Kontroversen in Militärethik und Sicherheitspolitik
Medizinische Ethik im militärischen Kontext – eine Herausforderung für Forschung und Lehre
Medizin und Militär gehen seit jeher Hand in Hand. Ein Sachverhalt, der angesichts der Gefahr, die der Krieg für Leib und Leben der beteiligten Akteure darstellt, nicht wirklich überrascht.
Auf die Relevanz medizinischer Versorgung im Krieg hatte in der Neuzeit nicht zuletzt Henry Dunant (1828–1910) in seinem Bericht Un Souvenir de Solferino (deutsch Eine Erinnerung an Solferino) hingewiesen.1 Sein Werk zählt bis heute zu den grundlegenden Dokumenten der Moderne, die die Entwicklung des humanitären Völkerrechtes angestoßen haben. Hierin fordert Dunant nicht nur die konsequente Einrichtung sanitätsdienstlicher Hilfe im Krieg, sondern auch den von den Kriegsakteuren einzuhaltenden Schutz des Sanitätsdienstes. Die Bemühungen, Leben zu retten, bedürfen in einem Umfeld, in dem Leben genommen werden, der besonderen Absicherung. Seine Forderungen fanden wenig später in der Genfer Rot-Kreuz-Konvention von 1864 ihren Niederschlag. Diese erste Genfer Konvention ist von großer Bedeutung. Sie und die auf sie folgenden Dokumente stellen aus medizinethischer Sicht eine der größten Errungenschaften der Menschheit dar.
Die Tatsache, dass sich die Weltgemeinschaft im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg zur Formulierung der aktuellen Genfer Konventionen und ihrer Zusatzprotokolle durchringen konnte, erscheint im Nachgang als ein in der Menschheitsgeschichte hervorstechendes Ereignis. Die Bedeutung der in ihr festgehaltenen Prinzipien wird gerade vor dem Hintergrund der asymmetrischen Konflikte des 21. Jahrhunderts deutlich. Ob man sich heute abermals auf ein entsprechendes weltweit gültiges Regelwerk einigen könnte, erscheint fraglich. Dabei ist und bleibt die Absicherung sanitätsdienstlichen Handelns eine besondere Herausforderung mit dem Ziel, der Menschlichkeit auch in Zeiten des Krieges zum Durchbruch zu verhelfen. Dies zeigte sich eindrücklich im Rahmen des ISAF-Einsatzes.2 Diesem Ziel hat die militärische Ausbildung Rechnung zu tragen.3
Wehrmedizinethik als neues Fach
Dabei ergeben sich im militärischen Kontext moralische Probleme, mit denen es die Medizinethik im zivilen Kontext nicht zu tun hat. Zu ihrer Bewältigung bedarf es neben medizinethischer auch militärethischer Kenntnisse, sodass sich ein Zwischenbereich ethischer Reflexion ergibt. Als Bezeichnung hat sich hier seit einigen Jahren der Begriff Wehrmedizinethik bzw. Militärmedizinethik (englisch Military Medical Ethics) etabliert. Der in der deutschen Bundeswehr verwendete Begriff Wehrmedizinethik leitet sich vom Begriff Wehrmedizin ab. Hierbei handelt es sich um ein medizinisches Spezialgebiet, das sich mit der Prävention, Diagnose und Therapie von Krankheiten und Verletzungen im militärischen Bereich beschäftigt. Die Rede von Wehrmedizinethik ist Ausdruck einer Bemühung um terminologische Stringenz.4
Eine systematisierte und institutionalisierte Beschäftigung mit wehrmedizinethischen Fragen findet seit 2016 an der Lehr- und Forschungsstelle für Wehrmedizinische Ethik (LFWME) statt. Sie wurde als Kooperationsprojekt zwischen dem Sanitätsdienst der Bundeswehr und der Katholischen Militärseelsorge als von Letzterer finanziertes Drittmittelprojekt an der Sanitätsakademie der Bundeswehr in München eingerichtet. Ziel des Projektes ist insbesondere die wehrmedizinethische Grundlagenforschung, auf die verschiedene Ausbildungsprogramme des Sanitätsdienstes aufbauen können.
