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Innere Führung – Normative Grundlage der Persönlichkeitsbildung in der Bundeswehr

Seitdem bekannt wurde, dass im BMVg an einer neuen Vorschrift zur ethischen Bildung in der Bundeswehr gearbeitet wird1, sind die verschiedenen bereits existierenden Angebote für Soldatinnen und Soldaten zur Persönlichkeitsbildung neu in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten. Gerade das Verhältnis der Inneren Führung und des Lebenskundlichen Unterrichts (LKU) zu Sinn und Zweck ethischer Bildung in der Bundeswehr ist durch die beabsichtigte Vorschrift infrage gestellt worden und bedarf daher besonderer Aufmerksamkeit. Unter diesen Bedingungen scheint es geboten, die Verbindlichkeit der Inneren Führung für jede Form der Persönlichkeitsbildung in der Bundeswehr neu in Erinnerung zu rufen.

Innere Führung und die ­„Fehler der Vergangenheit“

Das Militärstrafgesetzbuch des Deutschen Reiches zog seit 1872 einen Soldaten auch dann zur Verantwortung, wenn dieser „nach seinem Gewissen oder den Vorschriften seiner Religion sein Verhalten für geboten erachtet hat“ (§ 48 MilStrGB). Das „Dritte Reich“, das seine Soldaten mit der Verpflichtung zu unbedingtem Gehorsam und dem Bekenntnis zur nationalsozialistischen Weltanschauung vereidigt hatte, beugte das Militärstrafrecht einschließlich des zitierten Paragrafen in extremis. In bewusster Verzerrung menschlicher Konfliktsituationen und vorsätzlicher Negierung der Menschenwürde lobte die NS-Militärjustiz, dass durch diesen Paragrafen eine mögliche „Pflichtenkollision“ zwischen persönlichem Gewissen und militärischem Gehorsam ausgeschlossen sei, da das Gesetz „der militärischen Pflicht den unbedingten Vorrang einräumt“.2 Die vielen Todesurteile, die die Wehrmachtsjustiz wegen aus Gewissensgründen geleisteten Ungehorsams, Befehlsverweigerung und Widerstands verhängt hat, zeigen jedoch nur zu deutlich, dass sich das Gewissen des Menschen nicht per Gesetz ausschalten lässt. Die durch die Wehrmacht verübten Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind ein Beispiel dafür, wohin es führt, wenn Menschen eine verantwortete Gewissensentscheidung ver­weigert, moralisches Handeln mit Gewalt unterdrückt und der soldatische Dienst auf willfähriges maschinelles Funktionieren reduziert wird.

Deutsche Streitkräfte sollten aus der schuldhaften Verstrickung der Wehrmacht in die Verbrechen des nationalsozialistischen Unrechtsregimes, die „in ihrem Ausmaß, in ihrem Schrecken und im Grad ihrer staatlichen Organisation einzigartig in der Geschichte sind“3, lernen. Um der Gefahr einer Wiederholung der Verbrechen vorzubeugen, musste die besondere historische und politische Situation, in der die Gründung der Bundeswehr vollzogen wurde, ernst genommen und das Verhältnis von Staat und Streitkräften neu bestimmt werden. Dies konnte nur durch ein reformerisches Konzept geschehen, das unter dem Namen „Innere Führung“ das Militär an die Werte und Normen des Grundgesetzes band. Die zentrale Idee der wertegebundenen Sicherheitspolitik, zu der sich die Bundesrepublik Deutschland seit ihrer Gründung verpflichtet hat, ist daher die Menschenwürde, die nicht nur für die Deutschen, sondern für alle Menschen auf der Welt Geltung beansprucht. Der aus dem militärischen Reformprogramm hervorgegangene „Staatsbürger in Uniform“ schützt die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Auch für ihn oder sie gilt Menschenwürde als oberster Wert. Dazu gehört auch das Grundrecht auf Gewissensfreiheit. Ein Wert, den der Soldat nicht nur schützt, sondern der im Konfliktfall auch ihn schützt, wie das Bundesverwaltungsgericht in Bestätigung der ethischen Prinzipien der Inneren Führung im Jahr 2005 zweifelsfrei festgestellt hat.4 Das Gewissen setzt der Gehorsamspflicht Grenzen.

