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Friedensethik – Militärethik – Sicherheitspolitik: eine erste ­Verhältnisbestimmung

Jede sorgfältige und ernst gemeinte öffentliche Diskussion, in der die Teilnehmerinnen und Teilnehmer (sowie ein Publikum) wirkliche Einsichten und Erkenntnisse anstreben – und nicht nur ein strategisches Spiel spielen, in dem sie eine möglichst gute Figur machen wollen –, setzt voraus, dass die Diskussionspartner idealerweise die gleichen Begriffe benutzen. Gleiche Begriffe, das bedeutet: nicht einfach nur dieselben Wörter oder Laute, sondern Ausdrücke, die einen gleichen semantischen Gehalt haben. Zwar lässt sich auch aus Bedeutungsdifferenzen lernen, wie uns Übersetzungsvorgänge zeigen, aber für die öffentliche und meist massenmedial verbreitete Diskussion ist der stringente und genaue Begriffsgebrauch zielführender. Das wusste man auch schon in der Antike, und daher hat der Aristoteles-Kommentator Porphyrios von Tyros (basierend auf der platonischen Dihairesis) ein begriffliches Strukturmodell entwickelt, in dem stets zwischen Gattungsbegriffen und Artbegriffen unterschieden wird, die durch eine spezifische Differenz vom Gattungsbegriff abgetrennt sind. Da jeder Artbegriff für andere Arten zum Gattungsbegriff werden kann, kristallisiert sich ein hierarchisches Modell heraus, in dem es bei bildhafter Betrachtung den Anschein hat, ein „Stamm“ von Art- und Gattungsbegriffen werde ergänzt durch „Äste“ von spezifischen Differenzen. Im 13. Jahrhundert nannte Petrus Hispanus dieses Strukturmodell dementsprechend „Baum des Porphyrius“ (arbor porphyriana)1. In den Kompositwörtern der deutschen Sprache stehen die Gattungsbegriffe zumeist am Ende, während die jeweiligen Differenzen im einleitenden Ausdruck kenntlich gemacht werden. „Rohmilchkäse“ ist Käse (Gattung), der aus Rohmilch erzeugt wurde (Differenz). 

Sicherheitspolitik

Wenn wir uns nun die drei Begriffe in der Überschrift dieses Beitrags ansehen, so stellen wir fest, dass zwei von ihnen den Gattungsbegriff teilen, nämlich „Militärethik“ und „Friedensethik“, der dritte Begriff aber aus dem Rahmen fällt. „Sicherheitspolitik“ wird selbst auf den ­Internetseiten von Institutionen und Organisationen, die dieses Wort im Namen tragen (BAKS, Gesellschaft für Sicherheitspolitik, IFSH etc.), nicht explizit definiert. Das kann zwei Gründe haben: Entweder ist er so selbstverständlich, dass er keine Definition nötig zu haben scheint, oder der Begriff ist eher vage und unbestimmt, sodass er mit keiner griffigen ­Definition zu fassen ist. Auch Kersten Lahl und Johannes Varwick umgehen in ihrem neuen Buch Sicherheitspolitik verstehen2 die Definitionsfrage. Porphyrius hätte eine schlichte Antwort: Bei Sicherheitspolitik muss es sich offenkundig um den Teilbereich der Politik handeln, dem es um die Sicherheit geht. Nun zeigt aber gerade das Baum-Modell an, dass häufig mit solchen Definitionen ersten Grades noch nicht so viel gewonnen ist, denn die Bestimmungsfragen lassen sich ja weiter stellen: Was ist Politik? Was ist Sicherheit? 

Die politike techne nimmt ihren Namen von der polis, dem griechischen „Stadtstaat“ des Altertums. Sie ist die „Kunst“, die sich auf die öffentliche Ordnung in diesem Stadtstaat bezieht. Insofern an der Konstituierung dieser Ordnung mehrere Personen – ja im Idealfall der Demokratie (der Volksherrschaft) alle der Ordnung unterliegenden Personen – beteiligt sind, ist Politik ein soziales Handeln. Der Begriff der „Sicherheit“ dagegen stellt ein heikles und nebulöses Konzept dar: Sicherheit ist ein Zustand, aber was diesen Zustand auszeichnen soll, kann fast nur negativ in Abgrenzung von anderen Zuständen beschrieben werden: möglichst geringe Gefahren, möglichst geringe Bedrohungen, möglichst geringe Risiken3.

