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Innere Führung und globale integrale Kompetenz

Innere Führung und Globalisierung: interkulturelle Kompetenz der Bundeswehr

Insbesondere im heutigen globalisierten Umfeld ist das Bewusstsein über die eigene Herkunft und gesellschaftsspezifische Führungskulturen wichtig. Einsätze finden nicht mehr nur unter dem Kommando einer einzigen Nation statt. Das gemeinsame Arbeiten erfordert eine Kooperation der Nationen und setzt das gegenseitige Verstehen voraus.

Bei Resolute Support besteht so ein multinationales Umfeld. Das Mentoren-Team des 209. Korps besteht aus ca. 60 Unteroffizieren und Offizieren aus zwölf Nationen, die ihre kulturellen Differenzen überbrücken müssen, um einen gemeinsamen Auftrag erfüllen zu können. Darunter sind „nur“ fünf deutsche Soldaten. Diese heterogene Gruppe, über Dienstgrade und Ländergrenzen hinweg, hat einen Auftrag: Die Beratung der Afghan National Army im Norden Afghanistans. 

Die interkulturelle Kompetenz (IKK) setzt, aus deutscher Sicht, das Verstehen und das Leben der Inneren Führung voraus. Die Kernphilosophie der Inneren Führung in Bezug auf Menschenwürde wurde damals so konzipiert, dass sie auch heute ein essenzieller Bestandteil der interkulturellen Kompetenz der Bundeswehr sein kann. Man hat damals schon unbewusst die Voraussetzungen für die IKK geschaffen. Die gegenseitige Toleranz und das Anerkennen bzw. das Respektieren der Kultur des anderen ist die Basis für eine Kommunikation untereinander und der Garant für den Erfolg. Man muss nicht im Auslandseinsatz sein, um interkulturelle Kompetenz anzuwenden. Auch in Deutschland sind Respekt und Toleranz gefordert. Insbesondere Vorgesetzte sind aufgefordert Pluralismus zuzulassen und zu fördern. Militärische Führer sind „Führer, Erzieher und Ausbilder“, die eine hohe Kompetenz in den sogenannten Soft Skills wie Toleranz, Einfühlungsvermögen und Kommunikationsfähigkeit aufweisen und fördern sollten. Diese Anforderung beschränkt sich nicht nur auf das Führungspersonal, sondern gilt für alle Armeeangehörigen. 

Zur Unterstützung der Vorgesetzten zur Förderung der IKK gibt es verschiedenste Lehrgänge am Zentrum für Innere Führung und an der Führungsakademie der Bundeswehr. Im täglichen Dienstalltag werden allerdings andere Ausbildungsbereiche als dringlicher behandelt. Die Innere Führung oder IKK folgen meist erst nachgeordnet.

In der Einsatzvorbereitung ist die IKK ein zwingender Bestandteil der Ausbildung und Vorbereitung. Im Rahmen der Ausbildung werden die Landeskunde und allgemeine Informationen gelehrt; sie beschränkt sich auf die praktischen Verhaltensregeln für das jeweilige Land und die jeweilige Kultur. Das ist aber nicht mit der Fähigkeit zu IKK gleichzusetzen. IKK ist nicht das Wissen um die Dos and Don’ts!

Die Bundeswehr muss sich auf mehr Multinationalität und die damit einhergehende IKK einstellen. IKK ist und wird das tägliche Handwerkszeug eines jeden Soldaten, besonders der Vorgesetzten, im Einsatz sein. 

Innere Führung und Postmoderne: Diversitätskompetenz der Führung 

Das Wertesystem der Bundeswehr unterliegt, wie das der Gesellschaft, einem beständigen Wandel und ist damit immer im aktuellen Zeitgeist zu diskutieren. Somit ist die Innere Führung ebenfalls in einem ständigen Wandel. Gerade durch die Einsätze in den letzten Jahren, insbesondere seit dem ISAF-Einsatz ist die Innere Führung in der Diskussion und muss sich die Frage gefallen lassen, ob sie noch zeitgemäß ist und den heutigen Ansprüchen in unveränderter Form gerecht wird. Die Internationalisierung der Einsätze, die Multinationalität der Stäbe oder die Unterstellung von Truppen anderer Nationen unter deutsches Kommando im Inland lassen die militärische Welt zusammenwachsen und machen eine Anpassung der Inneren Führung nötig. 

