Kontroversen in Militärethik und Sicherheitspolitik
Kriegstüchtig? Friedensethische Reflexionen
I.
Der völkerrechtswidrige und als militärische Spezialoperation zur Denazifizierung und Entmilitarisierung semantisch verhüllte Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat die europäische Friedensordnung erschüttert und gefährlich geschwächt. Offen zutage getreten sind die Grenzen internationaler Rechtsdurchsetzung, der Machtkonflikt zwischen einer autoritären und einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung sowie der Versuch, die Stärke des Rechts durch das Recht des Stärkeren zu ersetzen.
Als Rechtfertigung dient ein einseitiges, ideologisch gefärbtes Bild der langen Geschichte Russlands, das einer differenzierten historischen Analyse nicht standhält, und die Wahrnehmung einer sicherheitspolitischen Bedrohung durch die NATO. Hinzu kommen Zerrbilder vom westlichen Werteverfall, die genutzt werden, um den Krieg auch religiös zu legitimieren, so geschehen durch das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, Patriarch Kyrill. Diese Zerrbilder werden auf geradezu manichäistische Weise radikal auf die Spitze getrieben bis hin zu einer Verklärung des Kriegsgeschehens als Kampf des Lichts gegen die Dunkelheit. Derartige Argumente wollen den Krieg rechtfertigen, aber ebenso ein autoritäres und repressives politisches System stützen, zuletzt wohl auch zum eigenen Selbst- und Bedeutungserhalt.
II.
Das zentrale Paradigma der katholischen Friedensethik ist und bleibt der „gerechte Friede“. Frieden versteht sie als bleibende Aufgabe und als dynamisch-kontinuierlichen Prozess abnehmender Gewalt und zunehmender Gerechtigkeit mittels Recht und Dialog. Die katholische Friedensethik ist somit eine prinzipienbasierteProzessethik, der es um Friedensbefähigung und proaktive Ursachenorientierung, nicht primär um Gewaltlegitimierung und reaktive Symptomorientierung geht. Als Prinzipienethik orientiert sie sich dabei an Menschenwürde und Menschenrechten sowie an klassischen Sozialprinzipien wie Gerechtigkeit, Solidarität und dem Gemeinwohl, die jedoch stets der Konkretisierung bedürfen. Der Krieg in der Ukraine führt neuerlich die Spannung zwischen gewaltfreiem Handeln und der Möglichkeit legitimer Gewaltanwendung vor Augen. Sie bleibt charakteristisch für die katholische Friedensethik und darf nicht einseitig aufgelöst werden. Es geht darum, zwischen simplifizierenden Gegensätzen – radikaler Pazifismus auf der einen und kriegsbegeisterter Militarismus auf der anderen Seite – aufzuzeigen, dass durchaus gerechtfertigt Standpunkte zwischen diesen beiden Extremen eingenommen werden können.
III.
Wer über Möglichkeiten legitimer Gewalt nachdenkt, tut dies in der Regel in der Tradition bzw. im wiederkehrenden Ringen um die Lehre vom „gerechten Krieg“. Zwar wird die Rede von einem „gerechten Krieg“ angesichts der potenziell gewaltlegitimierenden Funktion, der gegenwärtigen waffentechnologischen und weltpolitischen Entwicklungen zu Recht problematisiert. Es ist aber anzuerkennen, dass die traditionellen Prüfkriterien – nämlich gerechter Grund, legitime Autorität, rechte Absicht usw. – als unverzichtbare Beurteilungsmaßstäbe nach wie vor bedeutsam für eine zeitgemäße Friedensethik bleiben, wenn es um die beständige und kritische moralische Reflexion des Einsatzes von Gewalt geht. Zu dieser normativ-ethischen Ausrichtung kommt ergänzend, aber freilich unabdingbar, eine tugendethische Dimension mit hinzu, auf deren Bedeutung ich hier nur hinweisen möchte, ohne sie umfassend perspektivieren zu können. Dass die innere Haltung bei der Ausübung von militärischer Gewalt friedensethisch ein wesentlicher Faktor ist, liegt auf der Hand. Denn wenn bei den handelnden Akteuren Hass, Rache und der Wunsch nach Vergeltung die dominierenden Kräfte sind, gibt es in rein praktischer Hinsicht keine Perspektive für Frieden und Versöhnung. Für das christliche Profil einer Friedensethik ist es entscheidend, stets das Ziel einer Überwindung der Gewalt zu verfolgen, ohne zwangsläufig einem strikten und unbedingten Pazifismus das Wort reden zu müssen. Vielmehr ist es notwendig, im Rahmen der Verfolgung eines gerechten Friedens als Ziel mögliche Wege vorzuzeichnen, die aus dem Krieg heraus (ex bello) führen. Auch ist es vor dem Hintergrund der gängigen Forderung nach Kriegs- oder Friedenstüchtigkeit notwendig, für die Einordnung der christlichen Friedensethik die Begrifflichkeiten zu schärfen.
