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„Wir sehen deutliche Zeichen, dass wir nicht mehr in einem klassischen Frieden leben“

Die Landeskommandos der Bundeswehr sind zentrale Schnittstellen in der zivil-militärischen Zusammenarbeit. Wie steht ein Kommandeur zur Diskussion über „Kriegstüchtigkeit“ und eine wehrhafte Gesellschaft? Wir sprachen mit Kapitän zur See Michael Giss über seine Aufgaben für die Landes- und Bündnisverteidigung, den richtigen Umgang mit Ängsten in der Bevölkerung und sein Verständnis von Ethik in der militärischen Ausbildung. 

Herr Kapitän zur See Giss, Sie waren Kommandeur des Landeskommandos Hamburg und wurden erst vor Kurzem in gleicher Verwendung nach Baden-Württemberg versetzt. Wie war der Wechsel für Sie? 

Obwohl der Wechsel sehr kurzfristig stattfand, habe ich ihn als relativ friktionsfrei erlebt. Mein altes Haus in Hamburg hat mich sehr gut unterstützt, und das neue Haus in Stuttgart hat sich in der Kürze der Zeit bestens vorbereitet. Die ersten Kontakte in die Stadt, in die Politik, in die Wirtschaft, zu den zivilen Akteuren waren auch sehr freundlich. Ich nenne es einen „promising start“, wie die Engländer sagen würden. 

Haben sich Ihre Arbeitsinhalte durch den Wechsel vom Stadtstaat Hamburg ins Flächenland Baden-Württemberg verändert? Was stand vorher, was steht jetzt im Mittelpunkt Ihrer Tätigkeit? 

Grundsätzlich hat sich gar nichts verändert. Die Landeskommandos sind die militärischen Ansprechpartner in den Bundesländern und die Grundaufgaben und Aufträge unterscheiden sich nicht. Wenn wir also etwa über Heimatschutz sprechen, schauen wir hier nach den gleichen Kriterien wie in anderen Bundesländern auf die kritische Infrastruktur, auf die Verkehrswege und natürlich auch auf die Zusammenarbeit mit anderen NATO-Partnern. In Baden-Württemberg sind zum Beispiel sehr viele amerikanische Truppen stationiert, und wir sind in Nachbarschaft zu Frankreich. 

Dann geht es für Sie darum, Kontakte aufzubauen, sich neu zu vernetzen und die Zusammenarbeit vor Ort zu pflegen? 

Genau das ist jetzt die erste Schwerpunktaufgabe: die wesentlichen Akteure aus allen Bereichen und alle gesellschaftlichen Institutionen kennenzulernen, die möglicherweise im Rahmen der Landes- und Bündnisverteidigung hier im „Ländle“ eine Rolle spielen können.  

Durch den Krieg in der Ukraine – Sie haben die Landes- und Bündnisverteidigung schon erwähnt – haben sich wahrscheinlich die Aufgaben der Landeskommandos und ihrer Kommandeure stark verändert? 

Das ist richtig. Abgeleitet von den entsprechenden NATO-Strategien hat auch die Bundesrepublik Deutschland das Kerngeschäft der Landes- und Bündnisverteidigung wieder ins Zentrum gestellt. Der Heimatschutz sowie alle Aufgaben rund um den Operationsplan Deutschland sind jetzt unser Kernthema. Es gilt, dies in den Bundesländern auch an die zivile Seite heranzutragen, dort die Bedarfe der Streitkräfte anzusprechen und nach und nach mit den Planungen zu beginnen – um so die Grundlage vernünftiger Abschreckung herzustellen. 

Halten Sie den Begriff der „Kriegstüchtigkeit“ oder gesellschaftlichen „Wehrhaftigkeit“ für angemessen? Es gibt schließlich auch Kritik, das sei Panikmache oder Kriegstreiberei. 