Trotz aller gesellschaftlichen und militärischen Diskussionen ist die Innere Führung auch heute noch die Basis des Handelns, denn Werte wie Menschenwürde, Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität und Demokratie sind zeitlos. Dabei muss der Spagat zwischen dem Erhalt der zentralen Werte der Inneren Führung und der Anpassung an die aktuellen Bedürfnisse der Gesellschaft geschafft werden.

Diese Änderung der Bedürfnisse muss auch in der entsprechenden Vorschrift wiedergegeben werden. Dörfler-Dieken und Kramer (2013) zeigen eine Diskrepanz in der Verbreitung und Kenntnis über die Innere Führung in den Streitkräften auf. Dabei wird der Unterschied zwischen den Dienstgradgruppen deutlich und deren Bedeutung für das Dienstverständnis im Alltag und im Einsatz. Dieses unterschiedliche Verstehen und Deuten der Inneren Führung kann zu Fehldeutungen im Führungsverhalten führen. Dabei läuft man aber Gefahr, die gewinnbringenden Effekte einer erfolgreichen Zusammenarbeit zu verlieren bzw. sie eben erst gar nicht generieren zu können. 

Es ist eben gerade die Diversität der Streitkräfte, der Reichtum an verschiedensten Facetten, welcher der Bundeswehr in den zukünftigen Einsätzen den entscheidenden Vorteil bringt. Diese Diversität zeichnet sich besonders durch die gelebte Innere Führung und IKK aus, die nicht nur auf das eigene Selbst gerichtet ist. Der globale Blick auf die Problemstellungen muss das Ziel sein.

In zukünftigen Einsätzen der Bundeswehr wird die Fähigkeit zur Diversitätsführung stärker gefordert werden. Insbesondere wenn die Bundeswehr die Mandate zur Ausbildung fremder Streitkräfte ausbaut oder wenn es um Ausbildungsmissionen geht, die auf einem postwar conflict gründen. Nur in der Kooperation mit dem Gastland oder Partnernationen ist eine wirksame Friedenskonsolidierung möglich. Dazu ist ein systemisches Denken als Weltenbürger nötig.

Globale integrale Kompetenz – ein möglicher Beitrag zur Evolution der Inneren Führung

Der Terror von Paris im November 2015 wurde von dem konservativen Flügel der Gesellschaft als eine Bestätigung der These vom drohenden „Kampf der Kulturen“, die der US-Politologe Samuel Huntington 1996 aufgestellt hatte, gesehen. Vor seiner reduktionistischen Kulturdefinition, die auch in Theorie und Praxis des interkulturellen Trainings noch dominant ist (z.B. Kulturstandard und Kulturdimension), warnten viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und kritisierten die Illusion der Singularität der Identität. Ein Mensch ist als Individuum mit vielen Zugehörigkeiten oder als Mitglied vieler verschiedener Gruppen zu betrachten. In der interkulturellen Interaktion muss man seine eigene multiple Identität erkennen und gleichzeitig die Identität von den anderen erkennen und anerkennen, um die Zuschreibung und Zementierung einer einzigen kulturellen Identität zu vermeiden. 

Ein postmodernes Konzept der IKK muss Führungskräfte der Bundeswehr dazu bringen können, ihre multiple soziale Identität zu erkennen und darüber hinaus ihre persönliche Identität zu entdecken. Der Lernprozess einer solchen Identitätsbildung ist ein transformativer Lernprozess, in dem „Lernen als Veränderung“ im Sinne von Gregory Bateson (1972) stattfindet. 

Sein Stufenmodell des Lernens liefert eine theoretische Grundlage des neuen Konzeptes des interkulturellen Trainings, das postuliert, dass die Rekonstruktion der Identität durch „Bewusstseinstransformation“ auf einer höheren Stufe des Lernens möglich ist. Die  „Bewusstseinstransformation“ findet in interkulturellem Kontext bewusst und unbewusst statt, aber es kann noch durch ein interkulturelles Training vor dem Auslandseinsatz der Soldatinnen und Soldaten effizienter gefördert werden, indem man die kulturelle Prägung bei Verhalten, Fähigkeiten, Glaubenssätzen und Identitäten suspendiert. Die Aufgabe der Wissenschaft liegt in der Entwicklung der konkreten Trainingsansätze zur Förderung der „Diversitätsführungskompetenz“, die Vielfalt der Identitäten des Eigenen und Anderen als integrale Teile des Gesamtsystems wahrzunehmen und darüber hinaus ein solides Fundament der Friedenskonsolidierung in Postkriegsgebieten zu etablieren.

