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Macht Kriegstüchtigkeit glücklich? Das Beispiel aus Finnland

Einleitung: Geschichte, Geografie und Demografie

Finnland ist eine Ausnahme im europäischen Vergleich, was die Verteidigungspolitik über einen längeren Zeitraum angeht. Während des Kalten Krieges hat Finnland, wie auch viele andere europäische Staaten, ein gesamtgesellschaftliches Verteidigungskonzept entwickelt. Die Sicherheitsstrategie für die Gesellschaft aus dem Jahr 2017 (die gerade aktualisiert wird) beschreibt das Gesamtverteidigungskonzept als „das finnische, auf Zusammenarbeit basierende Bereitschaftsmodell, bei dem die lebenswichtigen Funktionen der Gesellschaft von Behörden, Unternehmen, Organisationen und Bürgern gemeinsam gewährleistet werden“[1]. Was Finnland aber von den meisten europäischen Ländern unterscheidet, ist, dass es auch nach dem Kalten Krieg die Landesverteidigungsfähigkeit beibehalten und konstant weiterentwickelt hat, anstatt sie abzuschaffen. Dieser Ansatz basierte auf einer unwesentlich veränderten Bedrohungsanalyse: Selbst in den von sicherheitspolitischem Optimismus geprägten 2000er-Jahren wurde ein bewaffneter Angriff in finnischen außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Regierungsberichten nie ganz ausgeschlossen.

Drei Faktoren prägen den finnischen Blick auf das Sicherheitsumfeld, in dem sich Finnland befindet: Geschichte, Geografie und Demografie. Finnland ist ein bevölkerungsarmes Land, mit nur 5,5 Millionen Einwohnern, aber mit einem Territorium von einer mit dem deutschen Staatsgebiet vergleichbaren Größe. Diese Begebenheiten bringen einige Herausforderungen mit sich bei der Sicherstellung einer flächendeckenden Landesverteidigungsfähigkeit. Deshalb wird nationale Sicherheit in Finnland als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachtet: Ohne den Einsatz aller Bürgerinnen und Bürger kann das Land nicht erfolgreich verteidigt werden. Die finnische Verfassung sieht deshalb eine allgemeine Landesverteidigungspflicht vor, die für männliche Bürger den militärischen Wehrdienst oder alternativ einen allgemeinnützlichen Zivildienst bedeutet. Für Frauen gilt die Wehrplicht nicht, aber sie können den Wehrdienst freiwillig absolvieren.

Geografisch ist Finnland in der nordöstlichen Ecke Europas gelegen, mit einer 1340 Kilometer langen Landgrenze zu Russland auf der östlichen Seite, und westlich bis auf den nördlichen Teil des Landes von der Ostsee umgeben. Da Finnland von Schweden weitgehend durch ein Gewässer getrennt ist, ähnelt das Land versorgungstechnisch einer Insel. Circa 90 Prozent von Finnlands Importen und Exporten verlaufen über die Ostsee, was die Bedeutung einer vorausschauenden Versorgungsplanung unterstreicht.[2] Deshalb ist Versorgungssicherheit ein wichtiger Bestandteil des finnischen Comprehensive Security-Ansatzes und Finnland hat eine darauf spezialisierte Institution: die Nationale Notversorgungsbehörde (National Emergency Supply Agency). Deren Hauptaufgaben bestehen darin, nationale Notvorräte an kritischen Gütern sowie Funktionalität kritischer Systeme aufrechtzuerhalten und die Zusammenarbeit zwischen dem öffentlichen Sektor und privaten Unternehmen zu koordinieren, um nationale Bereitschaft zu gewährleisten.

Letztendlich wären aber geografische und demografische Herausforderungen irrelevant, hätte Finnland nicht in der Geschichte mehrmals Krieg mit dem östlichen Nachbarn Russland erlebt. Bereits als Teil des schwedischen Königsreichs bis 1809 war Finnland im Schnitt mindestens einmal pro Jahrhundert an einem Krieg gegen eine russische Staatsform beteiligt. Die letzten Kriege kämpfte Finnland gegen die Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges, und die Erfahrung prägt das Land noch heute.