Sicherheitspolitik umfasst grundsätzlich also all jene politischen Entscheidungen, die die Sicherheit betreffen.4 Aber wessen Sicherheit? Würde es um die Sicherheit des individuellen Menschen und seinen Schutz vor Gefahren gehen, wäre das weite Feld der Innenpolitik, aber auch Verkehrspolitik oder Arbeitsschutz mit eingeschlossen. De facto hat sich hingegen ein anderer Begriff eingebürgert, in dem davon ausgegangen wird, dass es um die Sicherheit der politischen Gemeinschaft als solcher (also in unserer Zeit: des Staates) geht. Hierbei werden wieder in besonderem Maße die Bedrohungen von außerhalb des Staates zum sicherheitspolitischen Gegenstand. Insofern wird Sicherheitspolitik heute vorrangig im Feld der Außen- und Verteidigungspolitik verortet. 

Sich diese Zusammenhänge und begrifflichen Vorentscheidungen zu verdeutlichen ist keineswegs so banal, wie es den Anschein haben mag. Für Platon und Aristoteles beispielsweise ist die innere Ordnung gerade aus „sicherheitspolitischer“ Perspektive primär. Ein intern gut geordnetes politisches Gemeinwesen wird sich auch nach außen behaupten, während aller Schutz nach außen wertlos ist, wenn das Gemeinwesen selbst intern ohne Wert ist.5 Hier deutet sich ein erster „ethischer“ Imperativ an: Aus ethischer Sicht ist nicht jedes Staatswesen in gleicher Weise zur Sicherheitspolitik „berechtigt“:6 Ein totalitärer Unrechtsstaat kann aus der Perspektive einer politischen Ethik keine „Sicherheit“ beanspruchen. Sicherheitspolitisches Handeln ist in einem solchen Fall grundsätzlich illegitim. Ähnlich ist es mit einem Begriff wie dem des „staatlichen Interesses“. Das Vorliegen eines bestimmten Interesses sagt nichts aus über die Ansprüche, die man auf die Erfüllung des Interesses erheben kann. Die deskriptive Wirklichkeit gibt hier keine normative Wirklichkeit vor. Nur berechtigtes Interesse kann einen Anspruch auf Erfüllung haben. Wenn Staaten als ein partikularer Teil der Weltgemeinschaft Interessen hegen, die andere Staaten und Menschen außerhalb des betreffenden Staates tangieren, muss eigens gezeigt werden, dass solche Interessen berechtigt sind.

Der außenpolitische Schwerpunkt im gegenwärtigen Begriff der Sicherheitspolitik verbindet dieses an sich praktische Feld mit den wissenschaftlichen Theorien internationaler Beziehungen („IB-Theorien“). Die bekannteste Richtung, nämlich die des „politischen Realismus“, geht davon aus, dass Staaten gar nicht davon ablassen können, zur Wahrung ihrer Sicherheitsbedürfnisse und „Interessen“ immer auch auf Überlegenheit und Macht über andere Staaten zu streben; denn da diese ähnlich agierten, könne man sich nur mit eigenem Machtstreben vor dem Machtzugriff der anderen schützen. Dieses wechselseitige Aufschaukeln von Sicherheits- und Machtstreben führt allerdings zum sogenannten „Sicherheitsdilemma“7, das sich insbesondere in den Formen des Wettrüstens zeigt. Der Machtvorsprung, der durch die Hochrüstung bei A erlangt worden ist, wird wertlos, sobald B auf das gleiche Niveau oder darüber gelangt. Dies scheint wiederum A zur weiteren Rüstung zu zwingen. Schon aus pragmatischen Gründen, die noch keine besonderen ethischen Gründe sind, legt es sich daher nahe, solchen Unilateralismus in der Sicherheitspolitik zu vermeiden, weil er am Ende zu hohen Kosten für alle, also auch für das eigene Gemeinwesen, führt. In diesem Sinne ist Sicherheitspolitik heute mehr denn je eine Form der „Weltinnenpolitik“, weil auch entfernte Konflikte und Bedrohungen leicht Auswirkungen auf die eigene politische Gemeinschaft und das von ihr bewohnte Territorium haben können, wie sich ja insbesondere an den globalen Migrationsbewegungen zeigt.