Gerade bei der zukünftigen Bildung der Inneren Führung sollte es darum gehen, die Fähigkeiten der Streitkräfte und besonders der Führungskräfte für eine erfolgreiche Friedenskonsolidierung weiter auszubilden. Im Fokus vom Konzept der Inneren Führung stehen der Mensch und seine Einflussmöglichkeiten auf Konflikte und Frieden. Die Armeeangehörigen müssen auf die Menschen verschiedener Gesellschaftsebenen wirken, um zu einer Friedenskonsolidierung beizutragen und letztendlich eine Transformation und Veränderung des Systems zu initiieren.

Zur Konkretisierung dieser These lässt sich das Konzept der Inneren Führung mit „Integraler Theorie“ von Wilber (2007) verbinden bzw. erweitern. Im Besonderen soll an dieser Stelle das Quadrantenmodell seiner integralen Theorie betrachtet werden, welches als wichtige Ergänzung zum Konzept der Inneren Führung genutzt werden kann. Das Quadrantenmodell ermöglicht, zwischenmenschliches Geschehen ganzheitlich und umfassend zu verstehen und damit Handlungsmöglichkeiten zu vervielfachen. Es stellt für uns ein Grundlagenmodell zur Betrachtung sowohl der Paradigmen als auch der spezifischen Lernfelder und Lernebenen dar. Hierzu wird in kurzer Form die Bedeutung der einzelnen Quadranten erläutert.

Nach Wilber (2007) können Ereignisse individuell und kollektiv erlebt werden, Phänomene können innerlich (subjektiv) und äußerlich (objektiv) wahrgenommen werden. Aus diesen Dimensionen definiert Wilber das Quadrantenmodell, das in Abb. 1 dargestellt ist.

Oberer linker Quadrant – individuelle Innenperspektive – <ICH>

Dieser Quadrant beinhaltet die individuellen und subjektiven Wahrnehmungen bzw. das eigene Bewusstsein des Einzelnen. Es geht um die eigenen Gefühle, Intentionen und Empfindungen, welche bewusst oder unbewusst wahrgenommen werden. Im Austausch und Dialog mit anderen Menschen beziehen wir neue Erkenntnisse über uns selbst. Insbesondere Identität, Selbstreflexion und Persönlichkeitsbildung sind Bestandteil dieses Quadranten. 

Unterer linker Quadrant – kollektive Innenperspektive – <WIR>

Dieser Quadrant beinhaltet einen Konsens aus Politik, Familie, Schule und Beruf. Es geht um Wertvorstellungen, Normen, Rollenbilder und kulturelle Übereinkünfte, die teils bewusst, aber vor allem unterbewusst den Einzelnen sowie die Gesellschaft beeinflussen. Das Bewusstsein von der Gemeinschaft und die Wirkung kollektiver Übereinkünfte lassen sich hier verorten. Die Bildungsperspektive sieht in diesem Quadranten die ethisch-moralische Bildung. Die kollektive Innenperspektive bestimmt soziale sowie interkulturelle Kompetenz und ist somit entscheidend im interkulturellen Dialog.

Oberer rechter Quadrant – individuelle Außenperspektive – <ES>

In diesem Quadranten werden Ansichten und Verhalten von Menschen objektiv von außen betrachtet. Was das Individuum fühlt oder denkt, ist hier nicht von Relevanz. Es geht darum, Objektivität und Vergleichbarkeit zu schaffen. Wissenschaftliche Messmethoden machen dies möglich. Messbare Werte wären beispielsweise an dieser Stelle Informationen über einen Konflikt, Rechtsverständnis, schulische Bildung, Verhandlungs- und Analysekompetenzen. Das ES steht also für den naturwissenschaftlichen Bereich. 

Unterer rechter Quadrant – kollektive Außenperspektive – <SIE>

In dieser Sichtweise handelt es sich um das äußere, sichtbare Verhalten von Systemen jedweder Art. Impliziert sind hier Bildungs-, Staats-, Wirtschaftssystem sowie globales ökologisches System. Weitere Faktoren wie Infrastruktur spielen ebenso eine Rolle. Wie verhält sich ein System nach außen hin und wie sehen die Kommunikationsprozesse aus? 

