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Resilienz, Tugendethik und psychische Gesundheitsfürsorge

Einführung

Der vorliegende Artikel widmet sich den Themen Resilienz, Tugendethik und psychische Gesundheitsfürsorge. Die Betrachtung dieser drei Konzepte hilft uns, die Entschlossenheit derjenigen Menschen zu verstehen, die gewohnheitsmäßig oder beruflich bedingt mit Gefahren und Schwierigkeiten umgehen. Durch eine umfassendere Analyse der Dimensionen von Tugend versuchen wir das Thema breiter darzustellen, als dies üblicherweise der Fall ist. Resilienz dient in diesem Kontext als Metapher. Sie steht für die Fähigkeit eines Objekts, in seinen ursprünglichen Zustand „zurückzuspringen“, seine Integrität zu wahren und aus diesem Prozess gestählt hervorzugehen. Auf den Menschen bezogen nutzen wir den Begriff, um zu verstehen, wie menschliche Fähigkeiten den Einzelnen in die Lage versetzen können, sich Gefahren und Schwierigkeiten auszusetzen und gleichzeitig nach dem Guten zu streben, so wie es in der vollen menschlichen Entfaltung seinen Ausdruck findet – auch im Kontext moralischer Verletzung (moralisch verletzender Erfahrungen).

Drei Themen stehen im Zentrum des vorliegenden Aufsatzes. Zunächst betrachten wir diejenigen Aspekte, durch die sich die Tugendethik einem verengten Verständnis von Ethik und philosophischer Anthropologie widersetzt. Anhand eines Überblicks über die 13 Dimensionen eines aristotelisch-thomistisch-personalistischen Ansatzes wird erörtert, wie Tugenden zur Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit beitragen. Unseren Ansatz bezeichnen wir als das „integrierte Metamodell der Person“ (kurz: Metamodell). Es dient uns als Rahmen für die Einbindung verschiedener Erkenntnisse.[1]

Zweitens widmen wir uns im Verlauf dieser Darstellung Tugenden auf der Grundlage psychischer Gesundheit, um Menschen zu verstehen, die an den Folgen schwieriger Lebensereignisse leiden, etwa Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS), Depressionen, Suizidgedanken oder moralische Verletzungen.[2]

Drittens diskutieren wir drei Aspekte von Resilienz als Beispiel für einen integrativen Tugendansatz. Die Überschneidung von Tugendethik, psychischer Gesundheitsfürsorge und Militärdienst bietet uns die Gelegenheit, unter Einbeziehung von Erkenntnissen aus der Resilienz- und sonstigen Tugendforschung sowie aus der psychischen Gesundheitsfürsorge in der Praxis die interaktiven Dimensionen der Tugendethik zu benennen.

Resilienz, Tugendethik und psychische Gesundheit als Rahmen

Unser tugendethisches Metamodell soll als Rahmen für die Einbettung von Erkenntnissen zu Resilienz und psychischer Gesundheit dienen. Trotz gewisser Überschneidungen gibt es gute Gründe zu untersuchen, welchen Beitrag jede einzelne der 13 Dimensionen zum tieferen Verständnis des Menschen in einem erweiterten aristotelisch-thomistisch-personalistischen Ansatz (Tabelle I) leistet. Allerdings können wir hier bei der Betrachtung der Bereiche psychische Gesundheit und Militär nur auf acht dieser Dimensionen genauer eingehen.

Das Narrativ der Tugendethik umfasst die großen Denkschulen der Moraltheorie, die von den Klassikern – vor allem Platon, Aristoteles und den Stoikern – geprägt wurden. Relevante Beiträge aus der christlichen Tradition sind die Bibel (Dekalog, Weisheitsliteratur, apostolische Moralunterweisungen), Augustinus von Hippo und Thomas von Aquin. Diese Quellen können für moderne Tugendethiken und die psychische Gesundheitsfürsorge fruchtbar gemacht werden, die auch Fragen nach dem ultimativen Sinn des Lebens und persönlicher Entfaltung[1]  durch Offenheit für spirituelle und Glaubenspraxis Beachtung schenken.

Mit der Renaissance tugendethischer Ansätze sind jedoch auch alte Auseinandersetzungen zwischen den konkurrierenden Auffassungen zur Bedeutung der perzeptiven, emotionalen, kognitiven, volitionalen und sozialen Entwicklung in der Ethik wiederaufgeflammt. Einige zeitgenössischen Autoren lehnen den Tugendbegriff ab, weil sie ihn als funktionalen Typus starren Handelns, Pflichterfüllung oder Regeltreue ohne zwischenmenschliches Engagement interpretieren, als Sozialwissenschaft ohne eine Betrachtung des einzelnen Menschen, als Philosophie ohne Weisheit bzw. als Erlösung ohne Transzendenz.

Doch die Tugendtheorie bietet der Ethik positive Chancen, erstens hinsichtlich einer Vereinbarkeit von Tugend in Recht, Pflicht und Normativität; zweitens mit Blick auf die Integration der persönlichen Entfaltung in einen Tugendansatz; drittens bei der Verortung des Handelns im Verhältnis zur Handlungsbereitschaft; viertens in Bezug auf die Einbeziehung des Beitrags der Humanwissenschaften in einen normativen Ansatz, und fünftens für die Öffnung gegenüber der Transzendenz.

Unserer Ansicht nach lassen sich die Möglichkeiten der Tugendtheorie nur erschließen, wenn wir in unser Bild auch die verschiedenen Dimensionen der Tugend einbeziehen

Unserer Ansicht nach lassen sich die Möglichkeiten der Tugendtheorie nur erschließen, wenn wir in unser Bild auch die verschiedenen Dimensionen der Tugend einbeziehen. Es gibt immer mehr Versuche, Tugenden in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Als Grundlage für ihre Klassifizierung von Character Strengths and Virtues[3]aus psychologischer PerspektiveWeisheit und Wissen, Mut, Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Transzendenz dientPeterson und Seligman das VIA Inventory of Strength. Darüber hinaus werden in der Tugendforschung immer mehr Ansätze und Skalen zur empirischen Überprüfung diverser Tugenddefinitionen und -beschreibungen entwickelt. Im Kontext der Streitkräfte nimmt De Vries sieben Tugenden für die militärische Praxis und Charakterbildung in den Blick: Verantwortungsbereitschaft, Kompetenz, Kameradschaft, Respekt, Mut, Resilienz und Disziplin (sowie die praktische Weisheit, auf der diese Tugenden gründen).[4]