Durch „die lebendige Gestaltung und Befolgung der Grundsätze der Inneren Führung werden die Werte und Normen des Grundgesetzes in der Bundeswehr verwirklicht.“5 Nach der an erster Stelle genannten Menschenwürde werden als Werte und Normen des Grundgesetzes auch Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität und Demokratie genannt. Innere Führung ist also wertegeleitet, ihr ist die ethische Dimension soldatischen Handelns immanent. Ethische Bildung, auch in Form der historischen und politischen Bildung und des LKU, ist ein wesentliches Moment der Vermittlung dieser Werte. Mit anderen Worten: Es geht bei der Inneren Führung darum, dass Soldatinnen und Soldaten die Streitkräfte als Verwirklichungsraum der Demokratie erfahren. Denn Freiheit und Frieden für das deutsche Volk können nur dann von den Uniformträgern nach außen geschützt und verteidigt werden, wenn die Akteure in Uniform sich selbst als Bürgerinnen und Bürger eines freien Landes erfahren. Niemand kann etwas mit Leib und Leben verteidigen, was nicht seiner eigenen Erfahrung entspricht. Das unterscheidet den Bürgersoldaten vom Söldner. Ausgehend von dieser Einsicht in die Idee der Verteidigung des Lebenswerten hat Wolf Graf von Baudissin bei Aufstellung der Bundeswehr geholfen, Wege zu finden, die einen Rückfall in den Geist der Wehrmacht verhindern sollten.6 Freiheit und Selbstbindung, Befehl und Gehorsam stehen in komplexen Spannungsverhältnissen, die jeweils individuell austariert werden müssen. Dass der freie Staatsbürger sich nicht verbiegen oder verstellen muss, wenn er die Uniform anzieht, ist das Ziel der Inneren Führung.

Wie wichtig dieser Zusammenhang zwischen den Lehren aus der deutschen Vergangenheit und den im Grundgesetz niedergelegten ethischen Werten ist, hat jüngst Generalinspekteur Eberhard Zorn aufgezeigt: Innere Führung vermittle dem Soldaten die „geistige Rüstung für den Einsatz und die innere Bereitschaft, den Auftrag mit Einsicht und aus Überzeugung zu erfüllen“. Eine solche Sinnstiftung könne aber nicht ohne „grundlegende historische Kenntnisse“ gelingen. Daher schütze gerade die historische Bildung (im Einklang mit der Inneren Führung) davor, „die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen und falschen Vorbildern zu folgen“7. Aus der Geschichte lässt sich so eine ethische Haltung für die Gegenwart gewinnen.

Innere Führung ist kein ­„deutscher Sonderweg“

Die Anerkenntnis, dass es sich bei der Inneren Führung um „eine deutsche Konzeption“ handelt, „die nur vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte verständlich wird“8, bedeutet keineswegs, dass es sich hierbei um eine historische Zufälligkeit handelt, der weder Verbindlichkeit noch Verallgemeinerbarkeit eigne. Die Konzeption der Inneren Führung hat sich bei allen gesellschaftlichen Veränderungen als erstaunlich tragfähig und geradezu alternativlos erwiesen. Inzwischen ist sie keineswegs mehr eine Organisationsphilosophie, die vor allem Offiziere in die Verantwortung nimmt. Vielmehr soll ihr Buchstabe und Geist über alle Hierarchieebenen hinweg bei allen Soldatinnen und Soldaten wirken.9 Nach Ende des Kalten Krieges sind neue Fragen aufgetreten. So haben sich etwa unter den Bedingungen der Auslandseinsätze Anforderungen herausgebildet, die der frühen Bundeswehr noch fremd waren: Soldatinnen und Soldaten sollen nicht mehr nur im Fall einer notwendigen Landesverteidigung kämpfen können, sondern in einem fernen Land, in das sie zur Durchsetzung von Ordnung und Frieden aus humanitären Gründen entsendet werden, auch kämpfen wollen. Auf die Kritik, die Innere Führung mit ihrem ethischen Konzept sei unter Einsatzbedingungen nicht mehr zeitgemäß10, wurde mit einem Mehr statt einem Weniger an Innerer Führung geantwortet. Die vermehrten Anstrengungen um die soldatische Persönlichkeitsbildung zeigen dies ebenso wie die Rede der Bundesministerin der Verteidigung, Dr. Ursula von der Leyen anlässlich des 60-jährigen Jubiläums der Bundeswehr vom 11. November 2015. Der Versuchung, den Soldaten, der nun auch über Kampferfahrungen verfügt, vom Gedanken des Tötens und Getötetwerdens her zu definieren, wurde von Seiten der politischen Leitung wie der militärischen Führung widerstanden. Vielmehr sollte sich die Idee der Verantwortung des Staatsbürgers in Uniform für Frieden und Freiheit auch unter Gefechtsbedingungen bewähren. Denn Innere Führung – so die normative Aussage der derzeit gültigen ZDv, die eine Bezugnahme auf die neuen Erfahrungen der Auslandseinsätze ermöglicht – „bleibt in jeder Lage, vom Innendienst bis zum Gefecht unter Lebensgefahr, gültig.“11