Bei diesen vier Quadranten handelt es sich um vier verschiedenen Perspektiven, durch die man die Menschen, die Gesellschaft und die Welt umfangreich und ganzheitlich betrachten kann. Diese multiperspektivische Betrachtungsweise im globalen Kontext wird „globale integrale Kompetenz“ genannt. Dieser Begriff bezeichnet die Eigenschaft eines handlungsfähigen, die eigene Persönlichkeit und das globale Umfeld gestaltenden Subjekts. Globale integrale Kompetenz ergibt sich daraus, diese vier Perspektiven in ein Gleichgewicht zu bringen und das Selbst und die Anderen in einer kausalen Beziehung in einem großen System zu erkennen. 

<ES>: sich unserer neuronalen Wahrnehmung der Welt und Bedeutungsgebung bewusst werden, mit dem Ziel, sich ihre Grenzen zu erweitern und neue Bedeutung und Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln.

<ICH>: eigenes komplexes System der pluralen Identität erkennen, eine kohärente Identität entwickeln und Wahlmöglichkeiten und Handlungsspielräume erweitern.

<WIR>: individuelle Potenziale, eine neue Kultur aufbauen und erkennen, dadurch Vorurteile/Annahmen in der Schwebe halten und Kompetenz zur dialogischen Kommunikation - (zuhören) entwickeln. 

<SIE>: erkennen, dass wir uns durch implizites System zusammenhalten und durch explizites System differenzieren. 

Zum Beispiel muss ein Mentor der deutschen Streitkräfte in Afghanistan durch die ES- und ICH-perspektivische Betrachtung seine afghanischen Trainees vorurteilslos wahrnehmen. Durch WIR-Perspektive muss er in der Lage sein, eine vertrauensvolle Beziehung zu seinem Trainee aufzubauen, in der eine neue, angemessene Führungskultur entsteht. Über die differenzierten institutionellen Funktionen wie Trainer–Trainee hinaus muss er erkennen, dass er und seine Trainees integrale Bestandteile eines globalen Systems sind. 

Globale integrale Kompetenz ist ein weit gefasster Begriff, umfasst ein Bündel von Selbst-, Sozial- und Systemkompetenzen und ist wichtig für die moderne Personalentwicklung der Streitkräfte. Die theoretische Entwicklung dieses Konzeptes kann mit der zeitgemäßen Evolution der Inneren Führung angeschlossen werden, da sie sich im Kontext der Globalisierung und der Einbindung in internationale Strukturen anpassen muss.

Literatur: 
Bateson, Gregory (1972): Step to an ecology of mind. Chicago.
Dörfler-Dierken, Angelika und Robert Kramer (2014): Innere Führung in Zahlen: Streitkräftebefragung 2013. Berlin.
Huntington, Samuel (1996): The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York. 
Wilber, Ken (2007): Integrale Vision. München.

Zusammenfassung

Prof. Dr. Kazuma Matoba

Prof. Dr. Kazuma Matoba studierte und promovierte in der Kommunikationswissenschaft in Tokyo und Duisburg. Nach der Habilitation an der Universität Witten/Herdecke war er Dozent an verschiedenen deutschen und internationalen Universitäten. Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit ist er als Trainer für interkulturelle Kommunikation und Friedenskonsolidierung weltweit unterwegs. Seit 2014 lehrt und forscht er an der Fakultät der Humanwissenschaften der Universität der Bundeswehr München.

kazuma.matoba@unibw.de

Major Dipl.-Päd. Bernd Küstner

Major Dipl.-Päd. Bernd Küstner trat im Jahr 2000 als Offiziersanwärter der damaligen Panzeraufklärungstruppe in die Bundeswehr ein. Nach seiner Ausbildung zum Offizier und dem Studium der Pädagogik an der Universität der Bundeswehr in München folgten Verwendungen als Zugführer und Kompanieeinsatzoffizier und Stabsverwendungen. Derzeit ist Major Küstner als Teamführer im Bereich militärische Ausbildungsunterstützung eingesetzt. Seine drei Auslandseinsätze in den Jahren 2011, 2013 und 2015 führten ihn bisher nach Afghanistan.

kuestner.bernd@googlemail.com


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