Wir betrachten auch die Tugend der Resilienz, die historische Vorläufer hat. Von besonderem Interesse ist dabei die Resilienz, die sich in Momenten alltäglicher und außergewöhnlicher Belastungen und Traumata auf der Grundlage einer zuversichtlichen, zukunftsgerichteten Lebenseinstellung zeigt. Der Begriff der Resilienz dient dazu, Individuen und Gruppen in Problemlagen zu verstehen. Er beinhaltet drei biopsychosoziale und spirituelle Komponenten und umfasst die individuelle und soziale Fähigkeit zur (1) Bewältigung von Stress, Problemen und Traumata, (2) zur Wahrung der eigenen bzw. der Gruppenintegrität unter widrigen Umständen sowie (3) zu posttraumatischem Wachstum in solchen Situationen. Der vorliegende Beitrag nennt beispielhaft Schutz- und Risikofaktoren für Resilienz bzw. Vulnerabilität.[5]

Tabelle I
Die 13 Dimensionen einer tugendbasierten Ethik und Anthropologie[6]

  1. Tugend ist performativ (handlungsbasiert).
  2. Tugend hat eine vervollkommnende und eine korrektive Dimension (akteursbasiert).
  3. Tugend ist zweckgerichtet (vernunftbasiert, teleologisch).
  4. Tugend ist ethisch (auf moralische Normen gegründet).
  5. Tugend wird beeinflusst von der Einzigartigkeit des Menschen, seiner angeborenen gleichen Würde, von biologischem Geschlecht und Komplementarität.
  6. Tugend ist verbindend, relational und entwicklungsorientiert.
  7. Tugend wird über über Vorbilder vermittelt (Lernen anhand von Beispielen und Mentoring).
  8. Tugend wirkt mäßigend (ausgewogen, „die goldene Mitte“).
  9. Tugend ist stärkebasiert (präventiv).
  10. Tugend ist nichtreduktionistisch (kontextuell).
  11. Tugend wird angewandt (Forschung und Praxis).
  12. Tugend ist kontextabhängig (Pflichten aus Beruf und Berufung).
  13. Tugend ist offen für die spirituelle Dimension und für Gott (Transzendenz).

1. Tugend ist performativ (handlungsbasiert)

Dimension. Wir bringen Tugenden durch unser Handeln, Verhalten, unsere Praxis und Leistung zum Ausdruck. Wir können Tugenden als Leistungen bezeichnen, da wir durch tugendhaftes Handeln und eine tugenderfüllte Praxis unsere guten Absichten und Wünsche kommunizieren, die ein narratives Konstrukt von Zielen, Werten und Pflichten unterstützen. Alasdair MacIntyre erinnert daran, dass ein kohärentes Set von Praktiken und Tugenden spezifischen Handlungsfeldern wie psychische Gesundheitsfürsorgeund militärisches Handeln (Praxis) zugrunde liegt.[7]

Vorstellung und Erinnerung allein genügen nicht, um Menschen darin anzuleiten, Gutes zu tun. Etablierte Praktiken geben der Vorstellungskraft, Erinnerung und der instinktiven Bewertung, die Teil jeder Handlung sind, eine Richtung. Ein tugendhafter Akt gelangt durch Entscheidung, Verhalten, Üben und Ausführung zum Vollzug. Solch moralisch signifikantes Handeln des Menschen hat sowohl eine innere als auch eine äußere Komponente.

Bedeutung für die psychische Gesundheit und Resilienz. Vielleicht haben wir uns etwas Schwieriges vorgenommen, etwa eine weite Reise zur kranken Mutter oder einen militärischen Einsatz. Unsere Bereitschaft, uns diesen Härten und den entsprechenden Folgen zu stellen, ist notwendig, aber für die Vollendung der Handlung nicht hinreichend. Der Ausbilder muss den Auszubildenden daher zu mutigem Verhalten bewegen, also Kognition, Emotion und Verhalten ins Zentrum rücken. Wir müssen uns der Durchführung der Aufgabe widmen, um persönliches Wachstum zu erfahren. Dabei geht es um mehr als rein psychische Dimensionen oder die innere Einstellung, sondern um das moralische Handeln. Es geht um den authentisch moralischen Akt, den dieses Kind oder jener Soldat vollzieht. Zwar verortet sich tugendhaftes Handeln im Kern der Ethik, doch Tugenden müssen ein- und ausgeübt werden, um mutiges Handeln zu fördern und moralischen Ansprüchen zu genügen.[8] Durch tugendhafte Praktiken, die die Ziele der Ausbildung und Therapie sowie weitere Formen der Aufgabenerfüllung verkörpern, erlangen wir Resilienz.

Defizite der performativen Dimension. Mitunter verkürzen wir die performative Dimension der jeweiligen Tugend zu stark. Vielleicht konzentrieren wir uns zu sehr auf die Art von Aufgabe, deren Erfüllung wir gerade vorbereiten. Vielleicht vernachlässigen wir das Bedürfnis des Kontakts zu anderen Menschen, die uns als Vorbilder dienen können. Vielleicht ignorieren wir die menschlichen Kosten des resilienten Handelns und berücksichtigen die zahlreichen Ebenen menschlicher Handlungen nicht im ausreichenden Maß.

2. Tugend hat eine vervollkommnende und eine korrektive Dimension (akteursbasiert)

Dimension. Tugenden verändern uns. Früheres Handeln, alte Entscheidungen wirken nach, auf die handelnde Person (den Akteur/die Akteurin) ebenso wie auf unsere Haltungen und unseren Charakter. Aristoteles lehrt uns, dass es bei Tugenden um moralische Entscheidungen über das Handeln geht, die den moralischen Status unseres Charakters prägen.[9] Tugenden beeinflussen die verschiedenen Dispositionen zum Handeln und Fähigkeiten, die wir verändern, korrigieren und perfektionieren können. Aufgrund der umfassenden menschlichen Neuroplastizität hat das Zum-Ausdruck-Bringen von Tugenden auf verschiedenen Ebenen eine vervollkommnende und korrektive Wirkung.[10] Neb postuliert in diesem Zusammenhang: „Neuronen, die gemeinsam feuern, sind Neuronen, die gemeinsam steuern.“[11] Tugendhafte Handlungen sind zudem komplex, und ihr Einfluss ist für Beobachter oder Beobachtungsinstrumente nicht immer wahrnehmbar. Manchmal bringen wir innere Handlungen nicht zum Abschluss. Wir entscheiden uns beispielsweise zunächst für eine bestimmte Maßnahme (diese Auswahl ist ein Willensakt), doch vollenden sie nicht, weil sich keine Gelegenheit dazu bietet. Diese im Inneren vollzogenen Handlungen verändern jedoch unsere Bereitschaft, in Zukunft analog zu agieren. Allerdings sind derartige Tendenzen, uns in Zukunft erneut ähnlich tugendhaft zu verhalten, möglicherweise nicht konsistent.

