Kontroversen in Militärethik und Sicherheitspolitik
Gibt es ein Recht auf militärische Gewalt unterhalb der Schwelle zum Krieg? Neue Technologien und die Debatte um das ius ad vim
In der Gegenwart, in der bewaffnete oder zumindest bewaffnungsfähige Drohnen gewissermaßen standardmäßig zum militärischen Arsenal von Staaten gehören, kann man zuweilen die Klage hören, die ethische Debatte um diese Technologien in Bezug auf die Bundeswehr hätte zu lange gedauert und sei schon deshalb typisch für die überbesorgte Diskussionskultur in Deutschland. Tatsächlich erstreckte sich die „Drohnendebatte“ von etwa 2012 bis 2021 über einen Zeitraum von annähernd zehn Jahren.[1] Die erste Ausgabe von Ethik und Militär aus dem Jahr 2014[2] ist ein sprechendes Dokument aus der Anfangszeit dieser Kontroverse, und sie behandelte auch damals schon die Problematik ferngesteuerter Luftfahrzeuge und sogenannter „autonomer Waffensysteme“ gemeinsam, obwohl politisch stets bekundet wurde, dass nur Drohnen, aber keinesfalls „Killerroboter“ für die Bundeswehr angeschafft werden sollen.[3]
Aus technologischer und militärischer Sicht ist es tatsächlich nicht passend, Fernsteuerung – bei der Menschen die vollständige Kontrolle behalten, sich aber selbst nicht im Kampf exponieren müssen – und „Autonomie“ – bei der die Maschine (vermeintlich!) selbst entscheidet – zusammenzunehmen. Aber es gibt Perspektiven, von denen aus es doch nicht ganz abwegig ist, die verschiedenen neuen („emerging“) Militärtechnologien gemeinsam in den Blick zu nehmen.[4] Denn Drohnen und autonome Systeme werden zu einem gewissen Teil für gemeinsame Ziele entwickelt: militärisches Vorgehen mit größtmöglicher Präzision. In den ersten Jahren unseres Jahrhunderts hat man von „chirurgischen Eingriffen“ gesprochen, weil man möglichst genau nur das „legitime“ Angriffsziel treffen und beiläufige Schäden so gering wie möglich halten wollte.[5] Das hat natürlich mit den Konfliktbildern dieser Zeit zu tun: Es ging vorrangig um friedenssichernde oder friedensstabilisierende Einsätze, in denen große militärische Mächte wie die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten in deutlich geringer entwickelten Einsatzgebieten (Afghanistan) gegen Aufständische oder Terroristen (Taliban) vorgingen. Im weitesten Sinne kann man von „humanitären Interventionen“ sprechen, und bei solchen Einsatzszenarien kommt es in besonderer Weise darauf an, die „Herzen und Köpfe“ der Menschen vor Ort zu gewinnen oder zumindest nicht nachhaltig zu entfremden. Die westlichen Pläne in Afghanistan gingen bekanntermaßen nicht auf, und es wird zu untersuchen sein, in welcher Weise der Einsatz von bestimmten Technologien hier möglicherweise zum Scheitern beigetragen hat. – Durch den russischen Angriff auf die Ukraine 2022 ist in gewisser Weise der zwischenstaatliche Krieg in unsere ethischen Debatten zurückgekehrt, was eine etwas andere mentale Ausgangslage schafft: Wir sprechen wieder klarer von Selbstverteidigung und wissen, dass jede Beschränkung in den Methoden und Mitteln der Kriegsführung letztlich dazu führen kann, dass der Krieg auch verloren geht – mit allen Konsequenzen. Diese Schärfe lag für die westlichen Streitkräfte in ihren Auslandseinsätzen so nicht vor: Man konnte abziehen. Die Konsequenzen trägt jetzt die Bevölkerung vor Ort.
