Kontroversen in Militärethik und Sicherheitspolitik
Führung in multinationalen militärischen Organisationen am Beispiel Supreme Headquarters Allied Powers Europe (SHAPE)
Für alle Bereiche des modernen Arbeitslebens, ob in Unternehmen, öffentlichen Verwaltungen oder militärischen Verbänden, scheint Einigkeit zu herrschen, dass der Führungsstil von Vorgesetzten nicht nur das Arbeitsverhalten und die Motivation von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beeinflusst, sondern sich auch indirekt auf die Effektivität und die Effizienz der gesamten Organisation auswirkt. Ein Großteil der internationalen Führungsforschung untersucht dabei insbesondere den Grad der Einbindung von Geführten durch Führungskräfte bei Entscheidungsprozessen. Über was entschieden wird – z.B. über betriebliche Abläufe, Stellenbesetzungen oder die zukünftige strategische Marktausrichtung –, ist dabei erst einmal nicht von Bedeutung. In der Bundeswehr existiert eine klare Vorschriftenlage, welchen Umfang die Entscheidungspartizipation haben soll. Die Zentrale Dienstvorschrift (ZDv) für die Führungsphilosophie der Bundeswehr, die Innere Führung, fordert den militärischen Führer unmissverständlich auf: „Ich führe partnerschaftlich. Ich nutze die Fähigkeiten und Fertigkeiten meiner Soldatinnen und Soldaten und beteilige sie wann immer möglich an meiner Entscheidungsfindung.“ (ZDv A-2600/1, S. 27). Im Folgenden werden einige Ergebnisse aus der Erforschung von Führungsstilen an einem spezifischen Organisationstypus, dem multinationalen militärischen Hauptquartier, präsentiert und diskutiert. Sie lassen sich zum Teil auf Führung in militärischen Organisationen im Allgemeinen übertragen.
Führungsstilforschung
In der wissenschaftlichen Literatur über Führung wird der Grad der Beteiligung an Entscheidungsprozessen oft in einem Kontinuum von eher direktiven bis eher partizipativen Führungsstilen gedacht.1 Dabei geht man davon aus, dass Führungskräfte einen bestimmten (individuellen) Führungsstil pflegen. Für eine sozialwissenschaftliche Untersuchung von Führungsstilen hat sich eine Vierer-Typologie als zweckdienlich erwiesen, die vielen Fragebogenstudien zugrunde liegt: autoritärer, paternalistischer, partizipativer und demokratischer Führungsstil. Fällt eine Führungskraft Entscheidungen schnell, kommuniziert diese unmissverständlich und ohne Umschweife an ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen und erwartet dann, dass die Anweisungen loyal und ohne Kritik umgesetzt werden, spricht man von einem autoritären Führungsstil. Fällt die Führungskraft Entscheidungen in der Regel zwar alleine, versucht sie aber das Rational ihrer Entscheidung zu erläutern und antwortet sie auf Nachfragen ihrer Untergebenen, dann würde man sie als paternalistisch bezeichnen. Entscheidungspartizipation setzt ein, wenn die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen konsultiert und Pros und Kontras gemeinsam abgewogen werden, bevor eine Entscheidung abschließend von der Führungskraft gefällt wird. Der demokratische Führungsstil setzt grundsätzlich eine Besprechung mit dem Team voraus, in der Argumente ausgetauscht werden und letztlich die Mehrheitsmeinung die verbindliche Basis für die Entscheidungsfindung ist. Im vierten Führungsstil spielt der bzw. die Vorgesetzte also eher die Rolle eines Moderators bzw. einer Moderatorin.
Forschungsstand zu multinationalen militärischen Organisationen
Welcher dieser vier Führungsstile wird von den Geführten bevorzugt und welche Wirkungen hat Führungsstil überhaupt? In den letzten Jahren wurden am ehemaligen Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr (bis 2012) und heute am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) einige multinationale Verbände und Hauptquartiere von NATO und EU-Missionen untersucht. Neben vielfältigen Fragen der vertieften militärischen Zusammenarbeit2 zwischen den beteiligten Nationen unter militär- und verteidigungspolitischer sowie organisationskultureller Perspektive stand auch immer das Thema „Führungsstil“ im Interesse der Forscherinnen und Forscher. An drei hier ausgewählten, mit gleicher Methode (standardisierte Befragung) und identischen Fragebogenformulierungen beforschten Hauptquartieren (erstens SHAPE, dem militärischen Hauptquartier der NATO in der Nähe von Mons, Belgien, zweitens MNHQ/SE, dem Hauptquartier der EU-Mission ALTHEA in Bosnien-Herzegowina, und drittens HQ 1 [GE/NL] Corps, dem Hauptquartier des gemeinsamen deutsch-niederländischen Korps in Münster) lässt sich ein einheitlicher Befund ablesen: Der partizipative Führungsstil wird von den Stabsangehörigen in allen drei betrachteten Hauptquartieren am häufigsten präferiert (vgl. Abb. 1).