Tatsächliche Freiheit bedeutet mehr als die Freiheit von den Dingen, die uns daran hindern, zu tun, was wir tun wollen

Theorie und Praxis von Tugend und Gewöhnung zeigt, dass der Mensch auf neurophysiologischer, psychologischer und moralischer Ebene im korrektiven und vervollkommnenden Sinne formbar ist.[12] Sie trägt in nichtreduktionistischer Weise zur Erklärung der menschlichen Freiheit bei. Tatsächliche Freiheit bedeutet mehr als die Freiheit von den Dingen, die uns daran hindern, zu tun, was wir tun wollen. Sie impliziert die Freiheit, die Fähigkeiten zu entwickeln und zu nutzen, mit deren wir unsere Vorhaben exzellent und präzise in die Tat umsetzen können. Diese positive Haltung lässt uns die Absicht, anderen Gutes zu tun, in die Tat umsetzen – etwa als Sohn gegenüber der eigenen Mutter genauso wie als Soldat für die Kameraden und die Einheit.

Diese guten potenziellen Gewohnheiten wurzeln in unseren Fähigkeiten zum Handeln und in unseren Veranlagungen, die sich als veränderbar erweisen – Sinneswahrnehmungen, Vorstellungskraft, Emotionen, Intellekt und Wille. Ebenso wie die Neigungen werden verschiedene Arten von Tugenden unterschieden, etwa die Kardinaltugenden (moralische Tugenden), intellektuelle und theologische (spirituelle) Tugenden.

Folgen für Resilienz und psychische Gesundheit. Die beständige Ausführung bestimmter Handlungen verändert die Disposition für zukünftiges Handeln. Diese Tatsache bildet den Kern von Ausbildung. So können wir etwa das Gefühl von Angst oder Kühnheit ausdrücken. Daher brauchen wir die Tugend des Muts, um diese Emotionen tugendhaft und vernünftig einzusetzen, wenn wir uns der Herausforderung stellen, etwas Positives zu erreichen oder etwas Böses zu verhindern. Aufgrund der unterschiedlichen emotionalen Erfahrung und der vielfältigen Muster emotionsbasierter Tugenden (ethische Tugenden) müssen wir zum Beispiel den Mut fassen, uns bei gefährlicher Witterung oder in feindlicher Umgebung fortzubewegen. Darüber hinaus gibt es moralische Tugenden der Selbstkontrolle, durch die wir unsere Emotionen regulieren, wenn wir von etwas angezogen oder abgestoßen werden. Eine Auszubildende muss beispielsweise Situationen ausgesetzt werden, die ihre Disposition zur Kontrolle ihrer Gefühle trainieren, sichtbar machen und zur Realität werden lassen. Das ist der Abhärtungseffekt, den wir erzielen, indem wir uns Stressoren aussetzen und unser Fähigkeitsspektrum stressresilient machen. Natürlich müssen dafür weitere Fähigkeiten ausgebildet werden; der Ausbildungsleiter selbst muss beispielsweise lernen, die Emotionen der Gruppe zu beeinflussen, also unter anderem die Einheit emotional wieder aufzubauen, wenn sie nach dem Verlust eines Kameraden niedergeschlagen ist.

Defizite der vervollkommnenden und korrektiven Dimension. Kann es zu viel des Guten geben? Kann eine Tugend zu perfekt und zu sehr unter Kontrolle sein? Ein Übermaß an Exzellenz gibt es bei Tugenden nicht. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Manchmal verwechseln wir Exzellenz mit starrem Durchhalten, einem engstirnigen Verständnis von Integrität und kleingeistigem Wachstum nach einer Stresssituation – allesamt keine überzeugenden Beispiele tugendhaften Verhaltens.

3. Tugend ist zweckgerichtet (vernunftbasiert, teleologisch)

Dimension. Wir assoziieren Tugenden mit Vernunft (Ratio), Zweck und Zielorientierung. In der zweckhaften Dimension findet unser rationales Wesen implizit oder explizit seinen Ausdruck, und zwar einschließlich der Finalität, der Bestimmung und Richtung der jeweiligen Tugenden. Zunächst spüren oder erfassen wir intuitiv den Sinn des Lebens und die Bedeutung des Todes. Damit partizipieren wir implizit an den Gründen, die den Tugenden zugrunde liegen. Zweitens leiten wir ihren jeweiligen Zweck aus dem rationalen Diskurs und dem gesellschaftlichen Narrativ ab. Daher begründen und argumentieren wir, wie und warum sich der gewünschte Zweck erreichen lässt.

Die Zweckorientierung der Tugend verweist auf das in der spezifischen Praxis angestrebte Ziel. Tugenden sind insofern teleologisch, als sie dem Wesen nach einen Zweck haben, eine finale causa, die uns zum Handeln treibt. Wir reflektieren durch tugendhaftes Handeln, denn die Vernunft lenkt uns auch bei performativem wie gewohnheitsmäßigem Handeln. Häufig kommunizieren wir das Wesen und den Kontext der Vernunft, indem wir von bedeutenden Ereignissen erzählen, die sich um Gesundheit und Heilung, Leben und Sterben sowie den Mut drehen, sich den Risiken des Lebens zu stellen.

Folgen für Resilienz und psychische Gesundheit. Weil sich die sozialen, politischen, militärischen und wirtschaftlichen Bedingungen ändern, ändern sich auch die Ausbildungsbedarfe für tugendhaft resiliente Streitkräfte und eine stabile psychische Gesundheitsfürsorge, aber auch für das Seelsorgepersonal, die Poliziei und Unternehmer. Als entscheidende Akteure des Wandels und der Veränderung müssen sie wohlüberlegt, begründet und zweckorientiert handeln.[13] Diese Notwendigkeit ergibt sich heute vor allem angesichts der zahlreichen Konflikte und instabilen Situationen auf allen Kontinenten, aufgrund derer wir neue Herausforderungen bewältigen, mögliche Bedrohungen unserer Integrität vorhersehen und Stress, Traumata und Gefahr produktiv verarbeiten müssen.