Die Deutschen Bischöfe verwiesen bereits im Jahr 2000 darauf, dass die Grundsätze der Inneren Führung auch unter veränderten Rahmenbedingungen (hier: Multinationalität und Auslandseinsätze) gültig bleiben: „Sie binden militärisches Handeln an die Werte des Grundgesetzes und orientieren die innere Ordnung der Streitkräfte an rechtsstaatlichen Grundsätzen und am Schutz der Menschenwürde.“12 Die durch die Innere Führung garantierten Grenzen der Befehlsgewalt wie der Gehorsamspflicht seien immer noch von herausragender Bedeutung. Die Innere Führung, so die Bischöfe im Jahr 2005, sei daher kein „deutscher Sonderweg“13, den man in der internationalen Zusammenarbeit vernachläs­sigen könne, sondern wegweisend, um zu einer sittlich verantworteten Entscheidung in militärischen Zusammenhängen zu kommen – auch im Dialog mit Streitkräften anderer Staaten.

Innere Führung bedeutet, dass die Bundeswehr fest auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht und das Wertefundament deutscher Außen- und Sicherheitspolitik teilt. Ähnlich wie die Deutschen Bischöfe äußerte sich auch die Evangelische Kirche: „Die Achtung und der Schutz der Menschenwürde […] sind Ausgangs- und Zielpunkt allen soldatischen Handelns. Soldatinnen und Soldaten übernehmen mit ihrem Dienst Verantwortung für das Leben und den Tod von Menschen. Darum haben sie ihr Tun und Lassen ‚vor Gott und den Menschen‘ zu rechtfertigen.“14 Diese Äußerung steht in Übereinstimmung mit anderen diversen Denkschriften, Worten und Papieren auf gesamtkirchlicher Ebene: Die Evangelische Kirche in Deutschland steht in ihren Gremien, mit ihrem Friedensbeauftragten und dem Evangelischen Militärbischof auf dem Boden des Friedensgebotes des Grundgesetzes, das religiös mit dem Friedensgebot Jesu zusammenfällt. In ökumenischer Verbundenheit stimmen beide großen Kirchen in Deutschland in der Erkenntnis überein, wer den Frieden wolle, der müsse ihn vorbereiten.

Menschenwürde, Frieden, Freiheit und Gewissen, Verantwortung – diese Begriffe mit den dazugehörigen Vorstellungsgehalten sind tief in der europäischen Tradition verwurzelt. Das macht deutlich, dass es zahlreiche Überschneidungen und vor allem eine klare Zielperspektive der diversen Bildungsformate in der Bundeswehr und der Inneren Führung gibt: Seit Aufstellung der Bundeswehr ist es höchstes Anliegen der Inneren Führung, Soldatinnen und Soldaten politisch, historisch und ethisch zu bilden, denn es muss sichergestellt werden, dass die Streitkräfte sich nicht zum Staat im Staate entwickeln und dass in ihnen kein anderes Ethos gilt als in der sie umgebenden freiheitlichen, demokratischen, pluralistischen und individualistisch ausgerichteten Gesellschaft. Das Ethos des Grundgesetzes wird durch die Innere Führung zum Ethos des Soldaten. Hier kommt gerade dem Grundrecht der Gewissensfreiheit eine herausragende Bedeutung zu. Denn die Normen des humanitären Völkerrechts und des Soldatenrechts zu kennen, so die Deutschen Bischöfe, genüge nicht. Darüber hinaus müssten die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr „die Wirkungen des eigenen Handelns hinreichend überblicken und sie anhand der ethischen Maßstäbe eines gebildeten Gewissens bewerten können. Denn der bisher erreichte rechtliche Standard allein vermag die Opfer bewaffneter Konflikte noch nicht hinreichend zu schützen. Erforderlich ist zudem ein rechtlicher Freiraum, der es dem Befehlsempfänger auch praktisch ermöglicht, sich solchen Anordnungen zu widersetzen, die rechtliche bzw. ethische Grenzen verletzen.“15