(De-)Legitimation von Gewalt statt (De-)Legitimation von Technologie
Die Nutzung von Technologien – und eben auch Militärtechnologien – steht stets in einem sozialen Kontext, und eine faire Beurteilung ohne Bezug auf den Kontext ist kaum möglich. Zudem ist es selten die Technik selbst, die die größten ethischen Probleme aufwirft, sondern die Handlungen, die sich mit dieser Technik verbinden oder nahelegen. Es war nicht falsch, im Zusammenhang mit bewaffneten Drohnen die Praxis des „gezielten Tötens“ zu thematisieren[6], auch wenn sogenannte targeted killings auch mit anderen Waffen(systemen) als Drohnen durchgeführt werden können. Reaper- und Predator-Drohnen[7] sind nun einmal (in Verbindung mit Hellfire-Raketen) sehr gut für gezielte Tötungsaktionen geeignet, was umgekehrt eben auch bedeutet, dass die Verfügbarkeit des Mittels diese Verwendungsweise plausibler macht. Wer einen Hammer hat, für den sieht jedes Problem wie ein Nagel aus, sagte Abraham Maslow bereits vor Jahrzehnten.[8] Wer bewaffnete Drohnen hat, für den stellt sich die Frage des gezielten Tötens anders als für jemand, der über diese Technologie nicht verfügt. Daran ändert auch die durchaus richtige Einschränkung nichts, dass Drohnen nur in Konformität mit dem Humanitären Völkerrecht eingesetzt werden sollen. Das Humanitäre Völkerrecht schließt keineswegs jede gezielte Tötung aus, und schon gar nicht schließt es Drohneneinsätze grundsätzlich aus. Die Rechtfertigung der Nutzung dieser Technologie muss also an die Frage der Rechtfertigung militärischer Gewalt schlechthin angebunden werden. Dies verhält sich auch bei sogenannten „autonomen Waffensystemen“ nicht grundsätzlich anders. Es gibt Versuche, letale autonome Waffensysteme über das Argument, dass ihr Einsatz stets die Menschenwürde verletze, grundsätzlich auszuschließen. Aber möglicherweise ist dieses Argument rhetorisch vielversprechender als sachlich. Denn die Menschenwürde, die man hier ins Feld führt, kann nicht nur ein Wort sein, sondern sie muss für die Argumentation ein Begriff werden. Als Begriff benötigt der Ausdruck aber eine Definition, und ob man sich universal auf eine Definition der Menschenwürde einigen kann, die dann solche konkreten normativen Schlüsse zulässt, ist mehr als fraglich.[9] Nicht fraglich ist hingegen, dass es sich um Gewaltmittel handelt und dass die Nutzung von Gewaltmitteln in besonderer Weise rechtfertigungsbedürftig ist (sofern man gewaltsames Handeln nicht grundsätzlich ausschließt).
Der Ausdruck „(tödliche) autonome Waffensysteme“ stellt uns selbst vor große definitorische Schwierigkeiten. Wenn gesagt wird, dass autonome Waffensysteme, „selbständig über Leben und Tod entscheiden“, handelt es sich um einen Anthropomorphismus, denn was Entscheiden im eigentlichen Sinne bedeutet, wissen wir vor allem aus unserer Selbsterfahrung in der Praxis des Entscheidens. Dennoch ist dieser metaphorische Sprachgebrauch nachvollziehbar, schließlich scheinen wir selbst bei der Nutzung eines solchen Systems unsere Entscheidungsfähigkeit an die Maschine zu delegieren. Das ist auch nicht immer unvernünftig, schließlich wissen wir, dass wir zum Teil im Hinblick auf die Sensorik, also das Erkennen relevanter situativer Faktoren, wie auch im Hinblick auf die Rechenleistung – zum Beispiel bei der Einschätzung von Handlungsfolgen – mit der hoch entwickelten Maschine nicht mithalten können. Daher nehmen wir uns gewissermaßen aus der „Entscheidungsschleife“ heraus und hoffen auf die „bessere“ und – ganz wichtig im militärischen Konflikt – schnellere Entscheidung durch die Technik. Aber dadurch, dass wir uns zu entziehen versuchen (und für den Entzug verantwortlich bleiben), wird das technische Instrument noch nicht zum moralischen Akteur. Noch werden „autonome Waffensysteme“ allenfalls durch sogenannte „schwache künstliche Intelligenz“ gesteuert; hätten sie Bewusstsein und damit moralisches Bewusstsein, würde es sich um „starke künstliche Intelligenz“ handeln, die noch nicht erfunden ist und vielleicht nie erfunden werden kann.
Autonome Waffensysteme können in sogenannten „Schwärmen“ eingesetzt werden und dadurch auch ein Massenvernichtungsmittel sein. Aber die feingliedrige Technologie durch ausgezeichnete Sensorik und Rechenkapazität soll sich ja insbesondere dort bewähren, wo es auf kleinteilige, ebenfalls feine Wirkungen ankommt, also auf Präzision. Insofern sind autonome Waffensysteme gewissermaßen die Weiterentwicklung von ferngesteuerten Systemen (wie Drohnen) und damit auf gezielte Aktionen ausgerichtet – wie gezielte Tötungen oder signature strikes, bei denen die Zielperson anonym bleibt, aber durch Verhaltensmuster identifiziert wird. Die Geräte oder Systeme (also zum Beispiel verbundene Geräte) werden durch den technologischen Fortschritt immer kleiner und schrumpfen derzeit auf die Größe der auch von der Bundeswehr genutzten „Black Hornet“[10], also ca. 12 bis 16 cm Länge. Aber weitere Verkleinerung ist sicherlich machbar. Verbunden mit einer effektiven Gesichtserkennung könnte hier ein ganz neuer Typ eines targeted killers heranwachsen; geradezu eine Art „autonomes Waffeninsekt“. Die Vorstellung, dass solche Geräte auch für Privatpersonen und auf einem Breitenmarkt verfügbar werden, kann durchaus beängstigen.