Defizite der zweckgerichteten Dimension. Möglicherweise unterschätzen wir die Bedeutung unserer eigenen starken Tendenz zum Selbsterhalt, zu Güte, Wahrheit, Beziehung und Schönheit. So kann etwa der Wert einer Beziehung (zwischen Mutter und Tochter oder die Kameradschaft zwischen Soldaten) Menschen dazu bringen, sich zum Schutz anderer bewusst in Gefahr zu begeben. Wir können übersehen, dass zweckdienliches Handeln beziehungsweise die Bereitschaft zu handeln ein Risiko bedeutet. Denn vielleicht lassen wir unser Leben oder setzen das Leben einer geliebten Person aufs Spiel. Sich für das Gut der Familie oder die Verteidigung unseres Landes zu engagieren heißt, sich in den Dienst einer Sache zu stellen. Tugendhaft handelt also zum Beispiel auch, wer die kranke Mutter trotz Ansteckungsgefahr pflegt oder Militärdienst leistet.

4. Tugend ist ethisch (gründet sich auf moralische Normen)

Dimension. Tugend ist ethisch. Die ethische Basis der Tugend bilden das moralische Naturrecht, rationale moralische Normen, berufsethische Verhaltensregeln sowie die Grundsätze eines guten und erfüllten Lebens. Das moralisch Gute bezieht sich individuell auf jeden von uns und unsere Verantwortung, wurzelt jedoch objektiv auch im Gemeinwohl. Diese Tugendnormen konstituieren in ihrer Gesamtheit die Standards unseres Handelns und seine Begründung. Wir bezeichnen eine solche Tugendethik auch als praktische Weisheit (oder prudentiellen Personalismus).[14] Für Aristoteles ist das ethische Konzept der Tugend „eine Disposition zu Entscheidungen (...), die in einer Mitte in Bezug auf uns liegt und die durch eine Überlegung bestimmt wird, so wie sie auch der Kluge bestimmen würde.”[15]

Implikationen für Resilienz und psychische Gesundheit. Wir gehen davon aus, dass die Tugendethik die ethische Dimension geltender Regeln, Grundsätze, Pflichten und Konsequenzen zusammenführen kann, ohne die moralische Urteilsfindung auf regelbasierte, pflichtbasierte oder konsequentialistische Ansätze zu reduzieren. Innerhalb eines synthetischen Ansatzes, der auch Spiritualität mit einbezieht (spirituelle Praktiken, Grundsätze und Gebote) erkennen wir die wichtige Rolle berufsspezifischer Kodizes an, beispielsweise militärische Codes of Conduct und Verhaltensnormen, Ethikkodizes im Bereich der psychischen Gesundheitsfürsorge und der Medizin, internationale Abkommen der Vereinten Nationen (Menschenrechtskonventionen) sowie der Ethik- und Verhaltenskodex der WHO.

Defizite der ethischen Dimension. Die ethische Natur der Tugenden zeigt sich in der Art und Weise, in der sich ein vernunftbegabter Mensch als ethisches Vorbild mit Theorie und Praxis auseinandersetzt. Dabei ist die Tugend der praktischen Weisheit eine Frage der praktizierten Vernunft, die praktisch angewandte klinische, philosophische und spirituelle Überlegungen betrifft.

Damit psychische Gesundheitsversorgung und militärische Praxis effizient sein können, muss das medizinische und militärische Personal (1) über ein umfassendes Verständnis moralischen Handelns und der damit zusammenhängenden Kodizes, Grundsätze und Pflichten verfügen, (2) die Tugenden auf der Ebene der praktischen Weisheit und des Bewusstseins verinnerlicht haben sowie (3) den Unterschied zwischen moralischer Verletzung, dem ethisch Bösen und spiritueller Sünde verstehen. Moralische Verletzung ist der Zustand psychischen und moralischen Leidens aufgrund einer wahrgenommenen Moralverletzung, und zwar mit oder ohne Beteiligung des Betroffenen selbst, also auch durch reine Beobachtung einer unmoralischen Handlung. Die ethische Praxis umfasst die Absichten des Handelnden und der Gruppe, ein Verständnis moralischen Handelns sowie die spezifischen Umstände der Handlung und des Handelnen.[16]

5. Tugend wird beeinflusst von der Einzigartigkeit des Menschen, seiner angeborenen Gleichheit und Würde, von biologischem Geschlecht und Komplementarität

Dimension. Tugenden sind genauso einzigartig wie der Mensch. Natürlich sind alle Menschen gleich in ihrer Würde, die die gemeinsame Grundlage für das Verständnis des menschlichen Wesens, der Menschenrechte und der Bandbreite der Tugenden bildet. Diese Gleichheit bezieht sich auf beide Geschlechter, ebenso wie die Unterschiede in den Tugenden, die sich aus ihrer Komplementarität bezüglich der Reproduktionsfähigkeit, des genetischen Ausdrucks (DNA und RNA) und tendenziell vorhandener Persönlichkeitsmerkmale. Die Tugenden einer Person können Eigenschaften aufweisen, die von den komplementären Neigungen der Geschlechter gekennzeichnet sind. Und selbst da, wo sich die Geschlechter unterscheiden, können die Tugenden einer Person Charakteristika aufweisen, die von komplementären Neigungen geprägt sind. Vitz[17] erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass Frauen tendenziell für andere da sind, während Männer bevorzugt für andere handeln. Frauen suchen eher emotionale Geborgenheit und Nähe, Männer eher Schutz und körperliche Lust. Frauen kümmern sich tendenziell um andere, Männer streben nach Gerechtigkeit. Es ist möglich, jede Person individuell zu betrachten, ohne die in Studien erhobenen Daten und Trends zu übersehen, die zwar nicht für alle, aber für viele gelten (Glockenkurvenphänomen) – etwa der erkennbare Geschlechterunterschied bei Alkoholkonsum bzw. -missbrauch.[18] Eine einzelne Frau, ein einzelner Mann steht für keine Statistik und keinen Trend, doch Vergleich können helfen, die vor uns stehende, konkrete Person wahrzunehmen.