Ethische Bildung ist Kern­bestand der Inneren Führung

Die Innere Führung ist in ihrem Kern eine komplexe Organisationsethik und soll eine wertegeleitete Führungskultur etablieren.16 Komplex ist sie zu nennen, da die von ihr geforderte Selbstreflexivität und Selbstverantwortlichkeit nicht von jedem und jeder leicht umzusetzen ist. Daher kommt den Maßnahmen zur Persönlichkeitsbildung der Soldatinnen und Soldaten eine hohe Bedeutung zu. Politische, historische und ethische Bildung in der Bundeswehr sind Ableitungen und Gestaltungsfelder der Inneren Führung und können ohne diese nicht in ihrem Grund erfasst werden. Entsprechend heißt es in der neuen Vorschrift zur ethischen Bildung in der Bundeswehr, dass sie Bestandteil der Inneren Führung sei und zur Verwirklichung des Leitbildes des Staatsbürgers in Uniform beitrage, „der die freiheitliche demokratische Grundordnung schützt und der dem Recht sowie der Menschlichkeit verpflichtet ist“17.

Als das „Ergebnis eines prüfenden Auseinandersetzens mit moralischen Prinzipien und Verhaltensweisen sowie deren Vermittlung und Anwendung“ ist die ethische Bildung „Teil der Persönlichkeitsbildung und befähigt die Angehörigen der Bundeswehr, ihr Handeln an Wertvorstellungen und Normen auszurichten, moralisch zu begründen und zu verantworten“18. Jedem einzelnen Uniformträger muss die „hohe Verantwortung“, die er oder sie als Waffenträger übernimmt, eingeschärft werden, denn der „Zwang zur Entscheidung auch unter Belastung und in moralischen Zwangslagen“ kennzeichnet seinen Beruf. Ethische Bildung habe daher „die ethische Dimension von Handeln und Unterlassen“ aufzuzeigen sowie zur „Entwicklung von Handlungskompetenz“ beizutragen.19 Ziel aller Bildungsanstrengungen ist der „gewissensgeleitete, seinem Auftrag verpflichtete und eigenverantwortlich handelnde Mensch“, der beim „Herausbilden einer inneren Haltung, die zu moralischem Handeln führt sowie verantwortliches Befehlen und Gehorchen ermöglicht“, gefördert wird.20 Mit anderen Worten: Auch unter den Bedingungen von Befehl und Gehorsam müssen Entscheidungen im Einklang mit dem eigenen Gewissen getroffen werden. Ethische Bildung will zur Schärfung dieses Gewissens beitragen. Denn erst dies ermöglicht Verantwortungsübernahme und bedingten Gehorsam gegenüber militärischen Befehlen. Franz-Josef Overbeck hat in seiner Eigenschaft als Katholischer Militärbischof jüngst daran erinnert, dass das Gewissen der erste Ort sei, um sich mit den Konflikten, die einem Soldaten in Ausübung seines Berufes entstehen können, auseinanderzusetzen: „Wenn auch die Bedingungen, unter denen er sich ein sittliches Urteil über sein Tun und Unterlassen zu bilden hat, schwieriger geworden sind, bedeutet dies gerade nicht, dass er sich dieser Aufgabe entledigen kann. Im Gegenteil! Der Soldat darf der Frage, was richtig oder falsch ist, nicht ausweichen. Er muss sich aus seinem Handeln ein Gewissen machen.“21 Tut er dies nicht, droht der Verlust der „moralischen Selbstbestimmung“ bis hin zur Zerstörung der „sittlichen Identität“, die zu wahren und zu schützen ein Ausdruck der Achtung der Menschenwürde darstellt. Ganz ähnlich verwies auch die Evangelische Militärseelsorge 2014 auf die Notwendigkeit eines gewissensgeleiteten soldatischen Handelns: Während die Gesellschaft sich in tiefem Frieden wähnt, machen die Angehörigen der Streitkräfte ganz andere Erfahrungen, die sie Krieg nennen. In diesen herausfordernden Situationen sollen sich deutsche Soldatinnen und Soldaten dadurch auszeichnen, dass sie sich ein Gewissen machen, dass sie sich ihrer Verantwortung bewusst sind und dass sie Verantwortung für andere übernehmen wollen.