Dennoch: Wir können uns sicher Fälle denken, in denen wir den Einsatz auch solcher Instrumente für moralisch akzeptabel erachten, beispielsweise im Kampf gegen Terroristen oder Aggressionsverbrechen. Nur: Welches normative Regelwerk soll hier einhegen und greifen? Auf der Basis des Menschenrechtsschutzregimes ist sicherlich eine unmittelbare Gefahrenabwehr zulässig, aber wie sieht es aus, wenn die oder der Angreifer erst in der Vorbereitung begriffen sind und die Gefahr nicht im strengen Sinne unmittelbar besteht? Die Menschenrechte lassen hier wohl keinen letalen Angriff auf eine Person zu. Das Humanitäre Völkerrecht dagegen erlaubt die Tötung von Gegnern (Kombattanten) auch ohne unmittelbare Bedrohung, aber es bedarf eines gewissen Ausmaßes von Gewalthandlungen auf beiden Seiten, um von einem bewaffneten Konflikt sprechen zu können, damit dieses Rechtsregime greift. Dem Sozialphilosophen Michael Walzer, der eines der einflussreichsten Bücher zur Ethik des Krieges geschrieben hat, wurde angesichts der Terrorangriffe zu Anfang dieses Jahrtausends das Problem ziemlich deutlich: Gegen bestimmte terroristische Gegner ist ein Staat bei strenger Bindung an die menschenrechtlichen Normen in seinen zulässigen Abwehrmaßnahmen ziemlich eingeschränkt, sodass möglicherweise keine effektive Abwehr erfolgen kann. Aber um eine Auseinandersetzung als Krieg qualifizieren zu können, in dem dann wirklich Kombattanten gegen gegnerische Kombattanten erlaubterweise militärische Gewalt anwenden können (so sieht Walzer dies[11]), müssten die Kämpfe eine Gewaltschwelle überschreiten, die beim Terrorismus beispielsweise so nicht gegeben ist. Aus diesem Grund stellt er die These in den Raum, dass es neben dem ius ad bellum auch eines ius ad vim für die Staaten bedarf, damit sie in Situationen von Gewalt unterhalb der Schwelle zum Krieg nicht untätig bleiben müssen.[12]
Das Konstrukt des ius ad vim
Michael Walzer selbst hat kein solches ius ad vim mehr erarbeiten wollen, aber die Anregung, die er gegeben hat, wurde von anderen aufgegriffen. Megan Braun und Daniel R. Brunstetter haben 2013 zwei Aufsätze veröffentlicht, in denen sie den Einsatz von bewaffneten Drohnen und die Frage des ius ad vim thematisieren.[13] Brunstetter hat – nach Kritik an dem Modell[14] – seine Ideen noch einmal überarbeitet und vor wenigen Jahren als Buch veröffentlicht.[15] Der Buchtitel Just and Unjust Uses of Limited Force. A Moral Argument with Contemporary Illustrations ist sehr selbstbewusst, da er auf Michael Walzers Klassiker anspielt, dessen Untertitel A Moral Argument with Historical Illustrations lautet. Walzer, so soll man es wohl verstehen, hat mit Beispielen aus der Geschichte gearbeitet, und so ist auch das ius ad bellum weitgehend eine Sache der Geschichte; Brunstetter dagegen entwickele eine Theorie der Gegenwart und erarbeite sie an zeitgenössischen Beispielen. – Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat gezeigt, dass auch die Gegenwart noch vieles bereithalten kann, was wir für eine Sache der Geschichte gehalten haben mögen. Dass sich Brunstetter derart an Walzer anlehnt, ist also mutig, aber das schmälert ja nicht den Wert der Reflexion über Gewalt unterhalb der Schwelle zum Krieg. Zumal sich Brunstetter durchaus Walzers Methode bedient und die Moralvorstellungen, die faktisches politisches Handeln durchdringen, aus der Art und Weise, wie über dieses Handeln gesprochen wird, ermitteln will.