Der Sicherheitsbegriff, der der Sicherheitspolitik zugrunde liegt, ist also vielschichtiger und komplexer geworden als reine nach außen gerichtete territoriale Verteidigung, sodass sich eine Sachdimension („In welchem Problembereich lassen sich Sicherheitsgefahren verorten?“), eine Referenzdimension („Um wessen Sicherheit geht es – die des Staates, die der Gesellschaft oder die von Individuen?“), eine Raumdimension („Welches geografische Gebiet ist betroffen?“) und eine Gefahrendimension („Von welchen Verwundbarkeiten oder Risiken ist die Rede?“) unterscheiden lassen.8 Alle diese Dimensionen kennen Sicherheitswahrer, die als Individuen oder Institutionen handeln müssen. Viele dieser Handlungen erfolgen im zivilen Raum von zivilen Akteuren. Aber nach wie vor spielen militärische Kräfte (speziell in der normativen Überlegung) eine besondere Rolle, weil sie die friedensethisch besonders problematische Größe der physischen Gewalt – als potenzielle und als reale – einbringen.

Militärethik

Die Ultima Ratio des sicherheitspolitischen Erwägens ist die Drohung mit oder der Einsatz von physischer Gewalt. Zwar haben so gut wie alle Staaten der Erde die Charta der Vereinten Nationen unterzeichnet, die die Androhung oder die Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen grundsätzlich untersagt (Art. 2 [4]). Davon unbenommen bleibt aber das „naturgegebene Recht“ eines Mitglieds der Vereinten Nationen auf „individuelle oder kollektive Selbstverteidigung“ – zumindest so lange, bis der Sicherheitsrat der VN die Maßnahmen, die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit eines Staates erforderlich sind, getroffen hat (Art. 51). Der Sicherheitsrat kann zudem seine Mitglieder zu Gewalteinsätzen in diesem Rahmen ermächtigen (Art. 42). Daher unterhält immer noch die weit überwiegende Zahl der Staaten eigene militärische Streitkräfte. Nach wie vor gibt es den Beruf des Soldaten – zahlreiche Politikwissenschaftler und Sicherheitspolitiker würden ergänzen: notwendigerweise. Da im Militär gehandelt wird, muss auch die Frage nach dem richtigen Handeln gestellt werden. Neben dem Recht kommt dabei die Moral als Beurteilungsinstanz für Handlungen in Betracht. Die philosophische Reflexion auf die Moral ist die Ethik. Militärethik ist also die Form von Ethik, die sich auf Handlungen im Militär und im Kontext des Militärs richtet. Sie ist somit überwiegend eine besondere Form der beruflichen Ethik und in diesem Sinne ähnlich der Medienethik oder Medizinethik. Als Ethik, die auch und insbesondere nach der Legitimation von gewaltsamen Handlungen fragt, ist sie der polizeilichen Ethik verwandt.

Trotz des recht strengen und gefestigten institutionellen Gefüges einer Armee9 sind die Individuen, die ihr angehören, also die Soldatinnen und Soldaten, nicht von einer ethischen Prüfung ihres Handelns befreit. Es sind zwar nicht die Soldaten selbst, die über den Einsatz der Streitkräfte entscheiden, sondern Sicherheitspolitiker (oder politische Führer in ihrer Rolle als Sicherheitspolitiker), aber das bedeutet nicht, dass soldatisches Handeln den Soldatinnen und Soldaten in keiner Weise mehr zugerechnet werden könnte. Auch in Kriegen und bewaffneten Konflikten ist Handeln rechenschaftspflichtig. Eine zentrale Rolle zur Rechtfertigung solcher Handlungen spielt dabei das Recht in bewaffneten Konflikten selbst, also das sogenannte ius in bello. Michael Walzer, dessen Buch Just and Unjust Wars10 lange Zeit wie ein militärethisches Standardwerk behandelt wurde, trennt klar die Aufgaben ab: Über den Einsatz selbst, das ius ad bellum, hat die (Sicherheits-)Politik zu befinden. Die Soldatinnen und Soldaten allerdings müssen sich an die „Spielregeln“ des ius in bello halten. Da dieses für sämtliche Konfliktparteien in gleicher Weise gilt, stehen sich alle Kombattanten (gleich welcher Partei) – sofern sie keine Kriegsverbrechen begehen oder begangen haben – auf moralisch gleicher Augenhöhe gegenüber. Die zentrale Anforderung des ius in bello lautet, dass die Gewalt des bewaffneten Konflikts nur gegen militärische Ziele – die gegnerischen Kombattanten darin eingeschlossen – gerichtet werden darf, aber niemals gegen Zivilisten.