Folgen für Resilienz und psychische Gesundheit. Die Tugendethik beeinflusst die Neigungen jeder individuell verschiedenen Person. Doch die Resilienz einer Person oder einer Gruppe muss in schwierigen Lagen – beispielsweise bei der Durchführung von Therapien in der psychischen Gesundheitsversorgung oder dem Training der Gefechtsbereitschaft des Soldaten bzw. militärischen Führers – auf gemeinsamen Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Bewältigung aufbauen. Wie sich Tugenden etwa im Bereich der psychischen Gesundheit oder des Militärdiensts manifestieren, hängt sowohl von der individuellen Einzigartigkeit als auch von gemeinsamen Stärken ab.

Defizite der Dimension von Gleichheit und Komplementarität. Beim Thema Gleichheit, Unterschiede und Komplementarität der Geschlechter kommt es häufig zu Missverständnissen. Es wird unter anderem behauptet, die Tugend des Mutes verdeutliche sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Während sich Mut bei Frauen tendenziell über empathische Gefühlsäußerungen manifestiert, ergreifen Männer eher die Initiative.[19] Natürlich bildet sich die Fähigkeit zu tugendhaftem Verhalten durch gerechtes und fürsorgliches Handeln auf der Grundlage der persönlichen Einzigartigkeit und Integrität heraus. Gleichzeitig entwickeln sich dadurch je nach Geschlecht weitere Bewältigungskompetenzen, eine einzigartige Integrität und das Potenzial für posttraumatisches Wachstum.

6. Tugend ist verbindend, relational und entwicklungsorientiert

Dimension. Damit sich die spezifischen Tugenden einer Person entwickeln können, müssen sie mit Tugenden generell verknüpft und in soziale und psychologische Kontexte eingebunden sein. Es ist wichtig zu erkennen, dass sich Tugenden im Laufe der Zeit entwickeln und entsprechende Praxis brauchen. Aristoteles und Thomas von Aquin weisen bereits darauf hin, dass die Tugenden tendenziell miteinander verbunden sind, und zwar durch die Tugenden der praktischen Weisheit und Liebe.[20] Wir nutzen die praktische Weisheit, um uns selbst zu formen, auch unsere Wünsche und inneren Antriebe, die an der Vernunft teilhaben. Mithilfe unseres Verstands erkennen wir den Zweck der anderen Tugenden und verleihen ihnen vernünftige Kohärenz.

Die christlichen Tradition erkennen außerdem an, wie Nächstenliebe und Freundschaft die Bereitschaft und die Motivation zu selbstlosem Engagement fördern, die die anderen Tugenden zur persönlichen Einheit führt. Wir brauchen die Verkörperung verschiedener Tugenden, damit diese ihren jeweiligen Zweck erfüllen können. Durch Wissen und Liebe, durch die angewandte praktische Vernunft und Hingabe aber finden wir zu zwischenmenschlichen Beziehungen und in die Verbindung mit anderen Menschen. Kann ein Soldat mutig sein, wenn er nicht zugleich seinen Wunsch nach bewusstseinsverändernden Substanzen oder Annehmlichkeiten kontrolliert, sondern sich von Planung, Ausbildung und Einsatz ablenken lässt, denen er doch nach bestem strategischem Wissen und Gewissen nachzukommen hat?

Kann ein Soldat mutig sein, wenn er nicht zugleich seinen Wunsch nach bewusstseinsverändernden Substanzen oder Annehmlichkeiten kontrolliert?

Wir verhalten uns sozial, indem wir tugendhaft handeln, da Tugenden die zwischenmenschliche Dimension der menschlichen Natur fördern. Eine solchen Entwicklung von Tugenden basiert dabei auf den Fähigkeiten, die den (moralischen) Kardinaltugenden sowie den intellektuellen und theologischen (spirituellen) Tugenden zugrundeliegen. Manche Tugenden prägen Emotionen (die moralischen Tugenden der Selbstkontrolle und des Mutes). Andere Tugenden verändern den Willen (Gerechtigkeit und hingebungsvolle Liebe) oder formen den Intellekt (die intellektuellen Tugenden der Weisheit, des Wissens und Verstehens).

Folgen für Resilienz und psychische Gesundheit. Durch die Teilhabe an praktischer Vernunft und mitfühlender Liebe verknüpfen wir Resilienzquellen miteinander. So basiert beispielsweise die erfolgreiche Interaktion von militärischen Führern und Soldaten oder von Supervisoren und Beschäftigten der in psychischen Gesundheitsfürsorge auf sozialen Kompetenzen. Die notwendige prosoziale, wertbasierte Führung erfordert wiederum ein angemessenes Niveau in Ausbildung und Schulung, damit der Einzelne und die Gruppe Moral und Kompetenz entwickeln können. Solche Tugenden entstehen durch Erfahrungen, selbst durch negative Erfahrungen. Posttraumatischer Stress und moralische Verletzung können, wenn sie erfolgreich überwunden werden, der gesamten Gruppe Resilienz verleihen und gegenseitiges Vertrauen begründen.

Herausforderungen der verbindenden, relationalen und entwicklungsorientierten Dimension. Wer sich nicht bewusst um die zusammenhängende Entwicklung von Tugenden bemüht, kann deren relationale Dimension oft nicht nachvollziehen. Dies geschieht insbesondere, wenn Tugenden als bindungslos, isoliert und statisch verstanden werden. Überdies erfordert die entwicklungsbezogene und relationale Dimension, dass wir die Notwendigkeit sowohl von Unabhängigkeit als auch von Abhängigkeit im Ausdruck der Tugenden betonen.

 7. Tugend wird über über Vorbilder vermittelt (Lernen anhand von Beispielen und Mentoring)

Dimension. Wie bereits erwähnt bilden wir Tugenden durch eine Kombination von Bewunderung und Nachahmung, Vernunft und Prinzipien, Emotion und Aktion, durch Haltungen und Charakter. Der wichtigste Aspekt bei der Aneignung von Tugend liegt in der Bewunderung und Nachahmung von Vorbildern, die uns zu eigenem tugendhaften Handeln inspirieren. Vorbilder wecken den Wunsch in uns, es ihnen gleichzutun. Wir erwerben Tugendhaltungen (habitus) durch die Begegnung mit Menschen, die Tugenden kreativ und authentisch vorleben. Weil wir diese Vorbilder emotional bewundern, motivieren sie uns zum Erwerb dieser Eigenschaften. Hinzu kommt das Verständnis ihres „moralischen Gehalts“ und ihrer impliziten und expliziten Grundsätze und Ziele. Beispielsweise bewundern oder verehren wir Helden, Heilige, weise Männer und Frauen, etwa solche, die in der psychischen Gesundheitsfürsorge oder als Soldaten ihr Leben für das Gemeinwohl, für die Nation, ihre Familien oder sogar Fremde riskieren.