Aus der Rückbindung des soldatischen Dienstes an die Werte und Normen des Grundgesetzes ergibt sich eine Konsequenz, die zwar folgerichtig ist, aber nicht immer verstanden wird. Daher wird sie von der neuen Vorschrift eigens betont: „Militärische Berufsethik ist keine Sonderethik für die Angehörigen der Bundeswehr, die unter Verweis auf vermeintlich eigengesetzliche Strukturen, Sachzwänge oder berufsspezifische Alleinstellungsmerkmale militärische Handlungsmuster zu rechtfertigen sucht.“22 Es handelt sich also allenfalls um eine Bereichsethik, mit der die Prinzipien und Grundsätze allgemeiner Ethik in die Bundeswehr hinein vermittelt und verwirklicht werden. Ethische Bildung zielt vor allem auf die gefestigte Persönlichkeit der Soldatinnen und Soldaten. Sie wird dem Bildungsgedanken in besonderer Weise gerecht, indem sie ethisches Grundlagenwissen vermittelt, die Anwendung moralischer Prinzipien einübt und die persönliche moralische Urteilsfähigkeit schult. Die Angehörigen der Bundeswehr sollen ihr Handeln und Unterlassen moralisch begründen und ethisch legitimieren können. Dafür müssen sie ermuntert und befähigt werden, ethische Erwägungs- und Entscheidungskompetenzen zu entwickeln, selbstständig über ihre Aufträge zu reflektieren und in jeder Lebenslage das Richtige und Angemessene zu tun. Nun weiß zwar niemand, ob der ethisch geschulte Soldat tatsächlich in jeder Lage moralisch handelt, aber der auf Dilemmasituationen vorbereitete und mit Strategien der Selbstzucht und der Deeskalation vertraute Uniformträger wird wohl in herausfordernden Situationen weniger angstgeleitet und stressresistenter handeln können als der unvorbereitete. Im Idealfall ist er sicherer in seinem Urteil und in seinem militärischen Handeln.

Die Teilnahme an den genannten Bildungsmaßnahmen wird den Soldatinnen und Soldaten befohlen. Das steht in einem gewissen Gegensatz zu dem Grund, aus dem heraus man die Soldatinnen und Soldaten an solchen Unterrichten teilnehmen lässt, nämlich sich aus eigenem Antrieb mit ethischen Fragen befassen, d. h. sich selbst bilden zu wollen. Daher ist klarzustellen: Selbstbildung kann nicht befohlen werden, geht es bei ihr doch um innere und innerliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Denken und Handeln. Die Bundeswehr will – trotz der Befehlsform – Soldatinnen und Soldaten zu solcher Selbstbildung anregen. Deshalb hat sie ein breit aufgestelltes Bildungsangebot vorbereitet und auch Stundensätze dafür vorgegeben. Deshalb spricht sie bewusst von Bildung statt von Erziehung. 

Ethische Bildung nicht ohne Lebenskundlichen Unterricht 

Der LKU genießt trotz seiner Sonderstellung einen guten Ruf unter Soldaten, die davon überzeugt sind, dass er sie in der Auseinandersetzung mit den ethischen Fragen ihres Berufs weiterbringe.23 Die Sonderstellung resultiert vor allem aus der Beauftragung der Dozentinnen und Dozenten des LKU: Es sind Militärseelsorgerinnen und -seelsorger aus den beiden christlichen Konfessionen, demnächst auch Rabbiner und Imame. Damit ist im militärischen Betrieb ein dem Militärischen fremdes Element dem Bildungswesen der Bundeswehr implementiert, denn die Militärseelsorger unterstehen nicht der militärischen Führung, sind nicht eingebunden in die militärische Befehlskette, sondern stehen unter den Regelungen des Militärseelsorgevertrages, der mit den Kirchen geschlossen wurde. Sie sind aufgrund ihrer besonderen Stellung in der Lage, innerhalb der Bundeswehr „ein Fenster ins Zivile“ (Militärbischof Dr. Sigurd Rink) zu öffnen, und dürfen sich in allen Fragen der Inneren Führung direkt an die militärischen Vorgesetzten wenden. 