IV.
In gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Diskursen ist oft von „Kriegstauglichkeit“ oder „Kriegstüchtigkeit“ die Rede, wobei beide Begriffe meiner Wahrnehmung nach gelegentlich synonym genutzt werden. Der Begriff der „Tüchtigkeit“ umfasst allerdings, anders als der der „Tauglichkeit“, nicht allein die Eignung eines Menschen oder einer Sache zu einer Tätigkeit, sondern auch ihre bzw. seine intrinsische Motivation, diese dazu einsetzen zu wollen. Vor diesem Hintergrund muss der Rede von „Kriegstüchtigkeit“ aus christlicher Sicht zumindest mit Vorsicht begegnet werden. Angemessener wäre es wahrscheinlich, hier von „Kriegstauglichkeit“ zu sprechen. Denn das Ziel aller Bemühungen, auch der des Einsatzes von Waffengewalt, muss der Friede bleiben. Doch dabei kennt die katholische Friedensethik durchaus das Recht auf Selbstverteidigung. Solange die Gefahr von Krieg besteht und alle Möglichkeiten einer friedlichen Regelung erschöpft sind, wird Menschen das Recht auf sittlich erlaubte Verteidigung nicht abgesprochen.
Die Anwendung von militärischer Gewalt muss allerdings stets in der rechten Intention geschehen: Es klingt vielleicht paradox, aber ein gerecht und tugendhaft handelnder Soldat muss durch sein Kämpfen Frieden stiften wollen, muss also „friedenstüchtig“ sein. Dabei kann die im Krieg nicht unwahrscheinliche Situation eintreten, dass ein Soldat töten muss, um Frieden zu stiften, womit eine unbezweifelbare Tragik verbunden ist. Diese Tragik bringt der Einsatz von Waffengewalt stets mit sich, weshalb sich im Rahmen der Anwendung von Gewalt immer die Verhältnismäßigkeitsfrage stellt, deren prinzipiengebundene Beantwortung situationsspezifisch variieren kann.
Wenn öffentlich von „Kriegstüchtigkeit“ oder „Kriegstauglichkeit“ die Rede ist, die Deutschland erlangen müsse, dann löst das auch Irritationen aus. Obgleich die oben beschriebene Differenzierung gerade in friedensethischer Hinsicht zu berücksichtigen ist, legen doch beide Begriffe schonungslos offen, wie bedrohlich die Lage in Europa durch den fortdauernden russischen Angriffskrieg auf die Ukraine geworden ist. Ich werde im Folgenden aus den genannten Gründen von „Kriegstauglichkeit“ sprechen, obgleich auch dieser Begriff weitere Präzisionen verlangt und sich nicht in der Anhäufung diverser Waffen erschöpft. Neben der Herstellung materieller muss es ebenso um die Schaffung personeller, infrastruktureller, organisatorischer und betrieblicher Kapazitäten gehen. Und in demokratischen Gesellschaftlichen auch um die gesellschaftliche Akzeptanz, diese notwendigen Kapazitäten aufzubauen.
Denn allein auf materielle Aufrüstung verkürzt, wird „Kriegstauglichkeit“ ohne gesellschaftlichen Diskurs, ohne starke und vertrauensvolle Bündnisse, ohne „moralischen Kompass“ politischen und militärischen Handelns und ohne weitreichende diplomatische Bemühungen keine nachhaltige Antwort auf die Herausforderungen und Bedrohungen nach der „Zeitenwende“ sein.
Auch stehen zu eindimensionale Forderungen nach „Kriegstüchtigkeit“ in einer gewissen Spannung zu wichtigen Grundorientierungen christlicher Friedensethik. Ihr Leitbild vom „gerechten Frieden“ umfasst den Vorrang gewaltfreier Konfliktbewältigung, der Ursachenprävention sowie des Bemühens um Abrüstung und Rüstungskontrolle.
Das Gebot zum Schutz von Menschenleben, das dieser pazifistischen Grundorientierung vorausgeht, legt zugleich auch die besondere Verantwortung nahe, für die Rechte der Opfer von Angriffskriegen einzutreten. Die Anwendung von (Waffen-)Gewalt ist an strenge Kriterien gebunden und darf nur als Ultima Ratio ethisch erlaubt sein.
