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Wer Frieden will, muss Krieg führen können: Abschreckung heute

Das berühmte, auf Vegetius zurückgehende Sprichwort Si vis pacem para bellum ist leider im 21. Jahrhundert noch so aktuell wie im 4., als jener sein Handbuch zum Krieg schrieb.[1] Außer unter extremsten Pazifisten besteht seit Jahrhunderten Konsens, dass jede Gesellschaft das Recht hat, sich zu verteidigen. Dennoch bestehen auf vielen Seiten verständlicherweise große Skrupel, eine Verteidigung zu durchdenken, bei der eventuell Kernwaffen eingesetzt werden müssten, um einen militärisch überlegenen Gegner abzuwehren.

Die katholische Kirche hat sich mehrfach mit der ethischen Herausforderung befasst, die Atomwaffen als Massenvernichtungswaffen darstellen. Kurz vor der Verabschiedung des Atomwaffen-Nichtverbreitungsvertrags 1968 appellierte Papst Paul VI. an die Regierungen der verhandelnden Staaten, „dem nuklearen Wettrüsten ein Ende zu bereiten“[2]. Näher mit dem Problem befassten sich die Konferenzen amerikanischer katholischer Bischöfe.[3] In den frühen 1980er-Jahren nahm die katholische Kirche unter Papst Johannes Paul II. eine Kompromissposition ein, in der sie die nukleare Abschreckung akzeptierte, den Einsatz von Atomwaffen jedoch als unmoralisch verurteilte.[4] Dies ist aber in sich widersprüchlich, da die Abschreckung ohne realisierbare Pläne für den tatsächlichen Einsatz jeglicher Glaubwürdigkeit entbehrt.

Die Legitimität der nuklearen Abschreckung selbst wurde von Völkerrechtlern infrage gestellt, da die Terrorisierung der Zivilbevölkerung mit dem humanitären Völkerrecht unvereinbar sei. 1996 räumte der Internationale Gerichtshof in seinem „Gutachten über die Androhung oder den Einsatz von Kernwaffen“ ein, dass er nicht abschließend beurteilen könne, ob die Androhung oder der Einsatz von Kernwaffen in einem Extremfall, „in dem das Überleben eines Staates auf dem Spiel steht“, rechtswidrig wäre. (Gemeint war vermutlich das Überleben der Bevölkerung und nicht nur der staatlichen Strukturen.)[5] 

Papst Franziskus hat nun die Zweideutigkeit der Position seiner Vorgänger aufgegeben, die allein den Besitz von Atomwaffen zu Abschreckungszwecken noch für akzeptabel gehalten hatten. 2017 verkündete er, dass „die Androhung ihres Einsatzes wie auch ihr Besitz selbst entschieden zu verurteilen sind“, da die Gefahr bestehe, dass sie versehentlich oder irrtümlich gezündet werden könnten.[6] Im selben Jahr berief die UNO die Konferenz ein, die den Vertrag über das Verbot von Kernwaffen verabschiedete. Er trat am 22. Januar 2021 in Kraft mit 86 Unterzeichnern, von denen 51 den Vertrag bis dahin ratifiziert hatten. Darunter waren logischerweise weder Atomwaffen besitzende Staaten noch deren Verbündete.[7] Kernwaffen existieren also weiter, sowohl im Arsenal der NATO als auch in dem ihres selbst ernannten Gegners Russland. Das Problem ist aber dieses: Wie verteidigt man sich gegen einen übermächtigen Gegner, insbesondere, wenn er Kernwaffen besitzt? 

Ganz generell: Wie bringt man einen übermächtigen, expansionistischen Gegner davon ab, einen militärisch schwächeren Staat angreifen zu wollen? Ein solcher Gegner wird selten durch ethische Argumente von seinem Vorhaben abgebracht werden. Was in solchen Fällen geschah, wenn der kleine Staat beispielsweise auf der strategischen Achse eines Angriffs lag, wissen wir aus vielen Beispielen, vom traurigen Schicksal der Melier, deren Insel im Peloponnesischen Krieg zwischen Athen und Sparta stand, bis hin zum Schicksal des „neutralen“ Belgiens in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. Überredung mit rein ethischen Argumenten ist demnach nicht erfolgversprechend. 