Der wichtigste Aspekt bei der Aneignung von Tugend liegt in der Bewunderung und Nachahmung von Vorbildern, die uns zu eigenem tugendhaften Handeln inspirieren

Diese Vorbilder können andere inspirieren, den Einsatz des eigenen Lebens in bestimmten Handlungen zumindest in Erwägung zu ziehen. Moralische Vorbilder der Wahrheit liefern die kognitive Quelle für Bewunderung, während Vorbilder für das moralisch Gute tatsächlich Anreiz zur Bewunderung geben. Linda Zagzebski weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Tugend am besten durch Theorie und Praxis, durch Kurse und Alltagserzählungen gelehrt und gelernt werden kann, doch dass sie vor allem über die Nachahmung von Vorbildern vermittelt wird. Sie bekräftigt damit den semantisch externalistischen oder moralischen Realismus, in dem die Nachahmung von Vorbildern die Basis moralischen Lernens darstellt.[21]

Folgen für Resilienz und psychische Gesundheit. Dass individuelle Vorbilder radikal unterschiedlich sein können, macht einen Teil der Schwierigkeiten bei der Vermittlung von Tugenden aus. Berufung, Beziehungen, Neigungen, Verhaltensweisen und persönliche Geschichten sind im unterschiedlichen Maß geeignet, Resilienz und psychische Gesundheit zu fördern. Zwar können wir Tugend in ihrer performativen, perfektionierenden und ethischen Dimension nicht mit einer mathematischen Gleichung gleichsetzen, bei der es ein einfaches Richtig oder Falsch gibt – doch wir verfügen über die kognitive Fähigkeit, mit diesem Problem umzugehen. Vorbilder können uns den Weg zur Integrität weisen; selbst verlorene Integrität kann im Laufe der Zeit zurückgewonnen werden und in moralische Reifung münden.

Herausforderungen beim Lernen anhand von Vorbildern. Obwohl der Erwerb von Tugenden sowohl durch den bildenden Effekt realer Lebenserfahrungen als auch narrativer Darstellungen von Vorbildern stattfinden kann, gibt es realistische und nichtrealistische Ansätze. Erstere bejahen, dass es eine Wahrheit außerhalb des menschlichen Geistes gibt, während Letztere die Existenz jedweder objektiven Wahrheit verneinen, für die es sich zu kämpfen lohnt. Nähert man sich dem Erwerb moralischer Tugenden mit einem nichtrealistischen, relativistischen Ansatz, stellt dies die Möglichkeit individueller oder gruppenbezogener Charakterbildung infrage. Folgt man der Auffassung, dass der Ursprung des moralischen Charakters von Sprache nicht außerhalb des menschlichen Geistes existiert, ergeben sich Herausforderungen für den moralischen Charakter des Tugenderwerbs durch Vorbilder. Ein unverbundenes soziolinguistisches Netzwerk ist nicht realistisch, sondern eher relativistisch. Es verbindet nicht soziale und sprachliche Bezüge, moralische Motivation und den moralischen Gegenstand der Tugenden und schwächt damit die pädagogische Wirkung von Vorbildern. Ein weiteres Problem entsteht, wenn Menschen jemanden als Helden oder Vorbild bewundern, ihn nachahmen und sich an ihn binden, der sich auf krasse Weise unmoralisch verhält. Andererseits müssen wir jedem Helden ein gewisses Maß an Ambiguität zugestehen. Daran wiederum können wir unsere eigene moralische Resilienz herausbilden, wenn wir unsere Integrität angesichts des Fehlverhaltens bewahren.

13. Tugend ist offen für die spirituelle Dimension und für Gott

Dimension. Der traditionelle tugendbasierte Ansatz korreliert die Praxis der Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe (caritas und Freundschaft) mit den positiven Effekten der geistigen und transzendentalen Gesundheit und Entwicklung durch Transformation der anderen Tugenden, die damit zu durch die Gnade verliehenen (eingegossenen) Tugenden werden. Zu den Praktiken, die sich der Spiritualität und Gott öffnen, zählen Glaubensrituale, gemeinsame Gebete, persönliche Gebete zu Gott, das Ritual des Vergebens sowie die Praxis der Meditation und Kontemplation. Aus der Perspektive unseres Metamodells ermöglicht das Konstrukt der Tugend die Integration natürlicher Grundlagen psychischer Gesundheit und deren gnadenhafter bzw. übernatürlicher Ausweitung durch Heiligkeit. Die menschliche Fähigkeit zur Tugend (als materielle causa) vervollständigt sich in natürlichen und übernatürlichen Dimensionen (formelle, wirksame und finale Gründe). Dieser alte christliche Grundsatz besagt, dass Gnade die Natur dem Wesen der Natur nach wandelt.[22] Dieser Ansatz der Tugend öffnet sich dem Spirituellen/Transzendenten – etwa wenn spirituelle Praktiken einen Menschen in seiner Überzeugung vom letztendlichen Sinn des Lebens bestärken (wie im Fall des Glaubens), wenn sie Kraft geben, Sinn und Unterstützung in schwieriger Lage zu finden (Hoffnung) oder ihre Einheit und gegenseitige Selbsthingabe in Glaubensgemeinschaften (Liebe) fördern.