Abb. 1: präferierte Führungsstile im Vergleich (Quellen: Supreme Headquarters Allied Powers Europe 2014,3 Multinational Headquarters South-East 2006,4 Headquarters 1st German/Netherlands Corps 2005).5 Angaben in Prozent.
Die bisherigen Studien erbrachten einige weitere interessante Ergebnisse. (1) Die Präferenzmuster für Führungsstile differieren zwischen den Nationen, d.h. nationale (Militär-)Kulturen schlagen sich offenbar auch in der Führungskultur nieder. (2) Der bevorzugte Führungsstil ist abhängig von der militärischen Hierarchie: je höher der Rang, desto höher die Präferenz für partizipative und demokratische Führungsstile. (3) Der von einem Soldaten bei seinem direkten Vorgesetzten beobachtete Führungsstil muss nicht immer mit dem Wunschführungsstil übereinstimmen. Hierzu unten mehr. (4) Vergleicht man die drei in Abb. 1 betrachteten Beispiele, so liegt der Schluss nahe, dass der partizipative Stil vor allem in Hauptquartieren mit eher politischer und strategischer Ausrichtung präferiert wird (so bei SHAPE), in einem Hauptquartier wie dem der ALTHEA-Mission (also im Einsatzgebiet und in unmittelbarer Nähe zu operativen militärischen Aufgaben) hingegen gibt es relativ mehr Befürworter für den paternalistischen und für den autoritären Führungsstil. Militärsoziologisch gesprochen: „Kalte“ Organisationen im – wenn man so will – bürokratischen Grundbetrieb können sich eine stärkere Entscheidungspartizipation leisten, in „heißen“ Organisationen nahe am Einsatz- und ggf. auch am Kampfgeschehen wird eher ein klassisches Schema von Befehl und Gehorsam präferiert. Diese vierte Aussage ist als ein vorläufiger Befund zu betrachten und müsste wegen ihrer weitreichenden Implikationen sicherlich in Untersuchungen in weiteren Hauptquartieren validiert werden.
Wirkungen von Führungsstilen?
Ein Anliegen der SHAPE-Studie war es, bisherige Forschungslücken zu schließen. In den vorangegangenen Studien wurde nicht thematisiert, welche Konsequenzen die beobachteten und die Wunschführungsstile auf die Effektivität der Organisation haben. Ist die flächendeckende Anwendung des partizipativen Führungsstils, wenn er doch in den Augen der Geführten als idealer Stil erscheint, auch für die Performance der Arbeitsteams und der Gesamtorganisation förderlich?
Der multinationale Stab von SHAPE umfasste zum Zeitpunkt der Befragung im Herbst 2014 ca. 800 vor allem militärische Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus allen NATO-Mitgliedsstaaten. Der Rücklauf betrug erfreuliche 44 Prozent. Abb. 2 ist zu entnehmen, dass bei einer knappen Mehrheit von 53 Prozent (grüne Fälle) der beim direkten Vorgesetzten beobachtete Führungsstil mit dem eigenen Wunschführungsstil übereinstimmt. Wenn auf individueller Ebene eine Inkongruenz besteht, dann kann eine klare Tendenz zu mehr Partizipation festgestellt werden: Ein nicht unerheblicher Anteil von insgesamt 27 Prozent, der seiner Ansicht nach paternalistisch (15 Prozent) bzw. autoritär (12 Prozent) geführt wird, würde einen partizipativen Stil bei seinem direkten Vorgesetzten bevorzugen. So weit die Gegenüberstellung von Soll und Ist.
Abb. 2: Präferierter und tatsächlicher Führungsstil im Vergleich (Quelle: eigene Erhebung in SHAPE 2014). Kongruente Fälle grün, inkongruente Fälle gelb und rot. Angaben in Prozent.
Die weitere statistische Analyse zeigte bemerkenswerterweise, dass es für die Einschätzung im Fragebogen, ob SHAPE eine effiziente Organisation ist, keinen Unterschied macht, ob der tatsächliche Führungsstil mit dem Wunschführungsstil übereinstimmt. Man hätte erwarten können, dass Stabsangehörige, die z.B. einen paternalistischen Vorgesetzten haben, jedoch partizipativ geführt werden möchten, die Performanz von SHAPE geringer einschätzen als ihre Kameraden und Kameradinnen, bei denen Wunsch und Wirklichkeit korrespondieren. Dies war jedoch nicht der Fall. Ebenso konnten keine statistisch signifikanten Unterschiede im Antwortverhalten zwischen den 53 Prozent kongruenten Fällen und den 47 Prozent inkongruenten Fällen ermittelt werden, nimmt man als abhängige Variable die mission clarity, also das Ausmaß, in dem ein Stabsangehöriger ein klares Verständnis vom Auftrag von SHAPE und den Organisationszielen des NATO-Hauptquartiers hat. Vor allem aber erstaunt hat, dass es keinen Zusammenhang zwischen Führungsstil und Arbeitszufriedenheit gab. Man hätte in Übereinstimmung mit dem Forschungsstand in Unternehmen und öffentlichen Organisationen erwarten können, dass Personen, die ihren Wunschvorgesetzten auch in ihrem tatsächlichen Vorgesetzten gespiegelt finden, eine höhere Zufriedenheit aufweisen als ihre „inkongruenten“ Kameradinnen und Kameraden. Auch dies war nicht der Fall. Um die Ergebnisse auf eine griffige Formel zu bringen: Leadership style does not matter!