In Deutschland ist diese Debatte um ein ius ad vim noch nicht angekommen, was zu einem großen Teil daran liegen mag, dass man die Bundeswehr nicht als offensiven Akteur diskutieren möchte. Auch in der Debatte um die Bewaffnung mit waffenfähigen Drohnen wurde ja immer wieder auf den Schutz der Soldatinnen und Soldaten rekurriert. Nun ergibt sich der Schutz vorrangig aus der Aufklärungsleistung von Drohnen; wenn man sie bewaffnet, dann will man auch Gegner treffen. Aber das wird weitgehend heruntergespielt. Wir erfahren in der Öffentlichkeit auch wenig über die Aktivitäten des Kommandos Spezialkräfte (KSK); Aktivitäten, die sich durchaus auch in einem Bereich der force short of war bewegen können. So schreibt die Homepage der Bundeswehr lediglich:
„Die Fähigkeiten des Kommandos Spezialkräfte erweitern die Handlungsoptionen der Bundesrepublik Deutschland im gesamten Aufgabenspektrum der Streitkräfte. Spezialkräfte sind in besonderem Maße für Operationen geeignet, die kontrolliert und jederzeit begrenzbar durchgeführt werden.“[16]
„Kontrolliert und begrenzbar“ sind auch die Schlüsselausdrücke für Gewalt, die – dem Anspruch nach – durch ein ius ad vim reguliert werden soll. Brunstetter wählt als Einstiegsbeispiele begrenzte Luftangriffe im Syrischen Bürgerkrieg als Vergeltung für den Einsatz von Chemiewaffen in den Jahren 2017 und 2018.[17] Es ging nicht um eine volle Beteiligung am Krieg und auch nicht darum, einen sogenannten regime change in Syrien herbeizuführen, sondern darum, ein Signal zu setzen, dass der Einsatz von verbotenen ABC-Waffen nicht geduldet wird. In unseren Tagen wird über Militärschläge gegen die sogenannten Huthi-Rebellen, die eine Bürgerkriegspartei im Jemen darstellen, berichtet. Parallel zur multinationalen „Operation Prosperity Guardian“ ab Dezember 2023, die ähnlich wie die EU-Mission „Aspides“ den Schutz von Handelsschiffen gewährleisten soll, wurden Angriffe gegen Stellungen dieser Gruppe durchgeführt – aber nicht mit dem vorrangigen Anliegen, in den Jemenitischen Bürgerkrieg einzugreifen, sondern um weitere Angriffe auf die zivile Schifffahrt im Roten Meer und Golf von Aden zu unterbinden. Bei solchen Angriffen kommen auch ferngesteuerte und vielleicht bald „autonome“ Drohnen zum Einsatz[18]. Ein ius ad bellum für einen vollen Krieg (full-scale war) war, so kann man annehmen, wohl weder in Syrien, noch ist es derzeit am Roten Meer gegeben. Aber kann das bedeuten, dass überhaupt keine militärischen Eingriffe möglich sind?
Special Forces sind nur ein Fall der Anwendung von limited force, die nach Brunstetter durch ein Modell des ius ad vim geregelt werden sollte. Neben Drohnenschlägen rechnet er auch Flugverbotszonen dazu. Das ist in unserem Zusammenhang deshalb erwähnenswert, weil insbesondere bei solchen Kontrollregimen wie no-fly zones sich die Frage nach der geeigneten Technologie stellt. Da eine schnelle Kombination von Aufklärungs- und Zuschlagsfähigkeit nötig ist, wäre hier sicherlich ein möglicher Anwendungsbereich für (KI-gestützte) autonome Waffensysteme gegeben. Die ethische Frage danach, ob also autonome Waffensysteme eingesetzt werden dürfen, ist in dieser Perspektive nicht anhand der Technologie selbst zu beantworten, sondern anhand des Einsatzkontextes: Um welche Art des Einsatzes mit welchen Zielen geht es? Flugverbotszonen können dem Schutz von Zivilpersonen dienen. Die Technik würde dann schlicht mithelfen, dass dieses Ziel auch realisiert werden kann, indem eben beispielsweise jegliches aufsteigende Flugobjekt (bemannt oder unbemannt) des Bedrohers sofort detektiert und „unschädlich gemacht“ werden könnte.