Abschreckung

Bleibt die „Überredung“ durch Abschreckung, das heißt, mit Drohungen. Diese können zweierlei Gestalt sein. Die eine – die für kleinere, schwächere Staaten allein kaum möglich ist – ist, dem Gegner klarzumachen, dass ein Angriff wegen der eigenen Verteidigungsstärke nicht erfolgreich sein wird. Das kann man Abschreckung durch Verweigerung („deterrence by denial“) nennen. Die andere ist die Androhung von Konsequenzen, die der Gegner nicht erleiden möchte, also einer Art Strafe („deterrence by punishment“).

Clausewitz hat eine weise Beobachtung gemacht: Solche Drohungen müssen in die Tat umgesetzt werden können, um glaubhaft zu sein.[8] Und auch wenn Drohungen glaubhaft sind, lässt sich ein Gegner womöglich nicht abschrecken. In den 1930er-Jahren meinte ein französischer Militärschriftsteller, Pierre Faure, man könne Deutschland davon abschrecken, seine Gegner in einem zukünftigen Krieg aus der Luft anzugreifen. Wenn Frankreich eine Bomberstreitmacht aufbaue, so argumentierte er, die größer wäre als die seiner Gegner,

„dann ließe die Angst vor furchtbarer, mit ihren unzähligen Toten in der Geschichte nie da gewesener Vergeltung jene auf der anderen Rheinseite sicherlich nachdenken, bevor sie einen neuen Krieg unternehmen. Wenn das deutsche Volk wüsste, dass ein Angriff seiner Armee auf Frankreich die wahrscheinliche und unverzügliche Vernichtung von zwanzig seiner größten Städte und der dortigen Bevölkerung bedeuten würde, schiene es durchaus zweifelhaft, dass die deutsche Regierung dieses Risiko eingehen würde. [...] 400 Flugzeuge, [...] mit der Fähigkeit, zwanzig deutsche Städte, die Rheinbrücken, wichtige Bahnhöfe und die großen Industriezentren zu vernichten, sind die beste Friedensgarantie, die wir haben können.“[9]

Er hatte bekanntlich unrecht: Deutsche Luftangriffe auf gegnerische Städte blieben nicht aus, nicht einmal auf Städte von Gegnern wie Großbritannien, die im Gegenzug die deutschen Städte in Schutt und Asche legen konnten.

Kernwaffen aber schienen Faures Abschreckungskalkulation realistisch zu machen. Der von ihnen verbreitete Schrecken – so konnte man nach der Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki glauben – würde in Zukunft zur Abschreckung von Angriffskriegen ausreichen. In der Tat war der erste Anstoß zur Entwicklung der Atombombe vom Abschreckungsgedanken motiviert. Einstein hatte im August 1939 gewarnt, dass deutsche Physiker an der Herstellung einer solchen Bombe arbeiten könnten. Diese Befürchtung teilten zwei Kernphysiker, die der Judenverfolgung des Deutschen Reichs nach England entkommen waren, der Deutsche Otto Frisch und der Österreicher Rudolf Peierls. Im Februar 1940, nur fünf Monate nach dem deutschen Angriff auf Polen und der damit verbundenen Kriegserklärung Großbritanniens und Frankreichs, schrieben sie an die britische Regierung und warben für die Entwicklung von Kernwaffen. Ihre Berechnungen ergaben, dass eine solche Waffe im Prinzip hergestellt werden könnte. Da sie sich keine Bunker in ausreichender Stärke und Anzahl zum Schutz gegen einen Kernwaffenangriff vorstellen konnten, bestünde die „wirkungsvollste Antwort […] in einer Gegendrohung mit einer ähnlichen Bombe. Uns scheint es daher wichtig, die Produktion baldmöglichst und schnellstmöglich aufzunehmen, auch wenn nicht beabsichtigt ist, die Bombe als Angriffsmittel einzusetzen.“[10]