Für Soldatinnen und Soldaten ist der LKU verpflichtend, die Militärseelsorger erteilen ihn in Absprache und Kooperation mit den militärischen Vorgesetzten und erhalten die dafür notwendige Infrastruktur, sind aber frei in der Art und Weise, in der sie die Inhalte des Unterrichts vermitteln. Im Zentrum stehen Fragen des Gewissens und der Persönlichkeit, der individuellen Lebensführung und dann auch der soldatischen Identität. Dass der LKU Teil der ethischen Bildung in der Bundeswehr ist, zeigt sich daran, dass er kein Religionsunterricht, sondern vielmehr eine berufsethische Qualifizierungsmaßnahme ist. Er trage, wie die neue Vorschrift zur ethischen Bildung festhält, „in besonderer Weise zur Charakterbildung und Persönlichkeitsentwicklung der Soldatinnen und Soldaten“ bei. Konstitutiv dafür ist die Herstellung eines „hierarchiefreien Raum[es] der offenen und vertrauensvollen Aussprache“, die ganzheitliche und handlungsorientierte Ausrichtung und die Tatsache, dass der LKU „nicht beurteilungsrelevant“ ist, sodass es keine Prüfungen und Zensuren gibt. Hier zeigt sich seine Bedeutung als Bildungsmaßnahme: Eine sich frei bildende Persönlichkeit, die sich engagiert in diesen Unterricht einbringen soll, wird dies am ehesten unter diesen Bedingungen tun. Nur so können die Probleme der Gewissensverantwortung, die in der Arbeit der Militärseelsorgerinnen und -seelsorger auch über den LKU hinaus einen breiten Raum einnehmen, angemessen zur Sprache kommen und das Ziel eines geschärften ethischen Bewusstseins erreicht werden.

Auffällig ist, dass in der ZDv zum LKU ein „militärischer Wertekanon“ genannt wird, der aber keine Werte wie Kameradschaft oder Tapferkeit, die man prima facie mit dem Militär in Verbindung bringt, aufführt, sondern diesen Kanon aus der ZDv Innere Führung entlehnt. Dies bedeutet, dass die „moralische Richtschnur des verantwortlichen Verhaltens und Handelns“ von Soldaten zivil ausgerichtet ist; statt des Begriffs Krieg, auf den Soldaten sich in den letzten Jahren immer wieder fokussiert haben, wenn sie ihre Lebenswirklichkeit und ihre mentale Ausrichtung beschreiben, findet sich hier explizit der Begriff Frieden. Mit anderen Worten: In den Werten des Grundgesetzes finden der Soldat und die Soldatin ihren Wertekanon! Diese Werte „sollen“ von den Uniformträgern verinnerlicht werden. Verinnerlichung kann allerdings im eigentlichen Sinne nicht gefordert werden, sie ist eine Folge von Selbstbildung und Selbstbindung. Das Angebot von Unterrichten und Bildungsveranstaltungen lädt ein zur inneren Auseinandersetzung mit den berufsethischen Fragen des Militärdienstes. Folgerungen für ihr persönliches Leben und für ihre Diensterfüllung müssen die Soldatinnen und Soldaten als selbstverantwortliche Menschen selbst ziehen.