An dieser moralischen Aufgabenteilung haben insbesondere in der neueren Zeit wichtige Autoren zentrale Kritik geübt. Diese „logische“ Trennung (Walzer) von ius ad bellum und ius in bello existiere so nicht. Analog zu Verteidigungskontexten in außerkriegerischen Verhältnissen müsse auch bei bewaffneten Konflikten moralisch genau darauf geachtet werden, welche Konfliktpartei eigentlich mit welchem Recht Gewalt anwendet. Soldatinnen und Soldaten haben demnach grundsätzlich die Pflicht, ihre Beteiligung an einem militärischen Einsatz, der moralisch nicht legitimiert ist, zu verweigern. Tun sie es nicht – wofür sie entschuldigende Gründe wie äußeren Druck oder Unwissenheit haben mögen –, so sind sie nicht auf gleicher Augenhöhe wie jene Gegner, die moralisch legitimiert kämpfen. Insofern müssen sich auch Soldatinnen und Soldaten über die ethischen Gründe ihres Einsatzes vergewissern und können ihre moralische Verpflichtung nicht einfach auf die Frage von Befehl und Gehorsam abwälzen.

Die Analogie zu zivilen Verteidigungssituationen, die in der heutigen militärethischen Debatte stark eingebracht wird, führt aber auch zu weiteren Konsequenzen: Die strenge Trennung von Kombattanten, die in bewaffneten Konflikten legitim angegriffen werden können, und Zivilisten, die allenfalls vorhersehbar, aber auf keinen Fall vorsätzlich von der Gewalt betroffen sein dürfen, ist in diesem Modell nicht mehr zu halten. Kombattanten können unter Umständen gegen ihren Willen in ihre Rolle gezwungen worden sein und sind dann entweder kaum oder gar nicht moralisch legitim angreifbar. Andererseits können hinter großen illegitimen Gewaltakten auch Personen stehen, die völkerrechtlich als „Zivilisten“ zu qualifizieren wären. Die moralische Frage, ob man im Zweifelsfall nicht eher einen für illegitime Gewalt haftbar zu machenden Zivilisten angreifen sollte als viele geradezu unschuldige Kombattanten, drängt tatsächlich auf Beantwortung. Die Problematik ist ja nicht nur eine der theoretisch-militärethischen Zugänge, sondern sie ist in den asymmetrischen Konflikten – mit vielen nicht staatlichen Konfliktparteien, deren Kämpfer sich gar nicht mehr kenntlich machen – längst zur praktischen Herausforderung geworden.

Wer militärethische Begründungen gibt, muss dies letztlich auf einem größeren Hintergrund ethischen Argumentierens überhaupt tun. Das an Verteidigungssituationen orientierte Legitimationsmodell geht von grundlegenden individuellen Rechten aus, die nicht verletzt werden dürfen. Man kann durchaus so weit gehen und sagen: Es ruht auf einer – bestimmbaren und bestimmten – menschenrechtlichen Konzeptionierung auf. Aber woher kann diese selbst wieder ihre Legitimationsgrundlage nehmen? Die Frage führt zum dritten Begriff unseres Titels, nämlich zur Friedensethik.