Am Anfang der Entwicklung von Kernwaffen stand also die Absicht der Abschreckung, obwohl der erste Einsatz nicht auf Strafandrohungen folgte: Japan wurde vor den Atombombenabwürfen im August 1945 nicht gewarnt. Erst nach der Zerstörung der beiden Städte konnte man hoffen, dass zukünftig die Androhung eines Kernwaffengebrauchs reichen würde, um das zu erwirken, was selbst die von Faure geplante, 400 Flugzeuge umfassende Bomberflotte nicht erreicht hatte, nämlich einen Gegner von Angriffsplänen ganz abzuschrecken. So tief war und ist in einigen Kreisen der Glaube an diese Abschreckungswirkung der Atombombe, die die Zerstörungskraft qualitativ und quantitativ auf eine höhere Ebene bringt als alles vorher Dagewesene, dass sie in Frankreich als arme de non-emploi bezeichnet wurde, als „Nichtgebrauchswaffe“. Noch einmal um etliche Größenordnungen zerstörerischer war dann die Wasserstoffbombe, die von den USA zum ersten Mal 1952 getestet wurde und inzwischen wohl in den Arsenalen aller Kernwaffenmächte vorhanden ist.

Taktische Kernwaffen bei konventioneller Unterlegenheit

Der Optimismus, der insbesondere in den USA mit Kernwaffen verbunden war, schwand nicht mit der Einsicht, dass (aus amerikanischer Sicht „kleinere“) Kriege auch weiterhin stattfinden konnten. Wenigstens glaubte US-Präsident Truman, auf amerikanischer Seite Soldatenleben sparen zu können, indem er die ersten beiden Atombomben einsetzte. So kalkulierten Verteidiger dieser Entscheidung, der Einsatz in Hiroshima und Nagasaki hätte „eine halbe Million (amerikanischer) Leben gerettet“[11]

Ab den 1950er-Jahre entwickelten die Kernwaffenlabore Amerikas ein ganzes Sortiment von „taktischen“ Kernwaffen, die in der Funktion eine Vielzahl von konventionellen Waffen ersetzen bzw. eine Übermacht von Panzern, Flugzeugen und Schiffen des Warschauer Paktes abwehren können sollten. Atomare Sprengsätze sollten taktisch gefährliche Einfallpunkte entlang des Eisernen Vorhangs für Angreifer blockieren, und falls dies zur Abwehr nicht ausreichte, sollten Kurz- und Mittelstreckenraketen gegen vorstoßende Panzer auf westdeutschem Boden oder an den nordöstlichen Grenzen Italiens bzw. der Türkei zum Einsatz kommen. Angreifende Bombergeschwader sollten in der Luft durch Boden-Luft-Raketen abgeschossen, Schiffe durch nukleare Antischiffswaffen versenkt werden. Bis heute sollen nukleare Wasserbomben russischen U-Booten den Zugang zum Atlantik und damit den Angriff auf die Anrainerstaaten des Atlantiks verwehren. All dies schuf die Hoffnung, man könne angreifende konventionelle Streitkräfte mithilfe von Kernwaffen besiegen. Dass der Westen über diese Fähigkeit verfügte, müsse wiederum der Führung des Warschauer Paktes klar sein; die Verwehrung jeglichen Sieges sollte entscheidend zu ihrer Abschreckung beitragen. 