V.
Sehr oft erlebe ich, dass dieser komplexe Gegenstandsbereich von Christinnen und Christen vor dem Hintergrund der Bergpredigt perspektiviert wird, die sie als normative Autorität einbringen. Ich möchte hier nicht missverstanden werden: Das ist richtig und wichtig. Es verlangt aber auch danach, die Bergpredigt in ihrer richtungsweisenden Kraft fernab falscher Ideologisierung für heute zu verstehen. Gewiss will die Bergpredigt belehren und überzeugen. Sie will radikalisieren, provozieren und aufrütteln. Ihre Forderungen dürfen von Christinnen und Christen angesichts realpolitischer Herausforderungen nicht vorschnell als unerreichbare Ideale abgetan werden. Zugleich aber ist wahrzunehmen, dass sich der Bedeutungsgehalt der Bergpredigt mit ihren vielen Auslegungsmodellen nicht generalisierend, zeitübergreifend und abschließend fixieren lässt, dass sie den einzelnen Handelnden vielmehr in seine eigene Verantwortlichkeit entlässt. Ihr Insistieren darauf, nach möglichst gewaltfreien Optionen zu suchen und den Frieden zu stiften, ruft uns Christen heute mehr denn je in ebendiese Verantwortung. In der ethischen Bewertung ist allerdings darauf zu achten, die Ebenen der Verantwortung klar zu trennen, denn mit Blick auf das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine werden politische, rechtliche und moralische Fragen berührt, die allein durch einen unterkomplexen Verweis auf das Gebot der Feindesliebe nicht zu lösen sind. Es wäre falsch, aus der Bergpredigt im Falle eines Angriffskrieges für ein ganzes Land ein grundsätzliches Verteidigungsverbot abzuleiten. In diesen politischen Dimensionen würde eine in meinen Augen verkürzte Auslegung der Bergpredigt ihren Inhalt eben schnell ins genaue Gegenteil verkehren. Hier stellen sich vielmehr sehr persönliche Fragen, die nur erstinstanzlich beantwortet werden können. Diese Antworten können – wenn es um die ethische Bestimmung der eigenen, individuellen Haltung geht – in Form einer Absage an jegliche Gewalt ausfallen. Aber das muss das Ergebnis einer freien und individuellen Entscheidung vor Gott und dem eigenen Gewissen bleiben; notfalls in der Bereitschaft, für diese Überzeugung zu sterben. Eine solche Haltung kann und darf nicht politisch oder religiös verordnet werden – erst recht nicht aus einem sicheren und freien Land heraus und Hunderte Kilometer vom Kriegsgeschehen entfernt.
Wie kann eine Unterstützung der Ukrainer aussehen, die sich konkret gegen einen Aggressor zur Wehr setzen? Darauf gibt es keine einfachen und eindeutigen Antworten, die in jeder Lage passen. Gewiss ist bloß, dass kein anderes Motiv als das entschiedene Eintreten gegen jene, die andere Länder erobern, Menschen ermorden, Recht brechen und die Würde der Menschen mit Füßen treten, den Gebrauch von Waffen rechtfertigen kann. Gleichwohl bleiben alle mahnenden Worte und Taten eines Pazifismus zu bedenken, der in christlicher Perspektive im Kern die Optionen und Chancen, Feindschaft zu überwinden, verwirklichen möchte.
VI.
Eine pazifistische Position muss nicht zwingend nur in ihrer radikalen Form vertreten werden. Das Prinzip der Gewaltfreiheit kann mit dem Anspruch konkurrieren, Menschen davor schützen zu wollen, massivem Unrecht und brutaler Gewalt wehrlos ausgeliefert zu sein. Die Bergpredigt verbietet Selbstverteidigung nicht, genauso wenig wie legitime Selbstverteidigung die primäre Option für ein Ethos der Gewaltfreiheit generell infrage stellt. Im Wissen um diese Spannung ist die katholische Friedensethik als Prozess- und Prinzipienethik nach wie vor ein wichtiger Kompass, der uns hilft, Entscheidungen treffen zu können. Aber sie ist keine fertige Schablone, die sich einfachhin auf jede neue Frage und konkrete Situation anlegen ließe, um zu einer Lösung zu gelangen. Katholische Friedensethik ist daher stets als eine Ethik differenzierter und kontextsensibler Einzelfallanalyse unter den Bedingungen von Unsicherheit und begrenztem Wissen sowie angesichts realistischer Gegenwartszenarien zu entfalten, die keine vorschnellen Verabsolutierungen und Generalisierungen zulässt. Die Herausforderung christlicher Friedensethik liegt darin, diese Vorgaben nicht rigoristisch, sondern kontext- und realitätssensibel auf das Heute anzuwenden. Exemplarisch möchte ich dies an drei aktuellen Fragen verdeutlichen, die gerade sehr kontrovers diskutiert werden.