Ius ad vim soll in einem Zwischenbereich zur Anwendung kommen können, nämlich jenem zwischen einer menschenrechtskonformen Rechtsdurchsetzung, wie sie in funktionierenden Rechtsstaaten möglich und geboten ist (law enforcement paradigm), und dem Bereich des full-scale war, in dem die Menschenrechte eine untergeordnete Rolle spielen und das Humanitäre Völkerrecht mit seiner Erlaubnis, gegnerische Kombattanten angreifen und treffen zu dürfen, die relevante rechtliche Richtschnur darstellt.[19] Im Unterschied zur sogenannten „Revisionistischen Theorie des gerechten Krieges“, die gewissermaßen versucht, unsere menschenrechtlichen Grundvorstellungen in das Feld des Krieges hinein auszuweiten und „mitzunehmen“, kommt aber das ius ad vim eher von der Gegenseite her: Brunstetter sagt explizit, dass er „the recalibration of just war principles, combined with new principles that are specific to contexts of limited force“ verteidigen möchte.[20] Dementsprechend geht es beim ius ad vim nicht um neue oder andere Prinzipien – abgesehen von einem –, sondern um jene, die bereits aus der „Theorie des gerechten Krieges“ bekannt sind: „Just cause, legitimate authority, right intention, necessity or last resort, proportionality and reasonable hope of success“, wie Jai Galliott in der Einleitung des ersten umfassenden Sammelbands zum ius ad vim formuliert.[21] Die Formulierung ist dabei nicht harmlos, sondern setzt bereits den Ton: Der Grund wird im Gegensatz zu Thomas von Aquin (S. Th. II-II 40) hier vor der Autorität genannt, das Ultima-Ratio-Kriterium wird auch als „Notwendigkeit“ verstanden und es ist nicht von einer vernünftigen Aussicht auf Erfolg (reasonable prospect of success) die Rede, sondern von einer Hoffnung auf Erfolg, was dieses Kriterium durch Subjektivierung etwas entschärft. Über all diese Feinheiten, die bei genauerem Hinsehen mehr als Feinheiten sind, wäre ausgiebig zu diskutieren. Hier kann nur kurz auf die Probleme im Verhältnis von gerechtem Grund und legitimer Autorität hingewiesen werden: Die traditionelle Zugangsweise bei den Überlegungen, unter welchen Bedingungen ein Krieg erlaubt sein kann („utrum bellum sit licitum“, Thomas v. Aquin; nicht, ob er „gerecht“ sein kann) versteht unter der Autorität jene des (christlichen?) Fürsten, was man in der Neuzeit dann auf den Staat übertragen hat. Die Beispiele, die von Brunstetter und anderen für das ius ad vim gebracht werden, sehen ebenfalls stets Staaten als Akteure vor. Die Frage, ob sie als solche überhaupt zur Gewalt legitimiert sind, rückt gegenüber der Frage nach dem Grund der Gewalt in den Hintergrund. Aber das ist keinesfalls selbstverständlich. Man könnte durchaus argumentieren, dass auch andere politische Gruppen ein Recht zur Gewalt haben können, zum Beispiel Separatisten, die den Staat als Fremdherrschaft empfinden und auf eine Ablösung vom alten und einen eigenen neuen Staat drängen. Gerade in dieser Hinsicht erweisen sich sogenannte „revisionistische“ Ansätze in der gegenwärtigen Debatte um den „gerechten Krieg“ – wie jener von Cécile Fabre[22] – als deutlich leistungsfähiger. Der „Revisionismus“ beginnt eben ganz grundsätzlich mit der ursprünglichen Autorität beim Individuum, und jede Autorität von Gruppen oder Staaten hat ihre normative Quelle in jeder der Einzelpersonen.[23]
Ein Recht der Starken?
Dieser revisionistische Zugang ist andererseits im Hinblick auf die Begrenzung von Gewalt durchaus problematisch, denn gerade die Nutzung modernster Technologien würden die meisten wohl lieber nur bei den Staaten gebündelt sehen. Zwar geben auch viele Staaten durch den Besitz von Drohnen und zunehmend KI-gesteuerten Waffensystemen Anlass zur Besorgnis – aber nicht staatliche Gruppen, die sich auch völkerrechtlich schlechter einbinden lassen, beunruhigen als Besitzer und Nutzer von ferngesteuerten, autonomen oder teilautonomen Technologien wahrscheinlich noch mehr. Das ius ad vim bietet hier aber ebenfalls wenig Ansatzpunkte zur Einhegung. Es scheint sehr stark von den faktischen Kräfteverhältnissen der sogenannten Nullerjahre dieses Jahrhunderts her gedacht zu sein: Drohneneinsätze kamen damals vor allem von staatlicher Seite in Betracht, und auch die Zahl der Staaten schien zunächst auf jene begrenzt, deren grundsätzliche Autorität man nicht infrage stellte – wie die Vereinigten Staaten von Amerika oder das Vereinigten Königreich. Das bringt das ius ad vim nicht ganz zu Unrecht unter den Verdacht, dass es sich vor allem um ein Recht der Starken handelt. „Wer ko [kann], der ko“ – diese bayerische Lebensweisheit mag zwar faktisch häufig zutreffen, aber als normatives Modell taugt sie nur im Zynismus. Brunstetter und andere Vertreter dieses Zugangs kennen den Einwand und versuchen ihm mit einer – oben schon kurz angedeuteten – zusätzlichen Bedingung den Wind aus den Segeln zu nehmen: einem Kriterium der „probability of escalation“[24]. Die durch das ius ad vim gerechtfertigte Gewalt muss stets so limitiert bleiben, dass sie nicht zu einem „vollen“ Krieg eskaliert: „Vim acts can be justified only if there is a reasonably low risk that they will result in the escalation of violence to war.“[25] An anderer Stelle wird dieses „Prinzip“ ergänzt durch die Forderung nach einer „predisposition toward maximal restraint“[26].