Was allerdings wäre von Mitteleuropa übrig, wenn es auf diese Weise zum atomaren Schlachtfeld würde? Diese Frage bewegte insbesondere die Westdeutschen. So stieß die angloamerikanische Strategie der 1950er- und 1960er-Jahre, die einen Kernwaffeneinsatz auf dem europäischen Kriegsschauplatz vorsah, um die quantitative konventionelle Unterlegenheit der NATO wettzumachen, schon in den späten 1950ern in der Bundesrepublik auf Widerstand. Kaum war die Bundeswehr gegründet, da nahm sie Mitte der 1950er-Jahre teil an NATO-Übungen, in deren Szenarien Millionen von Deutschen beim Einsatz von taktischen Kernwaffen auf deutschem Boden umkommen würden. Zyniker prägten damals den Spruch: „Je kürzer die Reichweite, desto toter die Deutschen.“ Der taktische Gebrauch von Kernwaffen – also insbesondere von Kurzstreckenwaffen sowie von atomaren Sprengsätzen entlang der Grenzen zwischen NATO und Warschauer Pakt – hätte zu hohen Verlusten unter den Bevölkerungen dieser Gebiete geführt, durch die Sprengkraft selbst und dann die Verstrahlung. Deutsche Verteidigungsexperten begannen, ihren Verbündeten zu erklären, dass taktische Kernwaffen für die Verteidigung des Bündnisgebiets inakzeptabel seien. Hätte doch der Versuch eines taktischen Sieges über einfallende Streitkräfte des Warschauer Paktes mit Kernwaffengebrauch durch die NATO zur Vernichtung großer Teile des eigenen Landes geführt.

Die große Debatte

Auch strategische Kernwaffen – solche, die im Extremfall gegen Städte der Sowjetunion eingesetzt werden sollten – konnten das Problem nicht so zufriedenstellend lösen, wie man zu Anfang glaubte. Nachdem die Sowjetunion 1949 ihren eigenen ersten Kernwaffentest durchgeführt hatte und begonnen hatte, eigene Kernwaffen zu entwickeln, verbreitete sich die Frage, die unmittelbar an die Logik des Memorandums von Frisch und Peierls anknüpft: Würden in Zukunft sowjetische Kernwaffen in einem sowjetischen Angriffskrieg gegen Westeuropa den Gebrauch von Kernwaffen durch die Amerikaner abschrecken? Sind also Kernwaffen nur zur Abschreckung des Gebrauchs anderer Kernwaffen gut? Würde damit die im selben Jahr gegründete, konventionell unterlegene NATO trotz Kernwaffen schwächer dastehen, falls UdSSR und Verbündete angreifen würden?

Es dauerte noch ein paar Jahre, bis die UdSSR über eigene einsatzfähige Kernwaffen verfügte, und dann noch ein paar weitere, bis sie die technische Fähigkeit hatte, diese nicht nur auf Westeuropa abzuwerfen, sondern auch mit Raketen US-Territorium zu erreichen. Fast ein Jahrzehnt lang konnte die westliche Kernwaffenstrategie noch mit einer nuklearen Bestrafung in Form der Bombardierung von Städten der Sowjetunion und ihrer Verbündeten drohen. Aber nachdem die UdSSR seit 1957 Interkontinentalraketen entwickelte, kamen auf beiden Seiten des Atlantiks Zweifel an der Verlässlichkeit eines amerikanischen Kernwaffeneinsatzes auf. Würde ein Präsident im Weißen Haus zur Verteidigung Europas wirklich einen Gegenschlag gegen Chicago oder New York riskieren? Dies war die „große Debatte“ der folgenden Jahre.

Die einfachste Reaktion auf dieses Dilemma war die Frankreichs, dessen Präsident Charles de Gaulle befand, dass Frankreich als souveräner Staat seine eigenen Kernwaffen entwickeln müsse. Ähnliches dachten die Regierungen in Schweden und der Schweiz – und mit umgekehrtem Vorzeichen in der Volksrepublik China, deren Regierungschef Mao sich zunehmend aus der sowjetischen Vormundschaft befreite. In der Bundesrepublik Deutschland war man sich allerdings bewusst, wie negativ die neuen Verbündeten im Westen so kurz nach dem Untergang des Dritten Reiches eine eigenständige Entwicklung von Kernwaffen sehen würden, ganz zu schweigen von den exorbitanten Ausgaben, die dies bedeutet hätte. Franz Josef Strauß liebäugelte als Verteidigungsminister mit dem Projekt europäischer Nuklearstreitkräfte, unterstützt von seinen Kollegen in Rom und – vor Rückkehr de Gaulles ans Ruder in Frankreich im Jahre 1958 – in Paris: Nicht zuletzt in Hinblick auf eine solche putative Entwicklung waren Ostern 1957 die Römischen Verträge unterzeichnet worden, darunter Euratom, der Vertrag zur gemeinsamen Forschung in Sachen Kernenergie. Gleichzeitig wurde ein deutsch-französisches Forschungszentrum in Saint-Louis eingerichtet, wo schon seit 1945 deutsche Wissenschaftler aus dem Umfeld von Wernher von Braun zusammen mit französischen Kollegen Raketentechnologie entwickelten.[12] 