Not macht erfinderisch

Im späten November 1939 griff die Sowjetunion Finnland ohne Kriegserklärung an und begann, finnische Städte und Ortschaften breitflächig zu bombardieren. Der Grund für die Sowjetinvasion waren Schüsse, die angeblich in einem Grenzort namens Mainila von der finnischen Seite aus abgegeben worden seien und Sowjetsoldaten getötet hätten – später hat Russland zugegeben, dass das eine Lüge war.[3] Zuvor hatte die Sowjetunion Finnland aufgefordert, Gebiete an die Sowjetunion abzutreten – Finnland mitsamt den baltischen Staaten war im geheimen Zusatzprotokoll des Molotow-Ribbentrop-Pakts zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion der sowjetischen Interessensphäre zugeordnet. Diese Forderungen lehnte Finnland ab.[4] Gleichzeitig erkannte die Sowjetunion eine aus finnischen Kommunisten bestehende illegitime Regierung an. Sie waren nach dem finnischen Bürgerkrieg zwischen den konservativen Weißen und den kommunistischen Roten 1918 in die Sowjetunion geflohen. Ziel der Anerkennung war es, die Kommunisten in einem okkupierten Finnland an die Macht zu bringen.

Finnland schien der Sowjetunion hoffnungslos unterlegen; nur circa 300 000 Soldaten standen rund einer Million Sowjetsoldaten gegenüber. Finnland war auch nicht sonderlich gut ausgerüstet, vor allem die Ausstattung der Luftstreitkräfte ließ zu wünschen übrig. Gegen die Tausende sowjetischen Panzerwagen mussten die Finnen auf eine hausgemachte Waffe zurückgreifen: eine Brandflasche, die nach dem damaligen sowjetischen Außenminister Wjatscheslaw Molotow „Molotow-Cocktail“ genannt wurde. Molotow hatte nämlich im Radio behauptet, die Sowjetunion würde statt Bomben Brotkörbe für die armen finnischen Nachbarn abwerfen, und der Molotow-Cocktail war im finnischen Kriegshumor das dazu passende Getränk.[5]

Wie durch ein Wunder war der Winter 1939/40 besonders kalt, und die sowjetischen Truppen waren schlecht ausgerüstet und versorgt. Die numerisch unterlegenen Finnen konnten deshalb und dank vieler taktischer und strategischer Fehler auf der gegnerischen Seite ihre Unabhängigkeit und Souveränität bewahren. Die Erfahrung war ausschlaggebend für die Identität der jungen finnischen Nation, die erst 1917 ihre Unabhängigkeit erlangt hatte. Eine wesentliche Lehre wurde aus dem Krieg gezogen: dass Finnland immer in der Lage sein muss, sich selbst zu verteidigen, denn auf die Unterstützung anderer Länder war nachweislich kein Verlass – Finnland hatte zwar viel Sympathie, aber keine wesentliche militärische Unterstützung aus dem Ausland erhalten. Seither ist es deshalb in Finnland Konsens, in die eigene Verteidigungsfähigkeit zu investieren.

Kriegstüchtigkeit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe

Die finnischen Verteidigungskräfte (Puolustusvoimat) haben auch nach dem Kalten Krieg weiterhin auf Landesverteidigungsfähigkeit gesetzt, anstatt das sogenannte expeditionary force model, also kleinere, mobile Truppen für Krisenmanagementeinsätze weit außerhalb des eigenen Staatsgebiets, einzuführen. Deshalb können die finnischen Verteidigungskräfte im Kriegsfall 280 000 Soldatinnen und Soldaten schnell mobilisieren, und die Gesamtreserve beträgt 870 000. Für die finnische Bevölkerung bedeutet die damit einhergehende Wehrpflicht, dass Landesverteidigung für alle Bürgerinnen und Bürger persönlich greifbar ist: Viele Männer müssten im Fall einer Mobilisierung an die Front, und die allermeisten Frauen hätten Familienmitglieder und Freunde, die das Land verteidigen würden – oder sie wären selbst betroffen, falls sie freiwillig Wehrdienst geleistet haben und in der Reserve sind.

