, die jeweils spezifische Wunden und Spuren hinterlässt. Gewalt und ihre Folgen erzeugen eine vielschichtige Realität, die sich einer Einteilung in Schwarz und Weiß entzieht; zudem beschädigen oder zerstören sie soziale Beziehungen und Identitäten. Der durch die Gewalterfahrung ausgelöste existenzielle Schock macht eine Antwort und Deutung buchstäblich überlebenswichtig. Für Heilungs- und Versöhnungsprozesse ist es nicht nur von großer Bedeutung zu verstehen, wie die jeweiligen Deutungsmuster zustande kommen und entlang welcher Fragen und Erfahrungen sie sich entwickeln, sondern auch behutsam Sprechfähigkeiten und Gesprächsbereitschaften zu entwickeln. 

Die hier dargestellte Problemmatrix beschreibt die wesentlichen Felder und Herausforderungen das Umgangs mit gewaltbelasteter Vergangenheit, um nicht der Gefahr einer oberflächlichen politischen Stabilisierung zu erliegen. Ihre (vielfach) miteinander verbundenen Teilbereiche 1. Solidarität mit den Opfern, 2. Differenzierte Auseinandersetzung mit den Tätern, 3. Umgang mit persönlicher Verantwortung und Schuld sowie 4. Auseinandersetzung mit den systemischen Zusammenhängen der Gewalt sind in den Blick zu nehmen und auf verschiedenen Ebenen angemessen zu bearbeiten. Ein solcher Prozess hat großes Heilungspotenzial, benötigt jedoch in erster Linie Respekt vor dem Leid der Opfer bzw. der „Anderen“ sowie eine Haltung tätiger Geduld.

Originalartikel