Darüber hinaus gilt es, einen Beitrag zum Gelingen der nationalen und internationalen militärmedizinethischen Diskurse zu liefern. In diesem Zusammenhang sind die verschiedenen philosophischen Ansätze in der Ethik zu bedenken. Die Frage, ob eine Medizinethik pflichten-, nutzen- oder tugendethisch motiviert ist, spielt eine nicht unerhebliche Rolle. Während eine Pflichtenethik im Vorfeld als bindend erkannte Gebote zur Grundlage moralischen Handelns erklärt, leitet eine nutzenorientierte Sichtweise den moralischen Wert einer Handlung aus deren Folgen ab. Die heute wieder vermehrt Beachtung findenden tugendethischen Ansätze entwickeln aus der tugendhaften Haltung des Handelnden entsprechende Handlungsentwürfe. Wird diese Unterscheidung nicht bedacht, ergeben sich nicht selten schwerwiegende Diskursverwerfungen, die eine gelingende Verständigung bei der Formulierung international verbindlicher ethischer Standards erschweren. Beispielhaft ließe sich hier auf die mit der Doppelverwendung als Arzt und Soldat einhergehende Diskussion um militärische und medizinische Notwendigkeit verweisen. Ob sanitätsdienstliches Handeln primär militärischen oder medizinischen Zwecken zu genügen hat, wird international unterschiedlich beurteilt. Hierin liegt auch die Schwierigkeit begründet, die vorwiegend nutzenorientierten angelsächsischen Publikationen zur Militärmedizinethik unreflektiert im bundesdeutschen Kontext aufzugreifen. Die kritische Lektüre entsprechender Texte setzt die Kenntnis der zugrundeliegenden philosophischen Sichtweise des jeweiligen Autors voraus. Diese gilt es vor dem Hintergrund alternativer Ansätze wie beispielsweise den von Tom L. Beauchamp und James F. Childress formulierten biomedizinethischen Prinzipien zu diskutieren.5
Wehrmedizinethische Fragen unserer Zeit
Zu den zentralen wehrmedizinethischen Problemen unserer Zeit zählt sicherlich die Frage der doppelten Loyalität. Diese ergibt sich beispielsweise aus der zeitgleichen Verwendung als Arzt und Soldat bzw. Ärztin und Soldatin. Gerade im Zusammenhang mit dem Einsatz der International Security Assistance Force (ISAF) der Jahre 2001 bis 2014 kamen eine Reihe wehrmedizinethischer Fragen auf, die national und international bisweilen sehr kontrovers diskutiert werden. Hierzu zählt beispielsweise die Frage nach dem Waffengebrauch durch Sanitätspersonal. Ob die in den Genfer Abkommen getroffenen Vereinbarungen zum Schutz sanitätsdienstlichen Handelns ausreichen, wurde im Kontext des Afghanistaneinsatzes nicht nur in der Bundeswehr kontrovers diskutiert. Auch die Frage nach der medizinischen Versorgung der Bevölkerung im Einsatzland ist zu nennen. Die hiermit einhergehenden Allokationsprobleme stellen die betroffenen Entscheidungsträger vor schwierige medizinethische Probleme. International beschäftigte der Umgang mit Folter die Militärmedizinethiker nicht weniger als die Frage, ob sich die Kranken- und Verwundetenversorgung eher an militärischen oder medizinischen Notwendigkeiten auszurichten habe.6
Die Nähe der Wehrmedizinethik zur Technikethik wird beim Thema Human Enhancement offenkundig. Die Frage, wie im militärischen Kontext mit der Möglichkeit einer technischen Verbesserung des Menschen umzugehen sei, wird in Zukunft zunehmend an Relevanz gewinnen.
Der Tatsache, dass ethische Fragen im Hinblick auf die Selbstverwirklichung des Menschen als eines moralischen Wesens eine wichtige Rolle spielen, trägt in besonderer Weise die Moralpsychologie Rechnung. Moralische Konflikte bleiben nicht ohne Wirkung auf Seele und Körper, und das Phänomen der moralischen Verletzung (englisch Moral Injury) beschäftigt zunehmend Psychologen, Ethiker und Seelsorger.