Bei Aufstellung der Bundeswehr sollte der Geist der Wehrmacht grundsätzlich überwunden werden. Deshalb wurde eine außerhalb der militärischen Hierarchie stehende Militärseelsorge aufgebaut. Denn die Kirchen hatten – zumindest in Teilen – ein Gegengewicht gegen den Unrechtsstaat gebildet.24 Der vom Staat gewünschte und auf Kooperation mit der militärischen Führung angelegte Dienst von Kirchen und Religionsgemeinschaften ist weltweit ein Unikum. Er dient der Selbstbindung der Soldatinnen und Soldaten in Freiheit und fördert ihre Orientierung auf Frieden hin – auch und gerade dann, wenn sie letale Gewaltmittel anwenden müssen. Militärseelsorger gelten in diesem Zusammenhang als diejenigen, die das militärische Leben und seine besonderen Herausforderungen gut verstehen, weil sie es als outstanding insiders teilen und dazugehören. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass die inhaltliche Auseinandersetzung von Soldatinnen und Soldaten mit Sinnfragen und mit Tod und Verwundung untrennbar mit Glaubensvorstellungen verbunden ist. Man kann erwarten, dass Soldatinnen und Soldaten aufgrund ihrer dienstlichen Erfahrungen stärker affiziert sind von Fragen des Sterbens als viele andere Menschen. Bundeswehrpsychologen berichten, dass in Auslandseinsätzen nicht nur Posttraumatische Belastungsstörungen ausgelöst, sondern auch Gefühle von Scham und Schuld (Stichwort: moralische Verletzungen) mächtig werden können, bei denen weniger Medikamente und therapeutische Gespräche als Seelsorgerinnen und Seelsorger wirksam helfen.

Ein kurzes Fazit

Das Ziel aller Bildungsmaßnahmen ist das Ideal eines Soldaten, der in jeder Hinsicht gebildet ist und aus innerer Überzeugung auf dem Wertefundament des Grundgesetzes stehend und im Einklang mit seinem Gewissen handelt. Auch in den schwierigen Situationen seines Dienstes soll die soldatische Persönlichkeit im Sinne des Grundgesetzes für Frieden wirken und die Menschenwürde der Kameraden, der Zivilisten und selbst der Gegner achten. Hierfür bedarf es der ethischen Bildung. Doch steht diese vor großen Herausforderungen. Denn die Szenarien, in denen Soldaten zum Einsatz kommen, haben ein hohes Maß an Komplexität erreicht, das eher noch zunimmt. Allgemein verbindliche ethische Grundwerte sind gerade in einer pluralistischen und Diversität achtenden Gesellschaft immer wieder Anfragen ausgesetzt und müssen neu verhandelt werden. Hinzu kommt eine abnehmende religiöse Bindung: Die Erstausgabe des Handbuchs Innere Führung sah es als notwendig an, dass Soldaten transzendental gebunden sind, indem gleich das erste Kapitel mit der „höchsten und letzten Instanz“ begann, der einzig und allein „totaler Gehorsam“ gebühre und vor der das soldatische Handeln letztlich verantwortet werden müsse.25 Das Grundgesetz betont dagegen die Freiheit zur Selbstbindung an eine Konfession oder Religionsgemeinschaft. Zunehmend bedeutet diese Freiheit aber auch den autonom erklärten Verzicht auf eine solche Bindung. Der gesellschaftliche Konsens über fundamentale Wertorientierungen geht damit nicht zwangsläufig verloren, doch ihn herzustellen und zu wahren ist damit keineswegs einfacher geworden.

1 Elßner, Thomas R. (2018): „Ethische Bildung in der Bundeswehr. Mit einem Workshop im Bendlerblock startete das Vorhaben“. In: Kompass. Die Zeitschrift des Katholischen Militärbischofs für die deutsche Bundeswehr 2018, Nr. 12, S. 16f.

2 Schwinge, Erich (1944): Militärstrafgesetzbuch nebst Kriegssonderstrafrechtsverordnung [Kommentare zum Deutschen Strafrecht. Bd. 1]. 6. Aufl. Berlin, S. 122.

3 Bundesministerium der Verteidigung (2018): Die Tradition der Bundeswehr. Richtlinien zum Traditions­verständnis und zur Traditionspflege. Berlin, S. 4.

4 BVerwG, Urteil vom 21.06.2005 - 2 WD 12.04.

5 ZDv A-2600/1: Innere Führung – Selbstverständnis und Führungskultur, Ziff. 107.

6 Rosen, Claus von (2014): „Baudissins dreifache politisch-militärische Konzeption für den Frieden“.
In: Wolf Graf von Baudissin, Grundwert: Frieden in Politik – Strategie – Führung von Streitkräften. Berlin, S. 9–36.

7 Brief des Generalinspekteurs zur Historischen Bildung vom 14. November 2018.

8 Bundesministerium der Verteidigung. Presse­ und Informationsstab (2010): Innere Führung. Selbstverständnis und Führungskultur der Bundeswehr. Berlin, S. 5.