Der Wille, das Land zu verteidigen, ist in Finnland seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine auf einem Rekordhoch: In einer jährlichen Umfrage lag die Bereitschaft, das Land militärisch zu verteidigen – selbst wenn der Ausgang ungewiss sei – im Jahr 2024 bei 78 Prozent, was einen leichten Rückgang gegenüber dem Allzeithoch von 83 Prozent im Jahr 2022 bedeutete. Auch die Wehrpflicht genießt in Finnland breite Unterstützung. 80 Prozent der Befragten favorisieren das derzeitige Wehrpflichtmodell, das für männliche Bürger obligatorisch und für weibliche Bürger freiwillig ist, während 28 Prozent eine geschlechtsneutrale Wehrpflicht befürworten.[6] In Finnland sind über 300 Reservistenverbände aktiv. Eine besondere Ausbildungsorganisation bietet freiwillige Landesverteidigungskurse an, deren Beliebtheit seit der russischen Invasion der Ukraine in die Höhe geschossen ist – insbesondere unter Frauen.[7]

Zusätzlich zur militärischen Komponente ist Zivilverteidigung ein wichtiger Baustein im finnischen Gesamtverteidigungsmodell. Ein Element der Zivilverteidigung ist beispielsweise, dass Wohngebäude sowie kommerzielle und industrielle Anlagen über Zivilschutzräume verfügen müssen. In der Hauptstadt Helsinki, mit einer Einwohnerzahl von circa 670 000, gibt es 5500 Schutzräume mit Platz für 900 000 Menschen.[8] Nicht nur der Whole-of-society-Ansatz ist wichtig, sondern auch das Whole-of-government-Prinzip: Zusammenarbeit und Koordinierung sowohl innerhalb der Regierung als auch zwischen verschiedenen Ebenen ist wortwörtlich lebenswichtig in einer Krisensituation. Um in einer echten Krise richtig handeln zu können, müssen die Abläufe im Voraus geübt werden. In den nationalen und regionalen Verteidigungskursen kommen alle gesellschaftlich wichtigen Akteure, darunter solche aus Regierung und Lokalverwaltung, Medien, Zivilgesellschaft sowie Wirtschaft, Industrie und Betreiber kritischer Infrastrukturen, in einer mehrwöchigen Übung zusammen, in der verschiedene Krisenszenarien (darunter auch Krieg) mit Blick auf die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Gesellschaft durchgespielt werden. Das Ziel ist, die gesellschaftlich wichtigen Akteure in Finnland mit der nationalen Sicherheit und Verteidigung, und nicht zuletzt miteinander, bekannt zu machen. Darüber hinaus folgen viele Bürgerinnen und Bürger den Anweisungen des nationalen Rettungsdienstes, im Krisenfall für 72 Stunden Vorräte zu Hause zu haben.

„Pragmatischer Pessimismus“ als Weg zum Glück

Das hohe potenzielle Mobilisierungsgrad der finnischen Gesellschaft und diese regelrecht paranoid wirkende Bereitschaftskultur bedeuten jedoch nicht, dass Finnland qualitativ eine besonders militarisierte Gesellschaft wäre. Da die finnische Mentalität rein defensiv ist, sind die Vorbereitungen auf einen Angriff auf Finnland gerichtet, nicht auf einen Angriffskrieg. Zudem hat es eine beruhigende Wirkung auf die Bürgerinnen und Bürger, dass sie sich auf die Führungsstrukturen in der Gesellschaft im Krisenfall verlassen können. So geht es bei der Vorgabe, dass die Zivilschutzräume auch radioaktive Strahlung aushalten müssen, nicht darum, ob eine nukleare Katastrophe realistisch zu überleben sei, sondern um den psychologischen Effekt, dass jemand selbst über einen solchen hochunwahrscheinlichen Fall nachgedacht und entsprechende Vorbereitungen getroffen hat.