Friedensethik

„Friedensethik“ ist keine Bereichsethik, wie das Wort andeuten könnte. Es geht nicht um eine Ethik, die nur im Frieden „gilt“. Der Begriff „Frieden“ als philosophischer oder theologischer Begriff soll nicht ein Segment der Ethik aussondern, sondern der politischen Ethik oder der Sozialethik ein telos, ein Ziel oder einen Zweck, vorstellen. Daher darf der Friedensbegriff der Friedensethik auch nicht einfach ein „Weltbegriff“ (nach Immanuel Kant) sein, der nur eine Beschreibung eines empirisch überprüfbaren Zustandes in sich fasst. Wäre der Friedensbegriff der Friedensethik ein operationalisierbarer und damit deskriptiv fassbarer Weltzustand, würde die Friedensethik lediglich auf eine ins­trumentelle Überlegung zur bestmöglichen Zielerreichung zusammenschrumpfen. Ethik aber ist eine Reflexionswissenschaft, die sich auch selbst stets infrage stellen muss. Es kann daher keineswegs für das friedensethische Überlegen unerheblich sein, welcher Begriff des Friedens zugrunde gelegt wird.11 Die Grundunterscheidung zwischen einem negativen Frieden, der die Abwesenheit konkreter Gewalt bezeichnet, und einem positiven Frieden, der Menschen und Gemeinschaften in einer fruchtbaren Kooperation begreift, ist fundamental. Die prägnanteste Systematisierung findet sich bei Thomas von Aquin, der zwischen „Eintracht“ (concordia) und „Frieden“ (pax) unterscheidet: Eintracht kann dadurch geleistet werden, dass sich alle in ihrem Handeln an die vorgegebenen Normen halten. Die Ordnungsfunktion des Rechts sichert auf diese Weise, dass Konflikte und Konfrontationen gering sind. Aber für den positiven Frieden, die pax, reicht das nicht aus. Er setzt eine Hinordnung auf ein gemeinsames Gut voraus. Voraussetzung für den sozialen Frieden ist dabei der Frieden der Einzelperson mit sich selbst. Geordnete Eintracht besteht darin, „dass der eine Mensch mit dem anderen in dem übereinstimmt, was jedem der beiden zukommt“ (S.Th. II-II, q.29, a.1, ad.1): Pax aber heißt, dass die verschiedenen Menschen sich auf das wahre Gut – für den Theologen letztlich auf Gott – hin ausrichten. Theologisch ist daher eine weitere Unterscheidung notwendig: „Weil es nun ein doppeltes wahres Gut gibt, ein vollkommenes und ein unvollkommenes, so gibt es auch einen doppelten wahren Frieden: einen, der vollkommen ist und der in dem vollkommenen Genuss des höchsten Gutes liegt, durch das alles Streben, in einem Einzigen geeint, zur Ruhe kommt. ... Der andere ist aber der unvollkommene Friede, den wir in dieser Welt haben“ (S. Th. II-II, q.29, a2. ad. 4). 

Selbst Theologinnen und Theologen haben heute Hemmungen, einen solchen theologischen Friedensbegriff in die öffentlichen Debatten einzubringen.12 Für eine pluralistische Gesellschaft scheint er nicht mehr tauglich zu sein. Aber der Anspruch, den Thomas von Aquin formuliert, kann nach wie vor geteilt werden: Eine Verständigung über die wichtigsten Güter und eine Bejahung der berechtigten Ansprüche anderer ist für Frieden unumgänglich. Dass religiöse Positionen hier einen anderen Horizont einbringen als säkulare Modelle, darf nicht unter den Teppich gekehrt werden. Bereits der althebräische Ausdruck shalom geht ja über einen bloßen Nichtangriffspakt weit hinaus und betont eine integrale Ganzheit zwischen dem Menschen und seinem Schöpfergott, innerhalb des einzelnen Menschen und damit auch zwischen den Menschen untereinander.13

Ausgehend von einem ethischen Friedensbegriff entfaltet sich die Friedensethik dann in verschiedene Fragekomplexe, wobei das Problem der Bedingungen legitimer Gewaltanwendung eine besondere Rolle spielt. Dem Friedensbegriff ist ja weniger der Begriff des Konfliktes entgegengestellt, denn es kann – wie in der Demokratie – geordnete und darin auch friedliche Konfliktlösungsverfahren geben, als vielmehr der Begriff der Gewalt. Es ist daher nicht überraschend, dass zahlreiche Menschen, denen besonders am Frieden liegt, Gewalt grundsätzlich ablehnen und sich als Pazifisten verstehen. Wir wissen aber auch, dass es zu Situationen kommen kann, in denen ein Ethos der Gewaltfreiheit auf eine harte Probe gestellt wird, ja sogar der Verzicht auf Gewalt unter der Perspektive der Gerechtigkeit und der Mitmenschlichkeit unplausibel wird. Auch christliche Friedensethiken, die sich einem „Paradigma des gerechten Friedens“ verschreiben, müssen die Möglichkeit für Gewalt als Ultima Ratio ins Auge fassen. 