Dieses Projekt scheiterte nicht nur an de Gaulle, der auf nationaler strategischer Souveränität beharrte und eine weitere Integration Europas ablehnte; diese aber braucht es, um an der Spitze eines vereinten Europas eine politische Instanz zu schaffen, die den Einsatz von Kernwaffen befehlen kann. Es scheiterte auch am Widerstand der anderen Nuklearmächte gegen eine weitere Verbreitung von Kernwaffen. Verschiedene Projekte wurden erörtert oder sogar realisiert, wie etwa die Multilateral Force, die in Form des mit Offizieren und Matrosen verschiedener NATO-Mitgliedsstaaten besetzten amerikanischen Schiffs USS Claude V. Ricketts, ausgestattet für Nuklearraketen, von 1964 bis 1965 tatsächlich auf See war. Aber alle diese Projekte, darunter aktuell der Einsatz von amerikanischen B61-Kernwaffen durch geeignete Flugzeuge (F35A) im Besitz einiger NATO-Staaten, die fähig sind, diese Waffen zu laden, unterliegen bis heute einem US-amerikanischen Veto. Das heißt, wenn ein US-Präsident zögert, Kernwaffen einzusetzen, dann können auch seine europäischen Verbündeten keine einsetzen. Mit Ausnahme Großbritanniens, das schon 1952 einen Kernsprengsatz testete, und Frankreichs, das 1960 ebenfalls seinen ersten Test durchführte.

Die USA und Großbritannien setzten sich gemeinsam mit aller Kraft gegen eine weitere Verbreitung von Kernwaffen ein. Dies geschah zum einen durch geheime amerikanische Versprechen, befreundeten Staaten im Angriffsfall zu Hilfe zu kommen – wie etwa den Verbündeten Japan und Südkorea im Pazifik oder dem neutralen Schweden in Europa. Zum anderen begann man innerhalb der NATO damit, gemeinsam mit den Verbündeten zu durchdenken, wie im Falle eines Angriffs durch den Warschauer Pakt Kernwaffen eingesetzt werden sollten, ohne dass man große Teile europäischen NATO-Gebiets zerstörte oder einem konventionellen Weltkrieg preisgab. Das Motto dieser Überlegungen, die bis heute in der Nuklearen Planungsgruppe (NPG) der NATO stattfinden (an der Frankreich nicht teilnehmen will), kann mit dem Titel eines damals berühmten Buches beschrieben werden: „Das Undenkbare denken“.[13]

Ersteinsatz zum Kriegsabbruch

Was aber ließe sich als weitere Alternative zur Einäscherung Mitteleuropas oder zur Städtebombardierung aus der Luft oder mit Langstreckenwaffen denken? Wie ließe sich vermeiden, dass einem Angriff durch den Warschauer Pakt entweder nur mit konventionellen Streitkräften oder mit taktischen Kernwaffen, die die angegriffene Region in ein verstrahltes Trümmerfeld verwandeln würden, oder mit strategischen Kernwaffen begegnet werden könnte?

Hier griff man auf eine Logik zurück, die schon für den Kernwaffeneinsatz gegen Hiroshima und Nagasaki gegolten hatte und auf die Beendigung, den Abbruch eines vom Gegner angefangenen Krieges zielte. Dahinter stand folgende Überlegung: Wenn der Gegner die NATO trotz amerikanischen (und britischen und französischen) Besitzes von Kernwaffen angreifen sollte, dann könne dies nur dem (Fehl-)Schluss geschuldet sein, die drei Kernwaffenmächte würden nicht zum Gebrauch dieser Waffen greifen, weil sie die Option des nuklearen Schlachtfelds vermeiden wollten, obwohl rein konventionelle Mittel zur Abwehr des Angriffs nicht ausreichten. Abschreckung hätte im Fall eines solchen Angriffs wegen mangelnder Glaubhaftigkeit versagt. Wie also könnte man die Glaubhaftigkeit des Willens zur Eskalation wiederherstellen? Und zwar ohne sogleich zum Äußersten zu schreiten, nämlich der Bombardierung von Großstädten, die mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zum Abbruch des Krieges, sondern zu den extremsten Vergeltungsmaßnahmen – Gegenangriffen auf amerikanische Großstädte – führen würde? Allein dieser Gedanke würde zur Selbstabschreckung Amerikas führen.