Waffenproduktion: Rüstung ist ethisch ambivalent. Trägt sie zur Konflikteindämmung oder zur Intensivierung vorhandener Spannungen bei? Entscheidend für die Frage, welche Waffen produziert werden sollen, ist neben der Orientierung an Abkommen zur Rüstungsbegrenzung des Weiteren die (Un-)Verhältnismäßigkeit ihres Einsatzes. Ausrüstung und Organisation der Streitkräfte sind daran auszurichten, was für die Landes- und Bündnisverteidigung, aber auch für ein angemessenes Engagement im Rahmen internationaler Krisenbewältigung erforderlich ist.
Waffenlieferungen: Für die Lieferungen von Waffen gilt, dass sie einer besonderen moralischen Verantwortung unterliegen, da es sich um die Ausfuhr von schadenverursachenden und potenziell tödlichen Gewaltmitteln handelt. Die Lieferung von Rüstungsgütern trägt zugleich die ethische Verpflichtung in sich, dass die exportierenden Länder auf politisch-diplomatischer Ebene alles dafür tun, dass der Einsatz der gelieferten Waffen nicht notwendig wird. Nur als Nothilfe zur Notwehr angesichts einer extremen Gefahrenlage kann ihr Einsatz im Sinne einer verhältnismäßigen Ausnahme als moralisch vertretbar erachtet werden. Der verantwortliche Einsatz exportierter Waffen ist über vertraglich vereinbarte Verwendungsregelungen und das Verbot ungenehmigter Weitergabe an Dritte zu steuern.
Atomwaffen: Einst verkündete Barack Obama unter dem Begriff des „Global Zero“ die Vision einer Welt ohne nukleare Waffen. Davon scheint unsere reale Welt weit entfernt. Dennoch muss eine provisorische moralische Duldung atomarer Abschreckung, die lange Zeit mit ihrer stabilisierenden Wirkung begründet wurde, nicht zuletzt mit Papst Franziskus als überholt gelten. Ich kann das Verbot des Einsatzes von Atomwaffen nur bekräftigen, ebenso wie das ihres Besitzes und der Drohung mit ihrem Einsatz. Im Zentrum muss das doppelte Ziel der Eindämmung des Zugangs zu atomarer Waffenfähigkeit sowie die Reduzierung vorhandenen Nuklearpotenzials stehen. Gleichwohl bin ich sicherheitspolitisch auch in atomarer Hinsicht nicht naiv und sehe durchaus, welche enormen Herausforderungen auf die europäischen Mitglieder der NATO zukommen würden, sollten die USA hier als Sicherheitsgarant ausfallen. Für mich ist es kein Widerspruch, sich einerseits für Abrüstung sowie gegen Gewaltanwendung auszusprechen und andererseits anzuerkennen, dass es materielle Grundvoraussetzungen braucht, um als Staat verteidigungsfähig zu sein und die Sicherheit der Bevölkerung gewährleisten zu können.
VII.
Es gilt stets, die verschiedenen Interessen aller an militärischen Einsätzen und Konfliktfällen Beteiligter und von ihnen Betroffener in den Blick zu nehmen. Ihnen gegenüber müssen Entscheidungen bezüglich Waffenlieferungen und Interventionen besonders gerechtfertigt werden. Das gilt nicht nur hinsichtlich ihrer direkten Handlungsfolgen. Ein umfassendes Verantwortungsbewusstsein schließt auch die Berücksichtigung von möglichen nicht intendierten Handlungsfolgen mit ein, die entweder durch Doppel- oder durch Folgewirkungen zusätzlich entstehen können. Je komplexer die militärische Sachlage, desto unvorhersehbarer ist aber die tatsächliche Reichweite dieser Wirkungszusammenhänge. Vor diesem Hintergrund scheint der ethische Anspruch zunächst überfordernd. Viele Sachlagen sind polyvalent, sodass es keine Möglichkeit gibt, Entscheidungen zu treffen, deren gesamte Wirkungszusammenhänge für alle Beteiligten und Betroffenen von Vorteil sind. Wir sind in erster Linie dem Handlungsziel verpflichtet, das wir als das Gute erkannt haben, auch wenn dabei negative Folgen in Kauf genommen werden müssen, was aber nicht als Konsequentialismus verstanden werden darf. Denn der Zweck heiligt natürlich nicht alle Mittel. Diese Überlegungen können als Orientierung dienen, die bei komplexen Handlungsentscheidungen verhindert, sich von der Unübersichtlichkeit der Sachlagen lähmen zu lassen. Neben den Instrumenten zur Urteilsfindung, die uns sowohl die friedensethischen Kriterien als auch das Völkerrecht an die Hand geben, bleibt die Ausbildung eines inneren Kompasses wichtig, der zu einer verantwortlichen Entscheidungsfindung dazugehört. Es überrascht daher nicht, dass Tugenden in der Bundeswehr im Kontext der Inneren Führung explizit, und damit über einen theologischen und kirchlichen Binnenraum hinaus, als unverzichtbar für eine wirksame Aufgabenerfüllung beschrieben werden. Wie oben beschrieben kann hier aber die Bedeutung von Tugenden nur kurz markiert werden.