Die Behandlung solcher Fragen – auch als rechtsethische Überlegungen – hat unmittelbare Auswirkungen für die Militärethik und die Sicherheitspolitik. Grob gesprochen ist die Militärethik eher von friedensethischen Überlegungen zum ius in bello beeinflusst; die ethischen Anforderungen an die Sicherheitspolitik betreffen das ius ad bellum, das man heute vielleicht besser ius contra bellum nennt. 

Zum Verhältnis Ethik und Sicherheitspolitik kann man sagen: Staatliche Sicherheit ist bei einem gerechten Staatswesen sicherlich eine Aufgabe, die prima facie ethisches Gewicht hat. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die ethische Bedeutung eines Staates zu erklären. Eine geht über die Freiheit. Staaten ermöglichen Freiheit, weil sie Leben, den Körper und das Eigentum der Menschen durch ein wechselseitiges Abkommen sichern. Der Sicherungsraum muss dabei jedoch ein umgrenzter bleiben. Eine unbegrenzte Immigration in den Staat oder gewaltsame Angriffe von außen verunmöglichen, dass der Staat die Sicherung dieser Güter gewährleisten kann. Dies betrifft ja nicht nur den jeweils gegenwärtigen Zeitpunkt, sondern besonders den diachronen Zeitverlauf, damit Menschen Pläne machen und verwirklichen können. Wenn es aber nicht mehr möglich ist, gegenwärtige Konsummöglichkeiten zurückzustellen, um sie in der Zukunft nutzen oder an andere Menschen weitergeben zu können, schränkt dies individuelle Handlungsfreiheit enorm ein. Deshalb ist die Sicherung des Staates, der diese Freiheit gewährleistet, ethisch legitim. Dennoch: Auch der Staat als Form politischer Institutionalisierung ist ambivalent, insbesondere dann, wenn er die Sozialbeziehungen auf technische Interaktionsmuster reduziert und so zur „Maschine“ (Nietzsche) – und sei es eine „Gerechtigkeitsmaschine“ – wird. 

Ethik lehren – aber wie?

Sicherheitspolitik als solche ist kein Bereich der Ethik und damit auch kein Feld, das in einer Didaktik der Ethik zu bearbeiten wäre. Aber sicherheitspolitisches Handeln unterliegt natürlich wie jedes menschliche Handeln dem ethischen Beurteilen. Die Ethik stellt hier eine andere Perspektive vor als die sicherheitspolitische, und dementsprechend sind auch die Kriterien und die Sprache eine andere. Unter ethischer Perspektive muss Sicherheitspolitik nach ethischen Kriterien beurteilt werden, die nicht aus ihr, der Sicherheitspolitik, selbst genommen werden können. So ist beispielsweise der (ethische) Begriff des (positiven) Friedens in ethischer Hinsicht dem der politischen Sicherheit gegenüber primär. Dementsprechend müssen die Maßstäbe für vertretbare Sicherheitspolitik in der Friedensethik erarbeitet und reflektiert werden. 

Didaktik der Ethik spielt insbesondere in den Berufsethiken, wie der Militärethik, eine besonders herausgehobene Rolle. Aber die Reichweite von Didaktik in der Ethik ist selbst ein Thema für die Ethik. Wenn wir davon ausgehen, dass ein wichtiger ethischer Fokus menschlichen Entscheidens nicht einfach auf den „Außenwirkungen“ von Handlungen „in der physischen Welt“ liegt, sodass Ethik durch Technik einfach nachzubilden sein könnte, sondern Faktoren betrifft, die im Handelnden selbst liegen – Haltungen, Einstellungen, Tugenden –, dann muss anerkannt werden, dass Erziehung, Gewöhnung, Vorbild und soziale Sanktion häufig die „didaktisch“ wesentlich wirksameren Vermittlungsgrößen darstellen als der Lehrvortrag oder das Studienseminar. Sogar für die Militärethik werden entscheidende Voraussetzungen im Gemeinschaftsleben einer Familie geschaffen, dann in der Schule und in weiteren zivilen sozialen Bezügen. Das kameradschaftliche Zusammenleben und -wirken innerhalb des Militärs tut dann sein Übriges. Die für jede humane soziale Beziehung so fundamentale Haltung der Dankbarkeit beispielsweise wird man durch bloßen Unterricht nicht erzeugen können. Auch Erkenntnis setzt Haltungen voraus: Das militärethisch triftige Argument benötigt einen Resonanzboden, auf dem es als Argument erst anerkannt werden kann.