Aber in welcher Weise kann dieses Prinzip überhaupt begrenzen?[27] Der Ausdruck „Eskalation“ bleibt unbestimmt. Man gewinnt den Eindruck, dass die Eskalation vor allem dann vorläge, wenn aus den Angriffen einer staatlichen Konfliktpartei auf eine nicht staatliche Konfliktpartei ein Krieg zwischen zwei Staaten resultieren würde. Das wäre dann eine griffigere Bestimmung. Ähnlich steht es mit maximal restraint: „Maximale Beschränkung“ wäre der Verzicht auf Gewalt; das soll nun aber gerade nicht gefordert werden. Woran bemisst sich also, ob die Beschränkung maximal ist? Offenbar ist ein Beziehungsgefüge zu einem festen Ziel gemeint: Wir wollen A besiegen, aber dies so gewaltarm wie möglich. Das klingt moralischer, als es ist, denn am Ziel des Sieges wird ja festgehalten. Umgekehrt könnte man auch formulieren: Wir werden jede Gewalt nutzen, die nötig ist, um zu siegen. Das ius ad vim stellt uns also keine deontologische Normsetzung vor, die auch bedeuten kann, dass man sich selbst um der Normeinhaltung wegen preisgeben (oder zumindest eine Niederlage in Kauf nehmen) muss, sondern sie funktionalisiert moralische Normen auf Handlungsziele hin, die man für nicht mehr weiter begründungspflichtig erachtet.
Verstetigter Konflikt, brüchiger Frieden
Freilich muss man eingestehen, dass der Begriff des Sieges in diesem Kontext zu Recht problematisiert wird. Bei Situationen, in denen das ius ad vim in Erwägung gezogen wird, geht es offenbar nicht um Gewalteinsätze, die die Gegner zur Kapitulation treiben sollen. Angestrebt wird lediglich ein „truncated victory“, also ein „Rumpfsieg“. Der Gegner, der mit vis bekämpft wird, kann (politisch) überleben, aber er darf beispielsweise bestimmte Praktiken (zum Beispiel den Einsatz von Gas) nicht mehr weiter ausüben. Es liegt ein Gewinn darin, dass die Debatte um das ius ad vim die Schwierigkeit, heute – auch angesichts der vorhandenen Militärtechnologien – noch einen angemessenen Begriff des Sieges zu finden, offen anspricht.[28] Andererseits: Sich mit einem truncated victory zufriedenzugeben, ist nicht in jeder Hinsicht als Genügsamkeit lobenswert. Denn diese „unvollständigen“ Siege belassen es bei einer latenten Konfliktlage, die in Gewalt ausarten kann. Wiederum kann man sich die Lage anhand von Drohnen und autonomen Waffensystemen vor Augen führen: Truncated victory heißt eben auch, dass die Drohnenbasen bestehen und die Überwachungsflüge aktiv bleiben. Der nächste nonkonforme Vorfall kann zu einem erneuten Militärschlag führen. Wer die technische Ausrüstung dafür besitzt, wird mit dieser Situation leichter zurechtkommen als jener, der gewissermaßen „Objekt“ dieser Technik geworden ist. Frieden ist hier nicht mehr anders denn als brüchig zu verstehen. Daran ändert auch wenig, dass Brunstetter ganz dezidiert mit dem ius post vim beginnen will. Denn das ius post vim verzichtet auf „klassische“ Kriterien des ius post bellum wie „rehabilitation, regime change, war crimes trials, and so on“[29]. Sie seien in einem solchen Kontext nicht durchführbar („feasible“[30]). Zu diesen – fallen gelassenen – Kriterien gehört offenkundig auch die Versöhnung. Ohne Versöhnung gibt es aber keinen positiven Frieden.[31] Gewalt wird zumindest als latente Gewalt perpetuiert.