PMM-Modell
Allgemein kommt der Vermittlung ethischer Kompetenz eine zentrale Bedeutung für die erfolgreiche Bewältigung einer soldatischen Verwendung im In- und Ausland zu. Im Anschluss an das vielgliedrige US-amerikanische Comprehensive-Soldier-Fitness-Modell (u. a. Family Fitness, Social Fitness, Spiritual Fitness) erscheint unter anwendungsorientierten Gesichtspunkten eine Reduktion auf drei zentrale Kernkompetenzbereiche ratsam.
Das von der Lehr- und Forschungsstelle für Wehrmedizinische Ethik vorgeschlagene PMM-Modell weist neben der physischen die mentale und die moralische Fitness aus (vgl. Abb. 1). Dabei hat sich der Fitnessbegriff als besonders hilfreich erwiesen, wenn es darum geht, die individuelle Verantwortung und Gestaltungsmöglichkeit zu betonen. In Analogie zum Gebrauch des Fitnessbegriffs im Sport lässt sich die Notwendigkeit eines Trainings des Soldaten zum Kompetenzerwerb sowohl auf körperliche als auch auf mentale und moralische Fähigkeiten ausdehnen. Die Bedeutung einer körperlichen Fitness der Soldatin oder des Soldaten ist augenscheinlich. Ferner erweist sich die mentale Fitness insbesondere im Hinblick auf potenzielle Traumafolgestörungen als relevant. Darüber hinaus kommt der moralischen Fitness im Hinblick auf die mit den Auslandseinsätzen verbundenen moralischen Herausforderungen, die ethisch reflektiert werden wollen, eine wichtige Bedeutung zu.
Medizinethisches Lehren und Lernen
Medizinethische Kenntnisse bilden eine Voraussetzung für gelingendes sanitätsdienstliches Handeln, aber auch für die übrigen Teilstreitkräfte ist ein entsprechendes Grundlagenwissen unverzichtbar. Dabei sind die Anforderungen, die sich aus unterschiedlichen Verwendungen sowohl im Sanitätsdienst als auch in den übrigen Teilstreitkräften ergeben, zu berücksichtigen. Die Erarbeitung einer Zentralen Dienstvorschrift zur ethischen Bildung in der Bundeswehr im Jahr 2019 unterstreicht dies nachdrücklich auf allgemeinethischem Gebiet und verweist dabei mitunter auf die Medizinethik.
Die Ethikausbildung in der Bundeswehr hat neben der Vermittlung fundamentalethischer Kenntnisse einer Reihe von Bereichsethiken Rechnung zu tragen. Neben der Militärethik und Friedensethik müssen die verschiedenen Teilstreitkräfte im Hinblick auf die heutigen Reallagen beispielsweise Fragen der Führungsethik, der Cyberethik, der politischen Ethik, der Technikethik oder der Medizinethik Beachtung schenken. Deutlich zeigt sich hier der Charakter der Ethik als Querschnittsfach, das neben moralphilosophischen Kenntnissen profundes Wissen in verschiedenen akademischen Disziplinen erfordert. Diesem Sachverhalt muss bei der Auswahl geeigneten Lehrpersonals Rechnung getragen werden. Hier gilt es zu bedenken, dass die Komplexität und die Vielfalt bereichsethischer Thematiken heutzutage kaum mehr von einer Lehrperson allein bewältigt werden kann. Beispielhaft ließe sich hier die Beschäftigung mit der Frage nach dem Beginn menschlichen Lebens anführen, die nicht ohne entsprechende Kenntnisse in Humangenetik, Embryologie, Anthropologie, Reproduktionsmedizin, Gynäkologie und Perinatalmedizin gemeistert werden kann. Interdisziplinarität ist hier also nicht nur von Vorteil, sondern Voraussetzung. Analoge Beispiele lassen sich für alle oben genannten Bereichsethiken formulieren. In diesem Zusammenhang geht es keineswegs darum, die Beschäftigung des Einzelnen mit der Ethik durch Überfrachtung der Anforderungen zu blockieren! Sehr wohl geht es darum, Lehrende mit einer entsprechenden Kompetenz auszustatten, sodass sie die von ihnen vorgetragene Lehre gegenüber dem Dienstherrn, gegenüber den Lernenden und gegenüber sich selbst verantworten können.