Friedensethik als Tugendethik

Friedensethik wird häufig nur als Rechtsethik konzipiert, was schon insofern zu kurz greift, als Recht nicht die einzige normative Ordnung darstellt, die einen (negativen) Frieden befördern kann. Dass Friedensethik in einem eminenten Maße eine Tugendethik sein muss, kam in der deutschen Debatte erst durch die Arbeit von Alexander Merkl wieder etwas stärker in den Blick.14 Auch die Militärethik kann ohne Tugenden wie die der Tapferkeit nicht auskommen, denn die Soldatin oder der Soldat kämpft selten nur allein für sich, sondern in institutioneller Verantwortung auch für andere.15 In der Sicherheitspolitik sind Tugenden unumgänglich, wenn es nicht zu einem kontinuierlichen Aufschaukeln der wechselseitigen Bedrohungen kommen soll. Einer der fundamentalsten friedensethischen Imperative, der sowohl das militärische Handeln als auch insbesondere das sicherheitspolitische Erwägen leiten muss, fordert daher, stets den – echten oder nur vermeintlichen – Gegner in dessen Situation in den Blick zu nehmen und ihm bei aller spezifischen Auseinandersetzung16 mit grundsätzlicher Friedfertigkeit zu begegnen.17 Wenn friedensethische Didaktik an dieser Stelle erfolgreich ist, ist ihr Großartiges gelungen.

1 Vgl. Baumgartner, Hans Michael (1999): „Arbor porphyriana, porphyrischer Baum“. In: Lexikon des Mittelalters (LexMA). Stuttgart/Weimar, Sp. 889 f. 

2 Lahl, Kersten/Varwick, Johannes (2019): Sicherheitspolitik verstehen. Handlungsfelder, Kontroversen und Lösungsansätze. Frankfurt am Main. An anderer Stelle definiert Varwick so: „Sicherheitspolitik umfasst die Gesamtheit der politischen Ziele, Strategien und Instrumente, die der Kriegsverhinderung bei Wahrung der Fähigkeit zur politischen Selbstbestimmung dienen.“ Varwick, Johannes (2009): „Einleitung“. In: ders.
(Hg.): Sicherheitspolitik. Eine Einführung. Schwalbach/Ts., S. 7–14, S. 7. Damit ist aber der Begriff der Handlung, der Politik erst für Ethik zugänglich macht, umgangen.

3 Die Liste der Begriffe, gegen die „Sicherheit“ abgegrenzt wird, ist hier nicht vollständig. Im alltäglichen Sprachgebrauch werden zudem die Ausdrücke nicht klar unterschieden. „Gefahr“ beruht tendenziell eher auf (natürlichen) objektiven Gegebenheiten, „Bedrohung“ dagegen wird meist als das „Werk“ einer menschlichen Person verstanden, die bedroht. Der Begriff des Risikos wird zumeist dann verwendet, „wenn in einer Entscheidungssituation Alternativen zur Wahl stehen, die über Wahrscheinlichkeiten mit einem (Netto-)Schaden verbunden sind.“ (Nida-Rümelin, Julian/Rath, Benjamin/Schulenburg, Johann [2012]: Risikoethik. Berlin/Boston, S. 7). Der Akteursbezug ist also umgekehrt zu dem der „Bedrohung“.

4 Entscheidungen werden hier als grundlegend für Ziele, Strategien und Instrumente (vgl. Endnote 2) verstanden, da sowohl das politische Ziel als auch die Strategien und Instrumente von Entscheidungen abhängig sind.