Die finnische Gesellschaft zeichnet sich in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik durch eine starke Konsenskultur aus. Die meisten Bürgerinnen und Bürger haben ein gutes Verständnis der Bedrohungsumgebung, was einerseits auf der die ganze Gesellschaft durchdringende Kriegserinnerung basiert sowie andererseits durch die Sozialisierung im Wehrdienst aufrechterhalten wird.[9]Die klimatischen Bedingungen in Finnland führten außerdem in der Geschichte oft zu schlechten Ernten und einem harten Dasein im Kampf gegen die kalten Winter, was in den Finnen ein besonderes Durchhaltevermögen, auf Finnisch sisu genannt, geformt hat. Viele konkrete strukturelle Faktoren werden Finnland oft in verschiedenen Rankings hoch angerechnet, wie niedrige Korruption und hohe Transparenz, Stabilität, good governance, Gleichberechtigung der Geschlechter (mit Ausnahme des Wehrdienstes) und ein inklusives und hochqualitatives Bildungssystem. Jedoch trägt auch eine selbstkritische Haltung dazu bei, dass Finnland zum siebten Mal in Folge im World Happiness Report zum glücklichsten Land der Welt gekürt wurde.[10] Die finnische Mentalität könnte man als pragmatischen Pessimismus bezeichnen: das Beste hoffen, aber sich immer auf das Schlimmste vorbereiten. Der pragmatische Pessimismus wirkt als eine treibende Kraft, da in Finnland stets Verbesserungsbedarf identifiziert und umgesetzt wird.

Gleichzeitig ist die hohe Zufriedenheitsquote wichtig für die Kriegstüchtigkeit der finnischen Gesellschaft. Gesellschaftliche Chancengleichheit ist ein wichtiger Wert und ein angestrebtes Ziel in Finnland, was einem Großteil der Bevölkerung ein gutes Leben ermöglicht. Der Landesverteidigungswille beruht auf zwei Seiten einer Medaille: einerseits im negativen Sinne auf der historisch konstanten Wahrnehmung, dass Russland weiterhin eine potenziell existenzielle Bedrohung darstellt, aber andererseits im positiven Sinne auf dem Gefühl, dass Finnland es wert ist, verteidigt zu werden.

Das finnische Modell: Bedingt übertragbar, aber umso wertvoller

Bestimmte Aspekte des finnischen Modells sind höchstens auf andere Länder mit einer ähnlichen Bevölkerungsgröße übertragbar. Nicht jedes bevölkerungsreiche Land braucht beispielsweise die Wehrpflicht, wenn eine ausreichende Truppenstärke auch durch eine professionelle Streitkraft gewährleistet werden kann. Innerhalb der Nato haben Länder außerdem unterschiedliche Profile basierend auf ihren geografischen Begebenheiten – nicht jedes Nato-Land ist ein Frontstaat und muss ein dementsprechendes Landesverteidigungskonzept umsetzen. Auch die historisch und geografisch bedingte Bedrohungswahrnehmung ist nicht auf andere Kontexte übertragbar.