Mittlerweile scheint die Realität diesem Theoriekonstrukt – so man es überhaupt als solches bezeichnen kann – schon wieder etwas entkommen zu sein. Der andauernde (Mai 2024) militärische Einsatz Israels im Gazastreifen nach dem verheerenden Überfall der Hamas vom 7. Oktober 2023 stellt in gewisser Weise keinen full-scale war wie jener in der Ukraine dar. Denn dort kämpfen zwei staatliche Armeen und staatliche Konfliktparteien gegeneinander; hier verfolgt eine staatliche Armee eine politische Gruppe und deren bewaffnete und extrem gewaltbereite Mitglieder. Der „Krieg“ im Gazastreifen ist ein asymmetrischer Konflikt, jener in der Ukraine ist zumindest formal symmetrisch. Dennoch geht der israelische Militäreinsatz weit über Drohnenschläge oder sonstige vereinzelte Gewaltmaßnahmen hinaus, und die Vernichtung des Gegners ist erklärtes Ziel[32]. Mit dem ius ad vim ist dies wohl kaum mehr zu fassen. Bedarf es also erneut einer gesonderten Kategorie eines ius ad magnam vim für solche Vorgänge von ganz großer Gewalt? Soll es sich auch dabei dann um ein unabhängiges Theoriekonstrukt handeln, das vom ius ad bellum und vom ius ad vim wie vom law enforcement abgetrennt ist? Wir kommen so zurück zur Ausgangslage, die David Rodins[33] und Jeff McMahans[34] Kritik an Michael Walzers Trennungsthese von ius ad bellum und ius in bello motiviert hat: Es ist nicht plausibel, für immer mehr soziale Felder Sonderethiken wie eine Ethik des Krieges anzunehmen. Auch die Normen von Gewalt und Konflikt müssen mit unseren moralischen Alltagsannahmen vereinbar sein. Insofern bietet der von der individuellen Rechtsverletzung ausgehende Ansatz eine deutlich überzeugendere Alternative für die Normativität gewaltsamen Handelns als die Unterscheidung sozialer Sonderbereiche. Als deontologische Ethik hat sie vor allem die Gewaltlimitierung im Blick, und dies auch dann, wenn die Normbefolgung mit Kosten verbunden ist. Sich an Normen im Sinne von „gerechtem Krieg“ gebunden zu fühlen, bedeutet eben auch, einen möglichen Nachteil in Kauf nehmen zu müssen, denn die Normen für Gewalt gelten nicht unter Vorbehalt.
Was bedeutet das für die eingangs angesprochenen neuen Militärtechnologien? Ein maximal restraint, der über den Ansatz Brunstetters hinausgehen und nur die Abwehr unmittelbarer Aggressionen (unter weitgehendem Verzicht auf Gegenschläge) beinhalten würde, erscheint nötiger denn je. Der Versuchung, einen militärisch-technologischen Vorteil zur Schwächung des Gegners oder zur Vergeltung auszunutzen, läuft das freilich zuwider. Dennoch sollten technologisch überlegene Staaten gerade solche asymmetrischen Konstellationen zum Anlass nehmen, sich den Beitrag zunehmend „entmenschlichter“ Technologien zu einem latenten Dauerkonflikt bewusst zu machen. Es ist etwas anderes, mit ihrer Hilfe die eigene Verwundbarkeit zu reduzieren, als auf ihre vermeintliche Eignung für präzisen, limitierten Gewalteinsatz im Rahmen eines ius ad vim zu setzen. In letzterem Fall könnten die mittlerweile zur Verfügung stehenden Mittel wie autonome Waffensysteme uns alle zu Verlierern werden lassen.
[3] Zu den ethischen Aspekten vgl. Koch, Bernhard (2019): Die ethische Debatte um den Einsatz von ferngesteuerten und autonomen Waffensystemen. In: Werkner, Ines-Jacqueline und Hofheinz, Marco (Hg.): Unbemannte Waffen und ihre ethische Legitimierung. Wiesbaden, S. 13-40.
[6] Vgl. Koch, Bernhard (2011): Ein Beigeschmack von Selbstjustiz. Lässt sich das gezielte Töten von Terroristen rechtfertigen? In: Herder Korrespondenz. Monatshefte für Gesellschaft und Religion 65 (7), S. 352-356.
[8] Vgl. Maslow, Abraham (1966): The Psychology of Science. A Reconnaissance. New York/London, S. 15 f. Vgl. Koch, Bernhard (2022): Technikethik. In: Merkl, Alexander und Schlögl-Flierl, Kerstin: Moraltheologie kompakt. Grundlagen und aktuelle Herausforderungen. Regensburg, S. 340-350.
[9] Vgl. Koch, Bernhard (2024): Menschenwürde und „autonome“ Robotik: Worin besteht das Problem? Der Beitrag ist ebenfalls in dieser Ausgabe enthalten.