Ich halte es für gut und sinnvoll, dass der Bundesminister der Verteidigung so ein Wort einfach mal in den Raum stellt – damit man daran die Zeitenwende auch gesamtgesellschaftlich aus verschiedenen Blickpunkten diskutieren kann. „Kriegstüchtigkeit“ meint nicht Hurrapatriotismus, Militarismus oder die Absicht, morgen früh in einen Krieg zu ziehen, sondern dass die Bundeswehr nach der Verkleinerung und der Aussetzung der Wehrpflicht wieder in einen Zustand versetzt wird, in dem sie den Verteidigungsauftrag des Artikels 87 a Grundgesetz genügen kann. 

Aber das ist nur ein Teil. Meiner Ansicht nach geht es eher darum, die Gesellschaft an einen Zustand staatlicher Resilienz heranzuführen. Wir sind tagtäglich hybriden Angriffen ausgesetzt. Die Gesellschaft soll das als Angriff auf ihr Wertesystem verstehen und erkennen, dass man in der Lage sein muss, Meinungsfreiheit und Liberalismus zur Not auch mit harten Mitteln zu verteidigen. Auf diese gesellschaftliche Auseinandersetzung lege ich bei Vorträgen und öffentlichen Diskussionen großen Wert. 

Sie würden also der Aussage von Generalleutnant Bodemann zustimmen: „Wir sind nicht im Krieg, aber schon lange nicht mehr im Frieden.“? 

Dem stimme ich völlig zu. Das erlebt die Bundeswehr, aber auch die Politik, die Wirtschaft jeden Tag, und zwar seit Jahren. Wir sind massiv Cyberangriffen und Fake News ausgesetzt. Man versucht, unsere Gesellschaft zu fragmentieren. Wir erleben physische Sabotageakte, denken Sie an Nord Stream 2 und die jüngsten Vorgänge in der Ostsee. Wir erleben Ausspähungen mithilfe von Drohnen. Ganze Verwaltungen werden gehackt. All dies passiert, um es als Marineoffizier zu sagen, unter der Wasseroberfläche, und es nimmt an Quantität und Qualität zu. Für mich sind das deutliche Zeichen, dass wir nicht mehr in einem klassischen Frieden leben.  

Für den Fall, dass es nicht bei einem solchen unterschwelligen Konflikt bleibt, wurde der bereits angesprochene Operationsplan Deutschland erarbeitet. Wie sind die Landeskommandos konkret involviert?  

Grundsätzlich muss man die Systematik des Operationsplans Deutschland verstehen. Der Plan soll die Gesamtverteidigung Deutschlands abbilden. Er bildet daher die militärische und die zivile Säule ab. Die militärische Säule konzentriert sich im Wesentlichen auf die sogenannte „Drehscheibe Deutschland“, also im Prinzip den Nachschub der NATO in Richtung Ostflanke, die Rückverlegung von Truppen durch Deutschland – all das, was Deutschland tun muss, um das Bündnis an der Ostflanke vernünftig aufzustellen. Dazu schauen wir beispielsweise auch verteidigungswichtige Infrastrukturen an. 

Die zivile Säule hat aber auch im Spannungs- und Verteidigungsfall wesentliche Aufgaben wie die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung, die Sicherstellung der Nahrungsmittel- und Gesundheitsversorgung oder den Luftschutz. So trägt sie auf ihrer Seite zur Gesamtverteidigung bei, und das wird gebündelt im Operationsplan Deutschland festgehalten.  

Heruntergebrochen auf Landesebene ist es also Ihre Aufgabe, alle dort relevanten Akteure einzubeziehen?  

Die Bundesministerien der Verteidigung und des Innern in Berlin sind die maßgeblich Federführenden auf Bundesebene. Die Landeskommandos verfügen auf Landesebene über die entsprechenden politischen und wirtschaftlichen Kontakte, um vor Ort die entsprechenden Abstimmungen zu treffen, also sozusagen das Kapitel für das jeweilige Bundesland zu schreiben. 

Für Hamburg würde das zum Beispiel bedeuten, die Anlandung von Truppen im Hafen und deren Weiterverlegung zu steuern: Wer versorgt die Soldatinnen und Soldaten, welche Wege nehmen sie durch die Stadt und Ähnliches? 