Im Hinblick auf die Vermittlung und die Aneignung ethischer Kenntnisse kann zwischen einer Ethik des Lehrens und einer Ethik des Lernens unterschieden werden, wobei die Medizinethik im Folgenden als Paradigma dienen soll. Eine Ethik des Lehrens fokussiert unter anderem auf die zu verantwortende wissenschaftliche Qualifikation des Lehrpersonals und auf die Konzeption eines Lehrangebotes für die Lernenden, das sowohl allgemeinethische als auch bereichsethische Kompetenzen zu vermitteln vermag. Eine Ethik des Lernens basiert auf der Erkenntnis, dass die Beschäftigung mit ethischen Fragen selbst Ausdruck moralisch zu verantwortenden Handelns ist. Die lernenden Soldatinnen und Soldaten hierfür zu sensibilisieren und zu motivieren, stellt eine nicht zu unterschätzende Anforderung dar.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, einen Trugschluss schwerwiegender Art abzuwehren: Ethische Kompetenz darf nicht mit Moralität verwechselt werden. Moralität meint die Befähigung des Menschen zu einem guten Handeln, das im Widerspruch zum Bösen steht. Ethik ist eine akademische Wissenschaft, die eben diese Fähigkeit des Menschen im Blick hat. Ethik verhält sich zur Moralität so wie beispielsweise die Psychologie zur Psyche. Die Psychologie als Wissenschaft hat die Psyche im Blick, die Ethik als Wissenschaft die Moralität.
Ethik muss in Forschung und Lehre wissenschaftlichen Standards genügen. Die Annahme, dass jeder, auch ohne entsprechende akademische Vorbildung, als Ethiklehrer eingesetzt werden könne, erscheint sowohl im Hinblick auf den Lehrenden als auch im Hinblick auf den Lernenden nicht verantwortbar.
Stufen ethischer Ausbildung
Ethische Ausbildung kann nur in Stufen erfolgen. Ausgehend von einem außermilitärisch in Familie, Schule und Gesellschaft erworbenen heterogenen Basiswissen gilt es, ein vergleichbares und allen gerecht werdendes Grundwissen zu vermitteln. Tatsächlich bringen Soldatinnen und Soldaten heute ein sehr unterschiedlich ausgeprägtes Werte- und Normenverständnis in die Bundeswehr ein. Die Anleitung zur kritischen Beschäftigung mit Werten und Normen geschieht bislang vor allem im Rahmen des Lebenskundlichen Unterrichtes, der weitestgehend von den Militärseelsorgerinnen und Militärseelsorgern erteilt wird. Durch ihre theologische und philosophische Ausbildung sind diese in besonderer Weise hierfür qualifiziert. Hiervon zu unterscheiden sind die auf einer dritten Stufe zu verortenden bereichsethischen Inhalte (Funktionswissen), die der je individuellen militärischen Verwendung genügen müssen. Beispielsweise bedürfen Angehörige des Sanitätsdienstes weitreichenderer medizinethischer Kenntnisse als Angehörige anderer militärischer Tätigkeitsbereiche.
Ethische Kompetenz in der Wehrmedizin (EthKompWM)
In den letzten Jahren gewann die Wehrmedizinethik in den sanitätsdienstlichen Ausbildungsprogrammen national und international an Bedeutung. In der Bundeswehr wurden entsprechende Lehrinhalte in eine Vielzahl von Lehrformaten integriert. Dabei kommt der Sanitätsakademie der Bundeswehr in München eine Vorreiterrolle zu. Darüber hinaus wurden Fort- und Weiterbildungsformate an den Bundeswehrkrankenhäusern entwickelt. Der alle zwei Jahre stattfindende internationale Studientag zur Medizinethik, der in Kooperation von Katholischer Militärseelsorge, Zentrum für ethische Bildung in den Streitkräften (zebis) und Sanitätsakademie der Bundeswehr durchgeführt wird, ergänzt das medizinethische Bildungsangebot.