[11] Sogenannte „Revisionisten“ (siehe unten) sehen allenfalls eine Kriegspartei (nämlich jene mit den gerechten Gründen) als moralisch berechtigt an, den Krieg zu führen.
[12] Walzer, Michael (2006): Just and Unjust Wars. 4th ed. New York., S. xiv f.
[13] Braun, Megan und Brunstetter, Daniel R. (2013): State of the Union: A Decade of Armed Drones. In: Brown Journal of World Affairs 19/2, S. 81-95; dies. (2013): From Jus ad Bellum to Jus ad Vim. Recalibrating our Understanding of the Moral Use of Force. In: Ethics & International Affairs 27/1, S. 87-106.
[14] Frowe, Helen (2016): On the Redundancy of Jus ad Vim. A Response to Daniel R. Brunstetter and Megan Braun. In: Ethics & International Affairs 30/1, S. 117-129.
[15] Brunstetter, Daniel R. (2021): Just and Unjust Uses of Limited Force. A Moral Argument with Contemporary Illustrations. Oxford.
[19] Jai Galliott bringt daher nicht nur das Faktum der militärtechnologischen Entwicklung in seiner Bedeutung für die Ausprägung für das ius ad vim ins Spiel, sondern darüber hinaus auch die normative Forderung nach einer „Schutzverantwortung“. Das Gewicht liegt aber auch in seiner Darstellung auf dem technologischen Aspekt. Galliott, Jai (2019): An Introduction to Force Short of War. In: ders. (Hg.): Force Short of War in Modern Conflict. Jus ad Vim. Edinburgh, S. 1-12, S. 8.
[20] Brunstetter, Daniel R. (2021), s. Endnote 15, S. 13.
[22] Fabre, Cécile (2012): Cosmopolitan War. Oxford.
[23] Jai Galliott kritisiert den Revisionismus, weil die Unterscheidung zwischen „objectively just and unjust causes … nigh impossible“ sei, was die Revisionisten nicht angemessen würdigten (Galliott, Jai (2019), s. Endnote 19, S. 5). Aber wenn dies so ist, dann steht das ius ad vim erst recht in der Kritik, denn auch dieses lebt ja davon, dass sich die Unterscheidung klar treffen lässt. Ansonsten haben schnell beide Seiten ein ius ad vim.
[24] „This criterion [the probability of escalation] blends elements of the jus ad bellum proportionality and probability of success criteria to conceive the risks of using limited force.“ (Brunstetter, Daniel R. (2021), s. Endnote 15, S. 24).
[25] Brunstetter, Daniel R. (2021), s. Endnote 15, S. 24. – Es gehört zu den Kuriosa von Brunstetters Buch, dass er stets von „vim“ spricht (also im lateinischen Akkusativ), wo es eigentlich „vis“ (im Nominativ) heißen müsste.
[26] Brunstetter, Daniel R. (2021), s. Endnote 15, S. 17.
[27] Zur Kritik an diesem zusätzlichen Prinzip vgl. auch: Lango, John (2019): Just War Theory, Armed Force Short of War and Escalation to War. In: Galliott, Jai (Hg.), s. Endnote 19, S. 148-169.
[28] So wie auch im „ius in vi“ die Schwierigkeit einer haltbaren Unterscheidung zwischen gegnerischen Kombattanten und Zivilisten angesprochen wird; zudem wird auch ausdrücklich gemacht, dass es im „ius in vi“ nicht nur um den Schutz von Zivilisten geht, sondern auch um die Minimierung eigener Opfer auf Seiten der staatlichen Konfliktpartei (vgl. Galliott, Jai (2019), s. Endnote 19, S. 6).
[29] Brunstetter, Daniel R. (2021), s. Endnote 15, S. 23.
[31] Vgl. zur Versöhnung Koch, Bernhard (2023): Anger and Reconciliation. In: Conatus - Journal of Philosophy 8 (2), S. 279–298. doi.org/10.12681/cjp.35255.
Dr. Bernhard Koch ist kommissarischer Leiter des Instituts für Theologie und Frieden in Hamburg und außerplanmäßiger Professor für Moraltheologie an der Universität Freiburg. Er studierte Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie sowie katholische Theologie in München und Wien und lehrte an der Pädagogischen Hochschule Weingarten, der Goethe-Universität Frankfurt a. M., der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr und der Universität Hamburg. 2014 war Bernhard Koch Visiting Fellow am Oxford Institute for Ethics, Law and Armed Conflict (ELAC). Seit 2012 ist er Co-Teacher Ethics am ICMM Center of Reference for Education on IHL and Ethics, Zürich.