Verteidigungsexperten hatten sich an mehreren Stellen hierzu Gedanken gemacht. Schon Anfang der 1960er-Jahre war man im Vereinigten Königreich zu dem Schluss gekommen, ein Ersteinsatz von Kernwaffen seitens der NATO – das heißt seitens der USA oder Großbritanniens – müsse gleichzeitig eine weitere Eskalation androhen, aber den Gegner nicht zum völlig verzweifelten Gegenschlag führen. Er müsse klarstellen, dass man nicht mehr zögere, Kernwaffen einzusetzen, aber dennoch zur Verhandlung, zum Kriegsabbruch willens sei. In der NPG einigte man sich Ende 1969 darauf, dass ein solcher Ersteinsatz gegen gegnerische Streitkräfte und Verkehrsknotenpunkte außerhalb von dicht bevölkerten Gebieten, nicht aber direkt gegen Städte geführt werden sollte. Das Problem: Hierzu bedurfte es einer Präzision der einzusetzenden Kernwaffen, die in den 1960er-Jahren noch nicht gegeben war. Dafür aber würde man für einen solchen Wiederabschreckungszweck nur wenige Waffen brauchen, denn man war mittlerweile davon abgerückt, einen Angriff gänzlich auf taktischer Ebene abschmettern zu wollen. Ein beschränkter Kernwaffeneinsatz mit dem Ziel der Kriegsbeendigung durch den Gegner hätte nicht die Aufgabe gehabt, diesen taktisch zu besiegen, sondern nur, ihn zum Umdenken zu zwingen.[14] 

Zu diesen Einsatzzweck wurden in the 1970er-Jahren Präzisionsflugkörper entwickelt. Um solche handelte es sich auch bei den 572 „Euromissiles“, den Marschflugkörpern und Raketen, die die NATO im Dezember 1979 in den Folgejahren in Europa zu stationieren beschloss. Sie ersetzten 1400 weniger präzise Kernwaffen, die ab 1983 verschrottet wurden. Damit ging es also, summa summarum, um eine Einschränkung der Zerstörungskraft eines Erst- oder Zweiteinsatzes von Kernwaffen durch die NATO und nicht, wie führende sowjetische Militärs und Vertreter westlicher Protestbewegungen der frühen 1980er-Jahre behaupteten, um einen Beweis zunehmender Kriegsfreudigkeit der NATO-Staaten. Wer den Frieden will, muss jedoch glaubhaft zeigen können, wie er sich effektiv verteidigen könnte.

Ethische Einstellungen im Wandel

Der Hintergrund hierzu ist auch ein Fortschritt westlicher Einstellungen zum Töten von Zivilisten. Trotz lang anhaltender Bemühungen human gesinnter Theologen, Philosophen und Juristen, den Krieg einzuhegen und Zivilisten besser zu schützen, bildete der Zweite Weltkrieg den Höhepunkt menschlichen Leidens. Millionen von Zivilisten kamen in Asien und Europa um, mehr als in jedem früheren Krieg.[15] Es ist nicht sinnvoll, die Opferzahlen aufzurechnen, aber es ist Tatsache, dass zu diesen horrenden Zahlen auch die Bombardierung gegnerischer Städte durch die britische und amerikanische Luftwaffe beitrug. Diese Strategie bestand weiter in den Folgekriegen, in Korea und Vietnam. 