Zusammenfassung und Ausblick
Das militärische Hauptquartier der NATO ist eine eher untypische Organisationsform: Es steht an der Spitze des zurzeit größten und schlagkräftigsten Militärbündnisses in der Welt. In ihm arbeiten vor allem Stabsoffiziere aus den 28 Mitgliedsnationen in einem multinationalen und multikulturellen Kontext. In Übereinstimmung mit dem Forschungsstand zu anderen Organisationsformen gilt dennoch auch für SHAPE, dass ein partizipativer Umgang von Vorgesetzten mit den ihnen anvertrauten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, Soldaten und Soldatinnen in Entscheidungsprozessen nicht in dem Umfang stattfindet, wie es aus Sicht der Geführten der Fall sein sollte. Gleichwohl gibt die Studie einen Hinweis darauf, dass – zumindest in dieser speziellen Organisationsform – die Bedeutung des Führungsstils, vielleicht auch die Bedeutung von Führung im Allgemeinen, offenbar nicht so groß ist, wie man für militärische Organisationen unterstellen würde. In einer auf Abstimmung und Konsens zwischen 28 Nationen angelegten Organisationskultur wie der von SHAPE tritt die Mikrorelation „Führer–Geführte“ zwar sicherlich nicht völlig in den Hintergrund, für den täglichen Prozess der Entscheidungsfindung in den Abteilungen und zwischen diesen spielt sie aber offenbar eine eher untergeordnete Rolle. Aber auch ohne nachweisbare objektive Wirkungen auf die Organisationsebene bzw. auf die Effektivität militärischer Stäbe – die Forderung nach einer partizipativen Führungskultur, wie sie auch in der Vorschrift zur Inneren Führung der Bundeswehr formuliert ist, bleibt unter führungsethischen Erwägungen unverzichtbar und sollte im betrieblichen und nicht zuletzt militärischen Arbeitsalltag gelebt werden.
1 Bass, Bernhard M. (1990): Bass & Stogdill’s Handbook of Leadership. Theory, Research, and Managerial Applications. 3rd Ed. New York/London, S. 436–471.
2 Gareis, Sven Bernhard (2016): Multinationalität als militärsoziologisches Forschungsgebiet, in: Dörfler-Dierken, Angelika und Kümmel, Gerhard (Hrsg.): Am Puls der Bundeswehr. Militärsoziologie in Deutschland zwischen Wissenschaft, Politik, Bundeswehr und Gesellschaft. Wiesbaden, S. 169–188.
3 Biehl, Heiko, Moelker, René, Richter, Gregor, und Soeters, Joe (2015): OCS – Study on SHAPE’s Organizational Culture, April 2015 (unveröff. Bericht).
4 Santero, Manuel Casas, und Navarro, Eulogio Sánchez (2006): Leadership in Mission Althea 2006–2007, in: Leonhard, Nina, et al. (Hrsg.): Military Co-operation in Multinational Missions: The Case of EUFOR in Bosnia and Herzegovina S. 161–190. 28), Strausberg, S. 161–190.
5 Vom Hagen, Ulrich (2006): Communitate Valemus – The Relevance of Professional Trust, Collective Drills and Skills, and Task Cohesion within Integrated Multinationality, in: vom Hagen, Ulrich, Moelker, René, und Soeters, Joe (Hrsg.): Cultural Interoperability. Ten Years of Research into Co-operation in the First German-Netherlands Corps. (SOWI-Forum International, Band 27) Breda und Strausberg, S. 53–95.
Dr. Gregor Richter ist Projektleiter am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam und Lehrbeauftragter an der Universität Potsdam. Er hat an der Ludwig-Maximilians-Universität München Soziologie, Statistik und Volkswirtschaftslehre studiert und wurde an der Universität der Bundeswehr München zu einem sozialpolitischen Thema promoviert. Seine Arbeitsgebiete und Forschungsinteressen liegen heute im Bereich der empirischen Personal- und Organisationsforschung und der Militärsoziologie. Zusammen mit Prof. Dr. Eva-Maria Kern hat er jüngst den Band „Streitkräftemanagement. Neue Planungs- und Steuerungsinstrumente in der Bundeswehr“ herausgegeben.