Die Zivilverteidigungskomponenten des finnischen Gesamtverteidigungssystems beinhalten jedoch Elemente, von denen alle europäischen Länder profitieren könnten. Eine in Friedenszeiten gut eingeübte Zusammenarbeit und Koordinierung zwischen verschiedenen Governance-Ebenen kommt in Krisensituationen gelegen, unabhängig vom jeweiligen nationalen Kontext. Die in letzter Zeit in Europa stark angestiegenen hybriden Angriffe durch böswillige Akteure auf die verschiedensten Bereiche der offenen demokratischen Gesellschaften, von kritischer Infrastruktur zum Informationsraum, haben die Dringlichkeit verbesserter gesellschaftlicher Resilienz vor Augen geführt. Auf der europäischen Ebene wird das in den jüngst von der EU eingeführten Hybridsanktionen sowie in dem Bericht zur Zivil- und militärischen Bereitschaft, verfasst für die Europäische Kommission durch den ehemaligen finnischen Präsidenten Sauli Niinistö, reflektiert.[11] In seinem Bericht an die Kommission empfiehlt Präsident Niinistö viele aus dem finnischen Modell bekannte Elemente, darunter strategische Vorausschau mit Blick auf künftige Risiken und Bedrohungen, erhöhte Handlungsfähigkeit und -geschwindigkeit durch verbesserte und angemessene Strukturen, Ertüchtigung der europäischen Bürgerinnen und Bürger als Basis gesellschaftlicher Resilienz, gut funktionierende Zusammenarbeit zwischen dem öffentlichen Sektor und privaten Unternehmen und die Abwehr von hybriden Angriffen.

Die tatsächliche Reaktionsfähigkeit des finnischen Gesamtverteidigungssystems ist seit Herbst 2023 mehrfach getestet worden. Im Oktober 2023 wurde die Balticconnector-Gaspipeline zwischen Estland und Finnland beschädigt – durch ein chinesisches Schiff mit schleierhaften Verbindungen nach Russland.[12] Im November begann Russland, systematisch Migranten hauptsächlich aus dem Nahen Osten und Nordafrika zur finnischen Grenze zu bringen. Die finnische Regierung regierte schnell darauf und schloss die Grenzübergänge zu Russland. Ermöglicht wurde eine solch drastische Reaktion dadurch, dass bereits die vorige Regierung Finnlands Grenzschutzgesetzgebung entsprechend für einen solchen Krisenfall geändert hatte. Die Möglichkeit, dass Russland Migration als Druckmittel instrumentalisiert, konnten die finnischen Behörden vorhersehen, weil das bereits im Jahr 2015 der Fall war.[13]Die finnischen Behörden haben für 2023 fünffach erhöhte GPS-Signalstörung gemeldet und die finnische Fluggesellschaft Finnair musste im Frühjahr 2024 eine neue Fluglinie nach Tartu in Estland für einen Monat einstellen, weil Flugzeuge aufgrund der heftigen GPS-Störungen dort nicht landen konnten – das Problem wurde durch das Installieren von alternativen Navigationssystemen vorerst gelöst, aber im Sommer 2024 wurden in Finnland auch Störungen an Satellitennavigationssignalen gemeldet.[14] Im Juni und Juli 2024 fand eine Reihe von Einbruchsversuchen in finnische Wasserwerke statt, die dank Sicherheitsvorkehrungen auf hohem Niveau weitgehend ergebnislos blieben – bis jetzt. Zuletzt wurden im November 2024 zwei Datenkabel in der Ostsee beschädigt, eines zwischen Finnland und Deutschland und eines zwischen Schweden und Litauen. Dabei wird ein chinesisches Schiff der Sabotage verdächtigt.[15]          

Fazit: Eine breite Angriffsfläche erfordert kreative Gegenmittel

Die (unvollständige) Liste von Vorfällen zeigt, wie viel Angriffsfläche demokratische Rechtsstaaten böswilligen Akteuren bieten. Das ist zugleich die Stärke und Schwäche von Demokratien: Die demokratische Offenheit macht die Staaten angreifbar und die Grenzen der Rechtsstaatlichkeit erschweren das Reagieren auf Angriffe, die sich auf illegale Mittel stützen. Aber gleichzeitig fordern die unmittelbaren und oft gnadenlosen Feedbackloops demokratische Entscheidungsträgerinnen und -träger heraus, ein schlechtes System zu verbessern, wenn sie wiedergewählt werden wollen.