5 Vgl. z. B. Platon: Nomoi [Gesetze], 627a (Plato [2016]: Laws. Ed. by M. Schofield, transl. by T. Griffith. Cambridge).

6 Zuweilen ist ethisch sogar eine „desecuritization“ erforderlich. Vgl. Floyd, Rita (2019): The Morality of Security. A Theory of Just Securitization. Cambridge.

7 Herz, John H. (1975): „Technik, Ethik und internationale Beziehungen“. In: Frankfurter Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik 30/8, S. 11–20, S. 14 f.

8 Nach Daase, Christopher (2010): „Der erweiterte Sicherheitsbegriff. Working Paper 1/2010“. www.sicherheitskultur.org/fileadmin/files/WorkingPapers/01-Daase.pdf (Stand: 22. Oktober 2019).

9 Auch institutionenethische Überlegungen können zur Militärethik gezählt werden. Vgl. zu den Dimensionen der ethischen Praxis: Gutmann, Thomas/ Quante, Michael (2017): „Individual-, Sozial- und Institutionen­ethik“. In: Werkner, Ines-Jacqueline/Ebeling, Klaus (Hg.): Handbuch Friedensethik. Wiesbaden, S. 105–114.

10 Walzer, Michael (5. Auflage 2015): Just and Unjust Wars. A Moral Argument with Historical Illustrations. New York. [1. Auflage 1977.]

11 Vgl. Koch, Bernhard (2019): „Friedensethik“. In: Gießmann, Hans-Joachim/Rinke, Bernhard: Handbuch Frieden. 2., überarb. Auflage. Wiesbaden), S. 147–162.

12 Dabei hat Papst Franziskus in seinem Brief „An das pilgernde Volk Gottes in Deutschland“ (vom 29. Juni 2019) ausdrücklich betont, dass „nur ‚in Ordnung und im Einklang‘ sein zu wollen“ – das, was ein „Frieden durch Recht“ bewirken kann – für die Gemeinschaft der Christen keine ausreichende Perspektive darstellt. www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2019/2019-108a-Brief-Papst-Franziskus-an-das-pilgernde-Volk-Gottes-in-Deutschland-29.06.2019.pdf (Stand: 22. Oktober 2019).

13 Vgl. Schockenhoff, Eberhard (2018): Kein Ende der Gewalt? Friedensethik für eine globalisierte Welt. Freiburg i. Br., S. 410–412; S. 501–514. 

14 Merkl, Alexander (2015): „Si vis pacem, para virtutes“. Ein tugendethischer Beitrag zu einem Ethos der Friedfertigkeit. Münster.  

15 Vgl. die Beiträge in: Koch, Bernhard (Hg.) (2019): Chivalrous Combatants? The Meaning of Military Virtue Past and Present. Baden-Baden. 

16 Vgl. Thomas Nagels Forderung nach Direktheit und Unmittelbarkeit bei allen gewaltsamen Angriffen (Nagel, Thomas [1974]: „War and Massacre“. In: War and Moral Responsibility: A Philosophy & Public Affairs Reader. Hg. von Marshall Cohen, Thomas Nagel und Thomas Scanlon. Princeton, S. 3–24. Deutschsprachige Version: Nagel, Thomas (2008): „Massenmord und Krieg“. In: Letzte Fragen. Erweiterte Neuausgabe, hg. von Michael Gebauer. Hamburg, S. 83–109.

17 Vgl. Overbeck, Franz-Josef (2019): Konstruktive Konfliktkultur. Friedensethische Standortbestimmung des Katholischen Militärbischofs für die Deutsche Bundeswehr. Freiburg i. Br., S. 84–87.; Koch, Bernhard (2019): „Der Raum dazwischen. Hybride Kriegsführung und die ‚Revisionistische Theorie des gerechten Krieges‘“. In: Wissenschaft und Frieden 3/2019, S. 29–32.

Zusammenfassung

Dr. Bernhard Koch

Bernhard Koch ist stellvertretender Leiter des Instituts für Theologie und Frieden in Hamburg und Privatdozent an der Albrecht-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau. Er studierte Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie sowie katholische Theologie in München und Wien und lehrte an der Pädagogischen Hochschule Weingarten, der Goethe-Universität Frankfurt a. M., der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr und der Universität Hamburg. Seit 2012 ist er Co-Teacher Ethics am ICMM Center of Reference for Education on IHL and Ethics, Zürich.

koch@ithf.de

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