VIII.
Christliche Friedensethik kann als Reflexionswissenschaft in der aktuellen Weltlage eine bedeutsame Rolle spielen. Dabei können christliche Begründungslogiken – im Bewusstsein, dass die jüdisch-christlichen und antik-philosophischen Traditionen in der Neuzeit in mehreren, durchaus spannungsvollen Schritten in die Idee des säkularen und demokratischen Verfassungsstaates transformiert worden sind – im Diskurs stark gemacht werden, ohne die prophetisch-kritische Distanz zum Staat zu verlieren. Wir sehen gerade, wie extrem gefährlich es ist, wenn ein nationalistisches Narrativ, in dem Staat und Kirche sich gegenseitig instrumentalisieren, das ideologisch hochaufgeladene Sendungsbewusstsein eines Autokraten wie Wladimir Putin nährt. Religiöse Argumente werden genutzt, um ein autoritäres und repressives politisches System zu stützen und ein staatlich kontrolliertes Glaubens- und Moralsystem im Recht und in der Gesellschaft zu verankern. Freiheitsrechte setzen aber voraus, dass sich das Recht von den Ideen des guten Lebens emanzipiert. Das normative Projekt der Moderne umfasst so vor allem Menschenrechte und Demokratie, die Trennung von Religion und Politik, Rechtstaatlichkeit und Rechtsicherheit. Die Stärke des Rechts ersetzt das Recht des Stärkeren. Insbesondere die globalen machtpolitischen Auseinandersetzungen der jüngeren und jüngsten Vergangenheit haben gezeigt, dass das Recht des Stärkeren immer häufiger als Legitimationsgrundlage angeführt wird, um die Grundprinzipien der politischen Ordnungs- und Wertvorstellungen, auf denen die liberale Demokratie beruht, außer Kraft zu setzen. Aus christlicher Perspektive muss festgehalten werden, dass in der Menschenwürde eine unabdingbare Wahrheit zum Ausdruck kommt, die theologisch als die Gewissheit verstanden wird, dass der Mensch das Ebenbild Gottes ist. Der unantastbare Wert eines jeden Individuums ist zur Grundlage für unser modernes Verständnis der Menschenrechte geworden. Alle Menschen haben einen Wert, der angeboren, nicht überbietbar und nicht tauschbar ist. Autonomie, Menschenwürde und Menschenrechte bilden in ihrer Verwobenheit das normative Geflecht, das unsere Vorstellungen von einem wahrhaft menschlichen Leben trägt. Dann behält der spanische Scholastiker Francisco de Vitoria de Vitoria recht, der dem römischen Dichter Plautus widerspricht: „Es ist nämlich nicht so, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, […] sondern ein Mensch!“[1]
[1] „Non enim homini homo lupus est, […] sed homo.“ Francisco de Vitoria: Relectio de Indis o Libertad de los Indios. Ed. crítica bilingüe por L. Pereña y J. M. Pérez Prendes. Madrid 1967, S. 81.
Dr. Franz-Josef Overbeck ist seit 2009 Bischof von Essen und wurde 2011 zum Katholischen Militärbischof für die Deutsche Bundeswehr ernannt. Seit 2018 ist er Delegierter der Deutschen Bischofskonferenz für die EU-Bischofskommission COMECE (Vizepräsident von 2018 bis 2023) und seit September 2021 Vorsitzender der Glaubenskommission der Deutschen Bischofskonferenz. Im Februar 2023 ernannte ihn Papst Franziskus zum Mitglied der Vatikanbehörde (Dikasterium) für Kultur und Bildung.