Die Frage, wie eine dienstgradgruppengerechte allgemeine und verwendungsbezogene bereichsethische Ausbildung sanitätsdienstlichen Personals erfolgen kann, hat für die Wehrmedizin eine hohe Priorität. In besonderer Weise versucht die Lehr- und Forschungsstelle für Wehrmedizinische Ethik sich in diesen Diskurs einzubringen. Dabei ist die Frage, welchen didaktischen und inhaltlichen Erfordernissen wehrmedizinethische Bildung zu genügen hat, keine rein bundeswehrinterne Frage. Im Rahmen eines konzeptuellen Vorschlags für die Medizinerausbildung ließen sich paradigmatisch folgende allgemeine Anregungen formulieren: Im Sinne des lebenslangen Lernens erscheint ein punktuelles eingliedriges Lehrangebot nicht zielführend. Wehrmedizinethische Aus-, Fort- und Weiterbildung sollte alle Phasen der Ausbildung, des Studiums und der beruflichen Tätigkeit der Angehörigen des Sanitätsdienstes begleiten. Die Einsicht und Förderung der Beschäftigung mit medizinethisch relevanten Themen könnte ein bereits früh im Ausbildungsprozess einsetzendes dreigliedriges Modell unterstützen.
In einem ersten Schritt könnte ein Studientag zur Ethik, der optimalerweise noch vor Beginn des universitären Studiums im Rahmen der allgemeinen Grundausbildung erfolgt, einen ersten Einblick in moralische Probleme und Fragen geben. Hierbei bestände die Möglichkeit, auf die Bedeutung der Ethik im Hinblick auf eine positive Bewältigung der aufgeworfenen Fragen und Probleme hinzuweisen. Die beispielsweise im Rahmen des Studiums der Humanmedizin im Fach Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an den medizinischen Fakultäten angebotenen Lehrveranstaltungen können so als wichtige Vertiefungsmöglichkeit begriffen werden. Dabei erweist sich die Ethik als eng verbunden mit der Geschichte und Theorie der Medizin. Da Truppenärzte in der Ausbildung ihr Studium nicht an einer zentralen Ausbildungseinrichtung absolvieren, sondern über die medizinischen Fakultäten der Bundesrepublik verteilt, gilt es, in einem zweiten Schritt durch die Bereitstellung studienbegleitender Lehrschreiben einen einheitlichen Stand herzustellen. Diese böten zudem die Möglichkeit, für folgende ethische Lehrangebote einen allen gemeinsamen grundlegenden Kenntnisstand sicherzustellen. Hierzu empfiehlt die Lehr- und Forschungsstelle ein in seinem Umfang überschaubares Lehrscheiben pro Studienjahr. Auf einer dritten Stufe der Ethikausbildung ließe sich auf das an der Sanitätsakademie der Bundeswehr bereits etablierte Ethikmodul im Rahmen der postuniversitären Medizinerausbildung aufbauen. Da eine medizinethische Grundbildung bereits im Rahmen des Faches Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin in Kombination mit den studienbegleitenden Lehrschreiben erfolgte, könnte nunmehr zügig mit der Erarbeitung wehrmedizinethischer Fallbeispiele begonnen werden. Diese böten noch im Vorfeld erster Auslandseinsätze die Möglichkeit, sich mit den hiermit einhergehenden moralischen Schwierigkeiten zu beschäftigen.
Als Anreiz zur Beschäftigung mit wehrmedizinethischen Fragen könnte ein nach erfolgreichem Abschluss des vorgeschlagenen Programmes verliehenes Zertifikat „Ethik in der Wehrmedizin“ dienen, das dem Arzt bzw. der Ärztin über die Verwendung in der Bundeswehr hinaus eine entsprechende medizinethische Qualifikation bescheinigt.