Bei der schwierigen Frage, wie man am besten auf die sich häufenden hybriden Angriffe reagiert, bietet Finnland einige gute und schlechte Beispiele, aus denen andere Länder ihre eigenen Schlussfolgerungen ziehen können. Im Mai 2024 bot sich eine seltene Gelegenheit, symmetrisch zu reagieren: Auf der Internetseite des russischen Verteidigungsministeriums erschien für einige Stunden ein Dokument, das die Erweiterung der Seegrenzen zu Finnland und Litauen vorschlug. Das finnische Außenministerium hat daraufhin damit reagiert, auf der finnischen Seite die Überprüfung der Seegrenzen einzuleiten – ein technischer Prozess, der alle 30 Jahre vollzogen werden soll, 1995 das letzte Mal.[16]

Der Umgang mit der instrumentalisierten Migration an der Grenze zu Russland hat sich als schwieriger erwiesen. Da Pushbacks laut Völkerrecht illegal sind, ist es unmöglich, eine sowohl moralisch als auch rechtlich saubere Lösung zu finden. Finnland hat im Sommer 2024 versucht, der Eventualität vorzubeugen, dass Russland beginnen könnte, Migranten über die Landgrenze und nicht nur an den offiziellen Grenzübergängen nach Finnland zu bringen. Das soll nun durch ein Notstandgesetz verhindert werden, das als eine zeitlich auf 12 Monate begrenzte Ausnahme zur finnischen Verfassung vom Parlament ratifiziert wurde und das Unmögliche möglich machen soll: Pushbacks zu legalisieren, im Widerspruch zu Menschenrechten, EU-Gesetzgebung und der finnischen Verfassung selbst.[17]

Finnland greift im Allgemeinen inzwischen stärker zur aktiven Verteidigung auch im hybriden Bereich. Im Oktober 2024 hat die finnische Regierung eine neue Cybersicherheitsstrategie veröffentlicht, die sogenannte aktive Gegenmaßnahmen ermöglicht – welche laut einem Mitglied des Verteidigungsausschusses im finnischen Parlament auch Gegenangriffe mit einbezieht.[18]Die Strategie betont, dass „[d]ie Fähigkeit, ein umfassendes und breit gefächertes Spektrum an Methoden anzuwenden, „[…] besonders bei der Reaktion auf staatlich gesponserte Operationen und schwere Cyberkriminalität hervorgehoben [wird].“[19] Im selben Monat haben finnische Behörden zudem begonnen, Eigentum und Immobilien der Russischen Föderation in Finnland zu beschlagnahmen. Finnland hatte das bereits 2023 mit einem russischen Wissenschafts- und Kulturzentrum versucht, ist jedoch daran gescheitert, dass westliche Sanktionen nur individuelle russische Staatsbürgerinnen und -bürger betreffen, nicht aber die Russische Föderation. Jetzt hat Finnland die Beschlagnahmung rechtlich an die Klage des ukrainischen Energieunternehmens Naftogaz gebunden, das seit 2016 Kompensation von Russland für verlorene Einnahmen im Zuge der Krim-Annexion fordert.[20] Kreative hybride Angriffe erfordern kreative Antworten, und demokratische Rechtsstaaten haben mehr Spielraum, als sie sich momentan erlauben – wenn sie nur wollen. In der schwelenden Konfrontation mit der Russischen Föderation wird es darauf möglicherweise genauso ankommen wie auf eine rein militärische Abwehrbereitschaft.

 


[1] Finnish Government Resolution / 2.11.2017. The Security Strategy for Society, S. 7. https://turvallisuuskomitea.fi/wp-content/uploads/2018/04/YTS_2017_english.pdf (Stand: 30.10.2024).