Erst mit den Protesten gegen Kernwaffen in Europa in den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren, und dann mit ähnlichen Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, setzte im Westen ein Gesinnungswandel ein. Das absichtliche Bombardieren von Zivilisten, insbesondere in Städten, wurde zunehmend verurteilt. Dieser Wandel konkretisierte sich 1977 mit der Annahme der Zusatzprotokolle der Genfer Konventionen, die solches Bombardement zum Kriegsverbrechen erklärten. Dies befeuerte erneut die Vorbehalte gegen die bestehenden Doktrinen zum Gebrauch von Kernwaffen. Führende Kernwaffentheoretiker setzten sich dafür ein, dass zumindest ein nuklearer Ersteinsatz nicht auf dicht besiedeltes Gebiet zielen sollte, sondern auf militärische Ziele, auch wenn nicht mehr die Absicht bestand, einen Angriff des Warschauer Paktes gänzlich mit taktischen Kernwaffen abzuwehren. 

Dies war also das Abschreckungskonzept der NATO am Ende des Kalten Krieges: Da man einen Angriff des Warschauer Paktes weder völlig abschrecken noch konventionell oder mit taktischen Kernwaffen würde abwehren können, setzte man auf eine beschränkte Zahl von präzisen Mittelstreckenwaffen, die auf das Militär und militärische Infrastruktur zielen sollten, ohne damit militärisch gewinnen zu wollen. Man wollte vielmehr einen ausreichend großen Schock erzielen, um den Gegner zur Einsicht zu bringen, dass er sich gehörig verkalkuliert hatte, falls er annahm, die NATO würde sich nicht resolut und wenn nötig mit Kernwaffeneinsatz verteidigen. Der Gegner sollte aber eine letzte Chance bekommen einzulenken. Die Abschreckung sollte also wiederhergestellt werden.  

Der (erste) Kalte Krieg ging 1991 mit der Auflösung des Warschauer Paktes zu Ende, und in den Folgejahren rüsteten beide Seiten viele ihrer Kernwaffen ab. Die „Euromissiles“ – die Mittelstreckenraketen – wurden vollständig aus Europa entfernt, wie auch taktische Kernwaffen jeder Art. 

Abschreckung heute: Nukleare und nicht nukleare strategische Waffen

Wie sollte man einem expansionistischen Russland heute begegnen? Soll man zum Arsenal der 1980er-Jahre zurückkehren und all die hart erkämpften Rüstungskontrollabkommen, die mit dem Ende des Kalten Krieges einhergingen, rückgängig machen? Neben den bereits erwähnten B61-Freifallbomben im Besitz einzelner Alliierter, deren Einsatz durch den US-Präsidenten freigegeben werden müsste, verfügt nur Frankreich noch über nicht strategische Nuklearwaffen (Luft-Boden-Raketen), die zur Wiederherstellung der Abschreckung nach Beginn eines russischen Angriffs eingesetzt werden könnten. 

Inzwischen gibt es neue Waffensysteme und damit vielleicht neue Möglichkeiten der Abschreckung. Heute kann man fragen, ob ein solcher Schock zur Wiederherstellung der Abschreckung nicht auch anders beigebracht werden könnte als etwa mit Kernwaffen. Größere Präzision von Raketen und Marschflugkörpern bedeutet, dass man nicht mehr mangelnde Treffgenauigkeit durch größere Sprengkraft kompensieren muss. Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz und des Cyberraums kommen hier mit Flugtechnik zusammen.[16] Zudem ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein amerikanischer Präsident oder ein amerikanischer militärischer Oberbefehlshaber der NATO den Einsatz von sehr präzisen konventionellen Waffen zur Verteidigung Europas befehlen würde, sehr viel größer als im Falle von Kernwaffen. Entsprechend ist die Ankündigung der Aufstellung von konventionell bestückten, nicht nuklear bestückten Marschflugkörpern, ballistischen Raketen und Hyperschallwaffen in Deutschland ab 2026 durchaus zu begrüßen. Sie ist mit weniger möglichen Kollateralschäden und ebenfalls mit weniger ethischen Problemen behaftet als nukleare Alternativen und hat dennoch das Potenzial, die Abschreckung von Angriffen auf NATO-Bündnispartner zu erwirken, ohne allerdings die Kernwaffen-Abschreckung völlig zu ersetzen. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit solchen Fragen, wie sie der vorliegende Beitrag skizziert, mag insbesondere nach einer langen Phase des Friedens für weite Teile der Bevölkerung unbequem sein. Auf absehbare Zeit kann man ihr im Rahmen einer Diskussion über Kriegstüchtigkeit und die Bedrohung durch einen gewaltbereiten, unverhohlen feindselig agierenden russischen Staat aber nicht ausweichen.