Ergänzend zu einer akademisch verorteten wehrmedizinethischen Aus-, Fort- und Weiterbildung empfiehlt die Lehr- und Forschungsstelle für Wehrmedizinische Ethik eine Abbildung entsprechender Inhalte auch im Rahmen der praktisch-militärischen Ausbildung, wie zum Beispiel in Verfahren taktischer Verwundetenversorgung. Gezielt gesetzte moralische Konfliktsituationen böten den Soldatinnen und Soldaten die Möglichkeit einer praktischen Erprobung der theoretisch erworbenen Kenntnisse. Auf diese Art und Weise ließe sich die Akzeptanz wehrmedizinethischer Ausbildung in besonderer Weise steigern. Vormals als theoretisches Gedankenspiel wahrgenommene Überlegungen können somit in ihrer Relevanz für die erfolgreiche Einsatzbewältigung von den Soldatinnen und Soldaten erkannt werden. Wehrmedizinethisch bedeutsame Allokationsprobleme, die sich zum Beispiel im Hinblick auf die Versorgung der Zivilbevölkerung im Einsatzland oder im Hinblick auf einen Massenanfall von Verwundeten ergeben, bieten sich in diesem Zusammenhang in besonderer Weise an.
Moralische Verletzung
Die im Kontext verschiedener Traumafolgestörungen nach einem Auslandseinsatz erkannte Bedeutung moralischer Verletzungen sollte im Rahmen wehrmedizinethischer Forschung und Lehre besonders bedacht werden. Dabei wird unter dem Begriff „moralische Verletzung“ ein im Rahmen eines traumatisierenden Ereignisses zu verortendes Konstrukt verstanden, bei dem Fragen der Moral im Vordergrund stehen.7 Die erlebte Realität kann hierbei mit den eigenen Wert- und Normvorstellungen nicht mehr in Einklang gebracht werden. Die Rolle, die ethischer Bildung im Zusammenhang mit Prävention, Therapie und Rehabilitation von Moral-Injury-assoziierten Traumafolgestörungen zukommt, stellt einen wichtigen Gegenstand gegenwärtiger und zukünftiger Forschung dar. Hierbei wird ein interdisziplinärer Ansatz zu verfolgen sein, der Psychiatrie, Psychologie und Ethik miteinander ins Gespräch bringt. Ein schwerwiegendes und bisher nicht untersuchtes Problem ist die Frage, ob ethische Bildung und die hiermit einhergehende Schärfung eines Werte- und Normenbewusstseins einen begünstigenden Effekt für eine moralische Verletzung darstellt.8 In diesem Zusammenhang bedarf es weiterer Studien, in deren Anschluss evidenzbasierte Aussagen möglich sind. Der Klärung dieser Frage sollte eine hohe Priorität im Rahmen der wehrmedizinischen und wehrmedizinethischen Forschung eingeräumt werden.
Lebenspraktische Relevanz ethischer Bildung
Die Motivation, sich mit wehrmedizinethischen Themen zu beschäftigen, steigt in der Regel mit zunehmender klinischer und militärischer Erfahrung. Der Zeitpunkt, zu dem eine ethische Frage im Leben eines Menschen relevant wird, liegt zumeist in weiter Distanz zu den in der Ausbildung angesprochenen Herausforderungen und Problemen. Im Sinne eines lifelong learning bedarf es einer das ganze Berufsleben begleitenden Fort- und Weiterbildung, sodass gewonnene Erfahrungen und Einsichten zu einem vertieften Verständnis für die lebenspraktische Relevanz ethischer Überlegungen führen können.
Den vielfältigen Angeboten der Militärseelsorge kommt in diesem Zusammenhang eine zentrale Bedeutung zu. Dies gilt umso mehr, als hier ein Schutzraum für die ethische Auseinandersetzung geboten wird, in dem Fragen und Probleme offen angesprochen werden können.
Das PMM-Modell legt in Analogie zum Fitnessbegriff im Sport nahe, dass es eines kontinuierlichen Trainings bedarf, um einmal erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten zu behalten, zu ergänzen und weiterzuentwickeln.
Zusammenfassung
Die enge Verbindung von Militär und Medizin prägt seit dem 19. Jahrhundert das zunehmende Bemühen, sanitätsdienstliches Handeln besonders zu schützen. Die völkerrechtliche Verankerung dieses Schutzanspruches stellt eine der größten und wichtigsten Leistungen der Menschheit dar; ihre zunehmende Gefährdung im Rahmen asymmetrischer Konflikte ist eine besorgniserregende Herausforderung.