[2] National Emergency Supply Agency of Finland (2023): Report on maritime security of supply: need for a functional market and more Finnish experts. 28.2.2023. https://www.huoltovarmuuskeskus.fi/en/a/report-on-maritime-security-need-for-a-functional-market-and-more-finnish-experts (Stand: 30.10.2024).

[3] Yle (2012): Soviet Plot Launches Winter War. 21.4.2012. yle.fi/a/3-5964904 (Stand: 24.11.2024).

[4] Deutschlandfunk (2014): Winterkrieg. Traurige Marginalie des Zweiten Weltkriegs, 30.11.2014. https://www.deutschlandfunk.de/winterkrieg-traurige-marginalie-des-zweiten-weltkriegs-100.html (Stand: 24.11.2024).

[5] Dailey, Ann Marie (2022): Molotov Cocktails in winter: What 1939 Finland tells us about Ukraine today. New Atlanticist (Atlantic Council), 2.3.2022. https://www.atlanticcouncil.org/blogs/new-atlanticist/molotov-cocktails-in-winter-what-1939-finland-tells-us-about-ukraine-today/ (Stand: 24.11.2024).

[6] Maanpuolustustiedotuksen suunnittelukunta (2024): Suomalaisten mielipiteitä ulko- ja turvallisuuspolitiikasta, maanpuolustuksesta ja turvallisuudesta, 2024:1. https://julkaisut.valtioneuvosto.fi/bitstream/handle/10024/165357/PLM_2024_1.pdf (Stand: 31.11.2024).

[Planungskomitee des Landesverteidigungsinformationsdienstes (2024): Meinungen der Finninnen und Finnen zur Außen- und Sicherheitspolitik, Landesverteidigung und Sicherheit.]

[7] Lehto, Essi (2022): Worried about Russia, Finnish women sign up to learn defence skills. Reuters, 8.6.2022. https://www.reuters.com/article/world/worried-about-russia-finnish-women-sign-up-to-learn-defence-skills-idUSKBN2NN18H/ (Stand: 31.10.2024).

[8] Helsinki City Rescue Department: Civil defence shelters in Helsinki. https://pelastustoimi.fi/en/helsinki/services/civil-defence-in-helsinki/civil-defence-shelters-in-helsinki (Stand 31.10.2024).

[9] Hart, Linda, Häggblom, Erasmus und Pulkka, Anti-Tuomas (2023): Gender and Generation Differences in Finnish Defence Policy Opinions 2000–2020. In: Scandinavian Journal of Military Studies 6.1. sjms.nu/articles/10.31374/sjms.197 (Stand: 25.11.2024).

[10] Finland Promotion Board (2024): For seventh year running, Finland first in World Happiness Report – other Nordics in top 7. This is Finland, März 2024. https://finland.fi/life-society/for-seventh-year-running-finland-is-first-in-world-happiness-report-other-nordics-in-top-7/ (Stand: 31.10.2024).

[11] Rat der Europäischen Union (2024): Russland: Neuer Sanktionsrahmen zur Bekämpfung destabilisierender Aktivitäten gegen die EU und ihre Mitgliedstaaten, 8.10.2024. https://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2024/10/08/russia-eu-sets-up-new-framework-for-restrictive-measures-against-those-responsible-for-destabilising-activities-against-the-eu-and-its-member-states/ (Stand: 31.10.2024); Niinistö, Sauli (2024): Safer Together. Strengthening Europe’s Civilian and Military Preparedness and Readiness, Report by Sauli Niinistö, former President of the Republic of Finland, In his capacity as Special Adviser to the President of the European Commission. https://commission.europa.eu/topics/defence/safer-together-path-towards-fully-prepared-union_en (Stand: 31.10.2024).

[12] Staalesen, Atle (2023): Newnew Polar Bear sails towards Bering Strait. The Barents Observer, 6.11.2023. https://www.thebarentsobserver.com/security/newnew-polar-bear-sails-towards-bering-strait/164008 (Stand: 31.10.2024).