9 ZDv A 2600/1, Ziff. 102.

10 Bohnert, Marcel/Reitstetter, Lukas J. (2014): Armee im Aufbruch. Zur Gedankenwelt junger Offiziere in den Kampftruppen der Bundeswehr. Berlin.

11 ZDv A 2600/1, Ziff. 107.

12 Die Deutschen Bischöfe (2000): Gerechter Friede. Bonn, S. 110 f.

13 Die Deutschen Bischöfe (2005): Soldaten als Diener des Friedens Erklärung zur Stellung und Aufgabe der Bundeswehr. Bonn, S. 16 f.

14 Evangelische Seelsorge in der Bundeswehr (2013): Soldatinnen und Soldaten in christlicher Perspektive. 20 Thesen im Anschluss an das Leitbild des Gerechten Friedens. Arbeitskreis für ethische Bildung in den Streitkräften. Berlin, S. 5 f.

15 Die Deutschen Bischöfe (2000): Gerechter Friede. S. 111.

16 Dörfler-Dierken, Angelika (2005): Ethische Fundamente der Inneren Führung. Baudissins Leitgedanken: Gewissensgeleitetes Individuum – Verantwortlicher Gehorsam – Konflikt- und friedensfähige Mitmenschlichkeit. Strausberg.

17 ZDv A-2620/6: Ethische Bildung in der Bundeswehr. Ziff. 102; zitiert nach der Entwurfsfassung vom 11.7.2019.

18 Ebd., Ziff. 102.

19 Ebd., Ziff. 103.

20 Ebd., Ziff. 208.

21 Overbeck, Franz-Josef (2019): Konstruktive Konflikt­kultur. Friedensethische Standortbestimmung des Katholischen Militärbischofs für die Deutsche Bundeswehr. Freiburg i. Br., S. 98 f.

22 ZDv A-2620/6, Ziff. 208.

23 Dörfler-Dierken, Angelika/Ebeling, Klaus/Fiebig, Rüdiger (2010): Evaluierung des Lebenskundlichen Unterrichts in der Truppenpraxis. Strausberg, S. 5; Biehl, Heiko/Fiebig, Rüdiger (2011): Evaluierung des Lebenskundlichen Unterrichts in der Truppenpraxis. Ergebnisse der Befragung von Dozentinnen und Dozenten. Strausberg.

24 Dörfler-Dierken, Angelika (2008): Zur Entstehung der Militärseelsorge und zur Aufgabe der Militärgeistlichen in der Bundeswehr. Strausberg.

25 Bundesministerium der Verteidigung. Führungsstab der Bundeswehr (1957): Handbuch Innere Führung. Hilfen zur Klärung der Begriffe. Bonn, S. 9–13.

Zusammenfassung

Prof. Dr. Angelika Dörfler-Dierken

Prof. Dr. Angelika Dörfler-Dierken ist Projektbereichs­leiterin für das Themenfeld „Innere Führung – Ethik –  Militärseelsorge“ im Forschungsbereich IV am Zentrum­ für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Sie beschäftigt sich aus ethischer, historischer und sozialwissenschaftlicher Perspektive mit aktuellen Fragen des Selbstverständnisses deutscher Soldatinnen und Soldaten, ihrer Einbindung in die Gesellschaft und ihrer Umsetzung des Leitbildes „Staatsbürger in Uniform“ sowie denjenigen Fragen, die aus dem Widerspruch zwischen ihrem Friedensauftrag und dem Einsatz militärischer Gewaltmittel folgen. Frau Dörfler-Dierken lehrt an der Universität Hamburg und veröffentlichte zahlreiche Publikationen.

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Markus Thurau

Markus Thurau hat Katholische Theologie, Philosophie und Soziologie in Halle, Berlin, Linz und Innsbruck ­studiert. Er war Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Katholische Theologie der Freien Univer­sität Berlin, promovierte in Berlin (Dr. phil.) und Innsbruck (Lic. theol.) und arbeitet seit 2015 als Katho­lischer Theologe am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. Er forscht und publiziert zu den Themen Katholi­zismus und Moderne, historische Friedens- und Konfliktforschung, Religion und Gewalt, Katholische Militärseelsorge und Geschichte und Theologie der jüdisch-christlichen Beziehungen.

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