Im Rahmen der Militärmedizinethik, die auch in Deutschland als Wehrmedizinethik eine wachsende Institutionalisierung und Systematisierung erfährt, werden zentrale Fragen und Probleme der Medizin im militärischen Kontext erörtert. Das PMM-Modell unterstreicht den Dreiklang von körperlicher, mentaler und moralischer Fitness, die sich gegenseitig ergänzen und bedingen. Die Rolle, die die moralische Fitness bei der gelingenden Einsatzbewältigung spielt, bedarf nicht zuletzt mit Blick auf potenzielle moralische Verletzungen einer weiter zu intensivierenden Forschungsarbeit.
Die Wehrmedizinethik erweist sich als ein Querschnittsfach, das die Bereitschaft zum interdisziplinären Forschen voraussetzt. Für die Lehre ergeben sich hieraus hohe Anforderungen. Die Vermittlung entsprechender Inhalte bedarf einer profunden Expertise. Ethiklehrer müssen die zu vermittelnden Lehrinhalte gegenüber dem Dienstherrn, gegenüber den Lernenden und gegenüber sich selbst verantwortet können.
Dies gilt auf allen Stufen der ethischen Ausbildung und der hier erfolgenden kritischen-reflexiven Beschäftigung mit ethischem Basis-, Grund- und Funktionswissen. Wie wehrmedizinethische Wissensvermittlung erfolgen kann, zeigt das paradigmatisch für die Approbationsberufe entwickelte und vorgeschlagene Konzept Ethische Kompetenz in der Wehrmedizin der Lehr- und Forschungsstelle für Wehrmedizinische Ethik. Dieser konzeptionelle Entwurf weiß sich der Erkenntnis verpflichtet, dass die Beschäftigung mit der Ethik eine lebenspraktische Relevanz besitzt. Im Hinblick auf das gute Leben weist sie dabei weit über den militärmedizinischen Kontext hinaus.
1 Vgl. Dunant, Henry (2013): Eine Erinnerung an Solferino. Paderborn.
2 Vgl. Uslar, Rolf von/Schewick, Florian van (2009): „Rotes Kreuz im Fadenkreuz? Gedanken zu Schutzzeichen und Rolle von Sanitätern in asymmetrischen Konflikten aus militärisch-taktischer, juristischer und ethischer Perspektive“. In: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 3, S. 44–52.
3 Fischer, Rupert Dirk (2018): „Der Menschlichkeit verpflichtet“. In: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 1, S. 30–32.
4 Vgl. Fischer, Rupert Dirk (2013): „Die Frage nach dem Arzt im bewaffneten Einsatz im Zentrum der Wehrmedizinethik“. In: Wehrmedizin und Wehrpharmazie 3, S. 34 f.
5 Vgl. Beauchamp, Tom L./Childress, James F. (2013): Principles of Biomedical Ethics. Oxford.
6 Vgl. Gross, Michael/Carrick, Don (2016): Military Medical Ethics for the 21st Century. London.
7 Vgl. Zimmermann, Peter/Siegel, Stefan (2010): Moralische Verletzungen von Soldaten im Auslandseinsatz. In: Wehrmedizinische Monatsschrift 6–7, S. 185–188.
8 Vgl. Zimmermann, Peter et al. (2016): „Werteveränderung und moralische Verletzungen bei im Einsatz psychisch erkrankter Soldaten der Bundeswehr“. In: Wehrmedizinische Monatsschrift 1, S. 7–14.
Dr. Dr. Rupert Dirk Fischer studierte Humanmedizin, Philosophie und katholische Theologie und promovierte in Humanmedizin und katholischer Theologie. Er ist Spiritual am Herzoglichen Georgianum in München, medizinethischer Berater des Sanitätsdienstes der Bundeswehr sowie Leiter der Lehr- und Forschungsstelle für Wehrmedizinische Ethik an der Sanitätsakademie der Bundeswehr in München.