Völlig richtig. Es geht aber auch darum, bereits im Vorfeld Absprachen mit zivilen Stellen und den Behörden zu treffen, etwa für die Bereitstellung von zusätzlichen Arbeitskräften, für Absicherungsmaßnahmen, die die Bundeswehr nicht allein leisten kann, oder die Versorgung von alliierten Truppenteilen, wenn sie hier ein paar Tage rasten müssen. Denn die Bundeswehr hat ja keine Lebensmitteldepots mehr, um bei dem Beispiel zu bleiben. Dann müssen wir auf zivile Ressourcen zurückgreifen. Das funktioniert nur mit zivilen Ansprechstellen und einem Plan, wer uns diese Ressourcen zur Verfügung stellt. 

Ist Ihrer Einschätzung nach in der Wirtschaft, bei zivilen Behörden und Organisationen ein Verständnis für Ihre Lagebeurteilung da? Oder was macht Ihnen noch Sorgen? 

Die Bereitschaft von Politik, Wirtschaft oder Blaulichtorganisationen, uns zuzuhören und in sachliche, zielführende Gespräche und Planungen zu gehen, ist sehr groß. Das war in Hamburg nicht anders als jetzt hier in Baden-Württemberg. Es kann aber nur funktionieren, wenn die Bevölkerung uns unterstützt und versteht, warum wir in bestimmten Zeiten bestimmte Dinge tun müssen. Wenn die NATO also tatsächlich massiv Truppenteile an die Ostflanke verlegen muss, um dort abzuschrecken, dann müssen Bundesstraßen und Autobahnen für gewisse Zeiträume abgesperrt und für den militärischen Verkehr freigegeben werden. Da kommen auf die Bevölkerung Belastungen zu. 

Es kommt im Wesentlichen auf die Einsicht an, dass auf diese Weise auch die Bundesrepublik Deutschland geschützt wird. Das ist mein Herzenspunkt bei alldem. Alle, die Verantwortung tragen, nicht nur auf der militärischen Seite, müssen die Bevölkerung jetzt ohne Hysterie und Panikmache darauf vorbereiten, dass wir nach einem Zustand von Frieden und Freiheit, den wir die letzten 20, 30 Jahre erlebt haben, auf härtere Zeiten zugehen könnten. Das ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor für den Operationsplan Deutschland und die Gesamtresilienz des Landes. 

Im März dieses Jahres wurde zum Beispiel darüber diskutiert, ob man an Schulen wieder Zivilschutz thematisieren soll. Dies wurde zum Teil mit der Begründung abgelehnt, dass das Angst mache.  

Als Staatsbürger darf ich vielleicht sagen: Ja, möglicherweise macht es manchen Angst, wenn sie jetzt über solche Dinge sprechen sollen. Angst ist aber ein schlechter Ratgeber. In Skandinavien oder in den baltischen Staaten sagt man ganz sachlich und nüchtern: Es mag Bedrohungen und Aggressoren von außen geben, und darauf müssen wir uns vorbereiten. Damit hat man schon einen wesentlichen Schritt getan, um keine oder zumindest weniger Angst zu haben. Wenn Zivilschutz eine Möglichkeit ist, zu helfen und die Bevölkerung zu schützen, dann muss man emotionsfrei darüber sprechen können. Ich hätte schon als Bürger oder Bürgerin den Anspruch an die Verantwortungsträger, dass sie das tun oder sich dazu Gedanken machen. 

Der Heimatschutz in Ihrem Bundesland fällt ebenfalls in Ihren Verantwortungsbereich. Wie ist der Stand bei der Aufstellung der Regimenter – auch vor dem Hintergrund, dass im Operationsplan insgesamt nicht nur 6000 Heimatschutzkräfte vorgesehen sind, sondern das Doppelte? 