[13] Lavikainen, Jyri (2023): Russia’s hybrid operation at the Finnish border: Using migrants as a tool of influence. FIIA Comment 12, Finnish Institute of International Affairs, 23.11.2023. https://www.fiia.fi/en/publication/russias-hybrid-operation-at-the-finnish-border?read (Stand: 31.10.2024).

[14] ERR News (2024): Finnair restarts Tartu flights after alternative to GPS approach systems found. 16.5.2024. https://news.err.ee/1609343694/finnair-restarts-tartu-flights-after-alternative-to-gps-approach-systems-found (Stand 31.10.2024); Kauranen, Anne (2024): Finland detects satellite navigation jamming and spoofing in Baltic Sea. Reuters, 31.10.2024. https://www.reuters.com/world/europe/finland-detects-satellite-navigation-jamming-spoofing-baltic-sea-2024-10-31/ (Stand 31.10.2024).

[15] Tagesschau (2024): Sabotage-Verdacht. Finnisches Schiff bei beschädigtem Kabel eingetroffen. 24.11.2024. https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ostsee-datenkabel-102.html (Stand: 25.11.2024).

[16] Huhtanen, Jarmo (2024): Suomi aloitti merirajan tarkistamisen [Finnland hat begonnen, die Seegrenze zu überprüfen]. Helsingin Sanomat, 31.5.2024. https://www.hs.fi/suomi/art-2000010458909.html (Stand: 31.10.2024).

[17] Koponen, Linda (2024): Finnland legalisiert Pushbacks: Finnische Grenzbeamte dürfen notfalls Gewalt anwenden, wenn Russland wieder Migranten über die Grenze drängt. Neue Zürcher Zeitung, 12.7.2024. https://www.nzz.ch/international/finnland-legalisiert-pushbacks-so-will-es-hybridangriff-von-putin-stoppen-ld.1838732 (Stand: 31.10.2024).

[18] Luhtala, Jouko (2024): Uusi strategia: Suomi vastaa kyberhyökkäyksiin iskemällä takaisin – „Jos ei, se kannustaa Venäjää“ [Neue Strategie: Finnland antwortet auf Cyberangriffe mit einem Schlag zurück – „Wenn nicht, treibt es Russland nur an“]. MTV News, 30.10.2024. https://www.mtvuutiset.fi/artikkeli/uusi-strategia-suomi-vastaa-kyberhyokkayksiin-iskemalla-takaisin-jos-ei-se-kannustaa-venajaa/9037754#gs.hhitff (Stand: 31.10.2024).

[19] Prime Minister’s Office, Finland (2024): Finland’s Cyber Security Strategy 2024–2035. Publications of the Prime Minister’s Office 2024:13, S. 37. https://julkaisut.valtioneuvosto.fi/bitstream/handle/10024/165893/VNK_2024_13.pdf (Stand 31.10.2024).

[20] Kauranen, Anne (2024): Finland orders confiscation of $4.25 bln in Russian assets in Naftogaz case. Reuters, 30.10.2024. https://www.reuters.com/world/europe/finland-confiscating-425-bln-russian-assets-naftogaz-case-2024-10-30/ (Stand: 31.10.2024).

Zusammenfassung

Minna Ålander

Minna Ålander ist Research Fellow am Finnish Institute of International Affairs. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die NATO, Sicherheit in Nordeuropa, die nordische Verteidigungszusammenarbeit, arktische Sicherheit sowie die deutsche und finnische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Zuvor arbeitete Ålander bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Sie hat einen gemeinsamen Master in Internationalen Beziehungen von der Freien Universität Berlin, der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität Potsdam. Seit August 2023 ist Ålander Non-Resident Fellow im Transatlantic Defense and Security Program am Center for European Policy Analysis (CEPA). 


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