Folgen für Resilienz und psychische Gesundheit. Eine zunehmende Anzahl qualitativer Studien deutet darauf hin, dass durch religiöse Praxis und Spiritualität Resilienz und positive Entwicklung in schwierigen Zeiten ermöglicht wird.[23] Andere Studien belegten, dass einige tägliche spirituelle Praktiken als Schutzfaktoren für spirituelle Resilienz bei moralischen Verletzungen wirken, den Umgang mit Herausforderungen verbessern und die Bereitschaft zur Vergebung erhöhen. Forschende weisen auf die Erfahrungen von Militärangehörigen hin, die auf religiöse und spirituelle Ressourcen zurückgegriffen haben, um die Folgen moralischer Verletzung zu überwinden. Außerdem zeigten Studien mit Soldaten und Veteranen, dass ihre Resilienz in der Spiritualität (Schutzfaktor), im Sinn (Sinn finden und Sinn konstruieren) und in der Identität (auch als Angehöriger einer Glaubensgemeinschaft) begründet liegt.[24]

Die Herausforderung der Offenheit für Transzendenz. Wo Gott als hasserfüllt oder strafend empfunden wird, kommt es auch zu negativen Folgen und der Verzerrung von Religion und Spiritualität bei moralischen Verletzungen. Weitere negative Zusammenhänge ergeben sich, wenn Menschen ihre natürliche, positive Hinwendung zum Guten, zum Leben, zur Wahrheit, zur Beziehung zu anderen und zur Schönheit verbergen oder entstellen. Auch die negative Wirkung eines Lebens nach rigiden religiösen Grundsätzen, von Selbstverdammung oder enttäuschtem Glauben sind bekannt.[25]

Die Implikationen eines mehrdimensionalen tugend- und resilienzbasierten Verständnisses von psychischer Gesundheit

Folgen aus der vorliegenden Studie

Zu den radikalsten Erkenntnissen dieses Textes gehört, dass die Analyse der philosophischen Anthropologie, des menschlichen Charakters und der Ethik ohne ein mehrdimensionales Verständnis des Wesens von Tugend unzureichend ist. Ein solcher komplexer Ansatz kann der Tugendethik größere Überzeugungskraft verleihen.

Dimensionen, die in diesem Artikel nicht diskutiert werden (Komplette Liste siehe Tabelle I)

(8) Tugend bedeutet Mäßigung. Durch Tugend und die Vermeidung extremer Exzesse und Defizite streben wir Exzellenz an. Beispielsweise versuchen wir, unsere Angst zu regulieren, um vernünftige Ziele mithilfe mutigen Einsatzes besser zu erreichen. (9) Tugend ist präventiv. Zum Schutz des Einzelnen und von Gemeinschaften entwickeln wir Charakterstärke und verfeinern unsere Emotionen. Die Tugend der Hoffnung etwa lässt uns negative Gedanken und Gefühle angesichts schwer realisierbarer Aufgaben überwinden. (10) Tugend ist nichtreduktionistisch. Wir leben unsere Tugenden in Kontexten, die sich dem Nachweis der besten Praktiken nicht verweigern. So legen wir beispielsweise Wert auf evidenz- und wertbasierte, nach Wahrheit strebende Quellen. (11) Tugend findet Anwendung in der Praxis. Wir wenden sie sowohl in der Theorie als auch durch entsprechende Handlungsweisen an. Wir streben nach der Entwicklung unserer beruflichen Fertigkeiten und nach langfristiger Entfaltung durch die kontextbezogenen Ausübung jener Tugenden, die den Besonderheiten militärischen Handelns zugrunde liegen. (12) Tugend ist Berufung. Wir finden Entfaltung durch Tugenden, die sich auf Berufungen beziehen und mit grundlegenden Verpflichtungen verbunden sind. In der positiven Antwort auf den Ruf, eine Familie zu gründen und das eigene Land zu verteidigen, sehen wir einen Sinn.

Möglichkeiten eines vollständigeren Tugendverständnisses in Streitkräften, der psychischen Gesundheitsfürsorge und bei anderen Einsatzkräften

Resilienz ist ein komplexes Phänomen, das auf der Beobachtung und Erfahrung von häufigen und weniger häufigen Begegnungen mit Gefahren und Schwierigkeiten bei Fachkräften für psychische Gesundheit, Soldaten und Ersthelfern beruht. Bei der Ausbildung von militärischen Führern und Soldaten empfiehlt es sich daher, ein robustes Verständnis von Resilienz in den Blick zu nehmen. Dies beinhaltet die Bewältigung gefährlicher Gefechtssituationen, die Wahrung der individuellen und gemeinschaftlichen Integrität auch nach Stresssituationen und die Möglichkeit, aus traumatischen Erfahrungen gestärkt hervorzugehen.

Führungskräfte müssen es sich zur Gewohnheit machen, nach möglichen positiven Ergebnissen durch negative Erfahrungen zu fragen

Führungskräfte müssen es sich zur Gewohnheit machen, nach möglichen positiven Ergebnissen durch negative Erfahrungen zu fragen. Eine solche Haltung und Auffassung macht die positiven Aspekte bewusst, die auch schwierigen Situationen oder negativen Erlebnissen innewohnen. Dieser Blick verstetigt eine Haltung, die eher den grundlegenden Wunsch nach Leben, Güte, Wahrheit, Beziehung und Schönheit erkennt.

Auswirkungen in einem mehrdimensionalen Tugendansatz

Ein tugendbasiertes Ethikverständnis kann die professionelle und auf Glauben beruhende Ethik zusammenbringen. Hier wird betont, dass regel-, pflicht- und folgenbasierte (konsequentialistische) Auffassungen durch spezifische Überlegungen der professionellen Ethik (beispielsweise durch die Berücksichtigung eines militärischen Ethikkodexes) und der glaubensbasierten (auf Spiritualität und Überlieferungen beruhenden) Ethik ergänzt werden müssen. Zum Beispiel müssen solche Ansätze auch das moralische Gewissen der Streitkräfte respektieren und ein zwingendes Argument für die Ethik liefern. Eine vertiefte Diskussion dieses integrierten, berufs- und glaubensbasierten Ansatzes kann an dieser Stelle jedoch nicht erfolgen.

Schlussfolgernd können wir festhalten, dass sich die Debatten zwischen handlungs- und akteursorientierter Ethik durch die Tugendethik auflösen lassen, in der die Handlung und die Bereitschaft zu handeln, der Einzelne und die Gemeinschaft, Naturrecht, Offenbarung und Gnade ihren jeweils angemessenen Platz finden. Eine neue Vision der Tugendtheorie auf der Grundlage der praktischen Weisheit, die offen für Spiritualität und praktizierten Glauben ist, wird sich auch daran messen lassen müssen, ob sie nicht nur den Wunsch nach menschlicher Entfaltung und die Entwicklung von Charakter und Tugend erklären kann, sondern auch die dauerhafte Existenz von Schwächen, groben Fehlern sowie die Spaltung des Selbst und ganzer Gemeinschaften. Ein solcher Metamodell-Ansatz zur Tugend muss die Tauglichkeit eines mehrdimensionalen Tugendverständnisses feststellen, das klassische und moderne ethische Theorien mit Positionen aus den zeitgenössischen Humanwissenschaften verbindet, jede auf ihrer eigenen Kompetenz- und Normativitätsebene.