Der Aufbau der Heimatschutzkräfte lief in Hamburg sehr gut, wir hatten sehr viele Interessenten, und auch die vier Kompanien in Baden-Württemberg sind einigermaßen gut aufgestellt und gut ausgebildet. Aber in einem Spannungs- und Verteidigungsfall benötigen wir natürlich mehr Kräfte. Deshalb begrüße ich, dass der Bundesminister der Verteidigung nochmals das Thema Wehr- oder Dienstpflicht in den Raum geworfen und eine Option auf den Tisch gelegt hat. Denn wenn wir in einem solchen Fall mehr Soldaten und Soldatinnen brauchen, dann müssen wir auf Reservisten zurückgreifen. Die Wehrpflicht oder eine Dienstpflicht ist also keine Mobilisierungsmaßnahme! Wir müssen aber bereits jetzt vorsorglich Menschen militärisch grundausbilden, die danach ins zivile Leben zurückkehren können.  

Unabhängig davon, wie die Wählerinnen und Wähler demnächst entscheiden: Aus Ihrer Sicht ist irgendeine Maßnahme in diese Richtung also auf jeden Fall notwendig? 

Als Kommandeur eines Landeskommandos, als Offizier der Bundeswehr kann ich die Frage eindeutig mit Ja beantworten. 

Die Heimatschutzkräfte sollen im Bedarfsfall Wach- und Sicherungsdienste übernehmen, kritische und verteidigungswichtige Infrastrukturen schützen oder bei der Unterstützung von Streitkräften befreundeter Nationen beim Transit oder Aufenthalt in Deutschland (Host Nation Support) mitwirken. Gibt es noch weitere Aufgaben?  

Im Wesentlichen haben Sie sie genannt. Wenn wir tatsächlich in die Lage kommen, an der NATO-Ostflanke abschrecken zu müssen, dann ist die Masse der Bundeswehr dorthin unterwegs, stellt sich dort auf, ist dort im Einsatz – während die Heimatschützer, die territorialen Kräfte, in Deutschland zurückbleiben und all diese Aufgaben übernehmen. Insofern müssen sie auch breit ausgebildet werden. 

Momentan gibt es mehrere Wege in den Heimatschutz, zum Beispiel über eine modulare Ausbildung. So wie Sie es gerade geschildert haben, liegen die Schwerpunkte wohl auf dem rein Militärischen. Oder spielen auch ethische Aspekte eine Rolle?  

Natürlich liegt der Schwerpunkt auf dem militärischen Anteil, aber die ethischen Gesichtspunkte, der LKU und die Betreuung durch die Militärseelsorge spielen natürlich auch bei Heimatschutzkompanien eine Rolle – so habe ich es in Hamburg selbst erlebt. Bei jeder Übung gab es eine Zeiteinheit, in der auch über ethische Aspekte gesprochen wurde. Es ist mein Verständnis als militärischer Führer und verantwortlicher Vorgesetzter, dass ich meine Soldatinnen und Soldaten nicht nur an der Waffe ausbilde. Auf welcher rechtlichen Grundlage gehen sie in den Einsatz? Was bedeutet es seelisch, vielleicht auf Befehl einen Menschen töten zu müssen? Diese schwierigen Themen muss ich jetzt mit ihnen durchdenken und durchdiskutieren. Wenn wir das nicht tun, dann haben wir da am Ende nur halbe Soldaten stehen. Anders gesagt: Die ethische Begleitung des Dienstes spielt für die Heranführung an die Einsatzfähigkeit eine wesentliche Rolle. Für mich ist es gleichwertig mit der Fähigkeit, sein Gewehr zu zerlegen und wieder zusammensetzen. 

Herr Kapitän zur See Giss, vielen Dank für das Gespräch. 

Die Fragen stellte Rüdiger Frank. 

 

 

Michael Giss

Kapitän zur See Michael Giss, geboren 1964, ist seit September 2024 Kommandeur des Landeskommandos Baden-Württemberg in Stuttgart. Zuvor war er sechs Jahre in gleicher Verwendung in Hamburg.     


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