 


[1] Vegez (Vegetius, Flavius Renatus): Epitoma de re militari (c. A.D. 387), übers. von Friedhelm L. Müller. Vegetius: Abriss des Militärwesens. Stuttgart 1997.

[2] Zitiert in „The Popes and the atomic threat: Appealing to world's conscience“, https://www.vaticannews.va/en/pope/news/2021-01/the-popes-and-the-atomic-threat-appealing-to-world-s-conscience.html (Stand: 13.7.2024).

[3] The Challenge of Peace: God’s Promise and Our Response(1983). Text in Reichberg, Gregory, Syse, Henrik und Begby, Endre (Hg.) (2006): The Ethics of War: Classic and Contemporary Readings. Oxford, S. 670-676.

[4] Text in Reichberg, Gregory, Syse, Henrik und Begby, Endre (Hg.) (2006), s. Endnote 3, S. 676-680.

[5] Casey-Maslen, Stuart (2018): The Status of Nuclear Deterrence and Their Compatibility with International Humanitarian Law: A Primer. In: Yearbook of International Humanitarian Law, S. 23-58.

[6] Papst Franziskus (2017): Address of His Holiness Pope Francis to Participants in the International Symposium ‘Prospects for a World Free of Nuclear Weapons and for Integral Disarmament (Rom, 10 November). http://www.vatican.va/content/francesco/en/speeches/2017/november/documents/papa-francesco_20171110_convegno-disarmointegrale.html (Stand: 26.7.2020).

[8] Clausewitz: Vom Kriege, VIII.3B.

[9] Zitiert in Heuser, Beatrice (2010): Den Krieg denken: Die Entwicklung der Strategie seit der Antike. Paderborn, S. 356.

[10] Zitiert in Heuser, Beatrice (2010), s. Endnote 9, S. 392.

[11] Miles, Rufus E., Jr. (1985): Hiroshima: the strange myth of half a million American lives saved. In: International Security10.2, S. 121-140.

[12] Heuser, Beatrice (1998): The European Dream of Franz Josef Strauss. In: Journal of European Integration History 3.1, S. 75-103.

[13] Kahn, Herman (1960): Thinking the Unthinkable. New York.

[14] Heuser, Beatrice (1997): NATO, Britain, France and the FRG: Nuclear Strategies and Forces for Europe. London.

[15] Rein quantitativ litten und starben damit mehr Menschen als je zuvor, auch wenn man argumentieren kann, dass etwa im Dreißigjährigen Krieg relativ zur Gesamtbevölkerung der betroffenen Gebiete proportional mehr Zivilisten umkamen.

[16] Heuser, Beatrice (1992): NATO, Nuclear Weapons and the New Europe. In: Orbis 36.2, S. 221-226. Dreißig Jahre später ist dieser Gedanke auch anderen gekommen, siehe Futter, Andrew and Zala, Benjamin (2021): Strategic non-nuclear weapons and the onset of a Third Nuclear Age. In: European Journal of International Security 6, S. 257-277.

Zusammenfassung

Beatrice Heuser

Beatrice Heuser ist Distinguished Professor an der Brussels School of Governance, Vrije Universiteit Brussel und lehrt Strategie an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg. Habilitiert an der Universität Marburg, hatte sie bis 2024 den Lehrstuhl für Internationale Beziehungen an der Universität Glasgow inne, davor am King’s College London und an der Universität Reading. Zu ihren Interessensschwerpunkten Kriegsführung und Strategisches Denken und insbesondere zur Kernwaffenstrategie hat sie umfangreich publiziert. 


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