 


[1] In ihrer 2020 bei Sterling, VA, erschienenen Publikation A Catholic Christian Meta-Model of the Person: Integration with Psychology and Mental Health Practice stellen Vitz, Paul C., Nordling, William J.and Titus, Craig Steven (Hrsg.) 13 Dimensionen der Tugend vor. Um den Blick für das Spezifische in einem größeren zu präsentierenden Kontext nicht zu verlieren, werden wir uns im vorliegenden Text auf die acht wichtigsten von ihnen beschränken.

[2] Jinkerson, Jeremy D. (2016): Defining and Assessing Moral Injury: A Syndrome Perspective. In: Traumatology, 22(2), S. 122–130. https://doi.org/10.1037/trm0000069 (Stand aller Internetbelege: 1. Juni 2023).

[3] Peterson, Christopher and Seligman, Martin E. P. (2004): Character Strengths and Virtues: A Handbook and Classification. Oxford et al..

[4] de Vries, Peer (2020): Virtue Ethics in the Military: An Attempt at Completeness. In: Journal of Military Ethics 19, no. 3 (2020), S. 170–185. Ein weiterer Katalog von Tugenden findet sich bei Erikson (1964): Care, Kompetenz, Treue, Hoffnung, Liebe, Zweckorientierung, Wille und Weisheit. Militärische Kataloge sind tendenziell traditioneller. Sie umfassen die vier Kardinaltugenden: praktische Vernunft, Gerechtigkeit, Mäßigung und Mut, sowie weitere, darunter Ehre, Disziplin, Treue (Loyalität) und neue, aus dem Wandel der Aufgaben des Militärs abgeleitete Tugenden wie Schutz der Schwachen und Umgang mit Medienberichten. Vgl. auch: Olsthoorn, Peter (2013): Virtue Ethics in the Military. In:van Hooft, Stan and Saunders, Nicole (Hg.): The Handbook of Virtue Ethics. Abingdon/New York, S. 365–374.

[5] White, N. H. and Cook, C. C. (Hg.) (2020): Biblical and Theological Visions of Resilience: Pastoral and Clinical Insights. Routledge.

[6] Titus, C. S. et al. (2020): Fulfilled in Virtue. In: Vitz, Paul C. et al. (Hg.), vgl. Fußnote 1.

[7] MacIntyre, Alasdair (1999): Dependent Rational Animals: Why Humans Need the Virtues. Chicago.

[8] MacIntyre, Alasdair (1999), vgl. Fußnote 7.

[9] Aristoteles (2020): Nikomachische Ethik. Übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Dorothea Frede Berlin/Boston. II, 6, 1106b25–1107a2.

[10] Doidge, N. (2007): The Brain That Changes Itself: Stories of Personal Triumph from the Frontiers of Brain Science. New York.

[11] Siegel, D. J., & Bryson, T. P. (2011): The Whole-Brain Child.London. Übersetzung aus dem Englischen.

[12] De Haan, Daniel D. (2012): Thomistic Hylomorphism, Self-Determinism, Self-Determination, Neuroplasticity, and Grace: The Case of Addiction. In: Proceedings of the ACPA 85, S. 99–120.

[13] Cornum, R., Matthews, M. D. and Seligman, M. E. P. (2011): Comprehensive Soldier Fitness: Building Resilience in a Challenging Institutional Context. In: American Psychologist66(1), S. 4–9. doi.org/10.1037/a0021420.

[14] Ashley, Benedict M. (2013): Healing for Freedom: A Christian Perspective on Personhood and Psychotherapy. Washington, DC.

[15]Aristoteles (1941), vgl. Fußnote 9, 1106b36–1107a3.

[16] Johannes Paul II (1993): Der Glanz der Wahrheit[Enzyklika: Veritatis splendor]. Vatikanstadt.

[17] Vitz, Paul C. (2022): The Complementarity of Women and Men. Washington, DC.

[18] Nolen-Hoeksema, S. (2004): Gender Differences in Risk Factors and Consequences for Alcohol Use and Problems. In:Clinical Psychology Review, 24(8), S. 981–1010. doi:10.1016/j.cpr.2004.08.003.

[19] Gross, Christopher, et al. (2020): Man and Woman. In: Vitz, Paul C. et al. (Hrsg.) (2020), vgl. Fußnote 1, p. 187.

[20] Aristoteles (2020), vgl. Fußnote 9,  VI, 13. Thomas von Aquin, Summa Theologica, I–II, 65.

[21] Zagzebski, Linda (2017): Exemplarist Moral Theory. New York.

[22] Thomas von Aquin, Summa Theologica, I, 62.5.

[23] Currier, J. M. et al. (2016): Spirituality, Forgiveness, and Quality of Life: Testing a Mediational Model with Military Veterans with PTSD. In: The International Journal for the Psychology of Religion, 26(2), S. 167–179.

[24] Brémault-Phillips, Suzette et al. (2019): Spirituality and moral injury among military personnel: a mini-review. In: Front. Psychiatry 10, S. 5–7. www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpsyt.2019.00276/full.

[25] Brémault-Phillips, Suzette et al. (2019), vgl. Fußnote 24.

 

Zusammenfassung

Craig Steven Titus

Dr. Craig Steven Titus ist Professor für Integration an der Divine Mercy University (DMU, Virginia). Er promovierte in Theologie (Universität Fribourg, Schweiz) und hat einen M.A. in Philosophie. Prof. Titus hat über sechzig Fachartikel, Buchkapitel und Bücher veröffentlicht, darunter „Virtue and Resilience: Aquinas’s Christian Approach to Virtue Applied to Resilience“ (in Nathan H. White and Christopher C. Cook (Hg.): „Biblical and Theological Visions of Resilience“, Routledge, 2022). Er ist Mitherausgeber und Autor von „A Catholic Christian Meta-Model of the Person: Integration with Psychology and Mental Health Practice“ (DMU Press, 2020).


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