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Resilienz aus der Perspektive christlicher Theologien – ein Essay zur aktuellen Forschung „Resilience and Humanities“

Resilienz als Thema christlicher Glaubenslehre

Wer nach „Resilienz“ fragt, fragt im landläufigen Verständnis meist nach alltagstauglichen Sicherungsmechanismen und Bewältigungsstrategien im Krisenfall. Im Hintergrund steht häufig das – überaus verständliche – Bedürfnis, krisenhafte Erfahrungen möglichst stabil und im Innersten untangiert überstehen zu können. Was genau „die Krise“ ist, ist dabei variabel, aber in jedem Fall sprechen wir von einer situationsbezogenen Erfahrung, deren Ausgang offen ist. Man weiß zu Beginn und im Verlauf der Krise noch nicht, wie sie ausgehen wird. Eine Krise kann dabei individuell existenziell erfahren werden wie bei einer Trennung, beim Verlust des Arbeitsplatzes oder bei Todesfällen. Sie kann ebenso als Krise eines Kollektivs bzw. einer sozial verfassten Gruppe verstanden werden, wie zum Beispiel nach einer Hochwasserkatastrophe wie im Ahrtal 2022. Oder sie kann als systemische Krise erfahren werden wie etwa die inflationsbedingte ökonomische Krisenlage, umwelt- und klimabezogene Krisenszenarien oder die aktuell in Europa von vielen Menschen als ungewöhnlich empfundene Kriegssituation. Im Kontext der Militärseelsorge bzw. der Tätigkeit von Soldatinnen und Soldaten sind, beispielsweise bei Einsätzen an Kriegsschauplätzen, meist alle drei Krisendimensionen impliziert, auch wenn sie für die Einzelne und den Einzelnen von unterschiedlicher Relevanz sein können.

Im Rahmen unserer Forschungsgruppe „Resilience and Humanities“, die von 2019 bis 2022/23 als DFG-FOR 2686 „Resilienz in Religion und Spiritualität“ gefördert wurde, arbeiten wir in einem interdisziplinären und überkonfessionellen Team zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus Systematischer Theologie, Moraltheologie und Philosophie, Psychosomatik und Psychotherapie, Palliativmedizin, Praktischer Theologie und Spiritual Care. Seit 2014 vertreten wir die These, dass Resilienz der Krisensituation nicht einfach im Sinne eines „fit for fight“ entgegengestellt ist, sodass man völlig unabhängig von Krisenerfahrungen von vornherein resilient wäre, um dann im Krisenfall mit der eigenen Resilienz gegen die Krise in den Kampf ziehen zu können. Zwar gibt es Indizien dafür, dass Resilienz auch mit einer gewissen genetischen Disposition zu tun hat, aber da Krisen- und Resilienzverläufe ebenso abhängig sind von sozialen, ökonomischen und individuellen Ressourcen, lässt sich in keinem Fall vorhersagen, ob und wie sich Resilienz im Krisenfall entwickeln wird. In unserer Forschungsgruppe, in der wir viel von den Kolleginnen und Kollegen aus der psychologischen Resilienzforschung gelernt haben, sind wir daher skeptisch gegenüber der Annahme, es könnte so etwas wie „die“ resiliente Persönlichkeit geben.[1] Stattdessen gehen wir aus mehreren Gründen davon aus, dass Resilienz ein multifaktorieller Prozess und ein „Krisenphänomen par excellence“ ist. Fünf dieser Gründe seien genannt: Erstens, weil sich erst im Durchleben einer Krise zeigt, ob, und falls ja, wie ein Mensch resilient reagieren kann oder nicht. Zweitens, weil man für die Einsicht, im jeweiligen Krisenfall resilient reagieren zu können, mit einiger Wahrscheinlichkeit einen vielleicht bitter hohen Preis bezahlt hat.[2] Drittens, weil die Prozessualität offenlegt, dass sich häufig erst in und während einer Krise herausstellt, welche persönlichen Eigenschaften oder Fähigkeiten zu ihrer Bewältigung beitragen und wie sich diese im gesamten Krisenverlauf verändern können.[3] Viertens, weil die Prozessualität vor normativen Erwartungen an den Outcome bewahrt, zum Beispiel bezüglich der Vorstellungen, wie ein „gutes“ und „gelingendes“ Leben auszusehen habe. Fünftens, weil die Prozessualität Menschen, die sich als nicht resilient einschätzen, vor der entmutigenden Vorstellung schützt, sei seien von der Natur, vom Schicksal oder von Gott benachteiligt.

Der Ausgangspunkt für die These „Resilienz als Krisenphänomen“ lag dabei nicht in der interdisziplinären Resilienzforschung, sondern in der Systematischen Theologie, und noch genauer: in der Dogmatik. Das ist jenes Teilfach der Theologie, in dem es um die Kernthemen bzw. Kernsätze des christlichen Glaubens und christlicher Lebensgestaltung geht – ganz ähnlich wie sie in den biblischen Texten in Credo, Vaterunser und Dekalog (Zehn Gebote) zur Sprache gekommen sind. Von außen betrachtet geht es dabei um Gott, Christus und den Geist, um den Menschen zwischen Sünde und Rechtfertigung, um Versöhnung und Erlösung, um die Kirche mit ihren Sakramenten und um die sogenannten „Letzten Dinge“, also um all das, was nach dem Tod zu erhoffen sein könnte. Angesichts dieser Aufzählung haben viele Menschen den Eindruck, man müsste all diese Themen bzw. Sätze für wahr halten, um glauben zu können; sie also unterschreiben zu können, so wie man das Kleingedruckte in einem Versicherungsvertrag zu unterschreiben hat. Aber das ist in der evangelischen Glaubenslehre schon seit der Reformation nicht der Fall. Im Gegenteil, sehr viel mehr kommt es im evangelischen Glauben darauf an, mithilfe dieser Kernthemen des christlichen Glaubens das eigene Leben in der Beziehung zu Gott zu reflektieren und jeweils neu zu bestimmen. Statt auf das äußere Fürwahrhalten kommt es darauf an, inwiefern diese Kernthemen das eigene Leben immer wieder aufs Neue, das heißt über den gesamten Lebensprozess hin, bestimmen oder verändern – und damit ist die Brücke zum Resilienzthema geschlagen.

Die Heilszusage der Christologie basiert auf der Idee, dass sich erstaunlicherweise durch Leid und Tod hindurch neues Leben zeigen kann

Denn die Kernthemen der biblischen Tradition bzw. des christlichen Glaubens haben es an vielen Stellen damit zu tun, dass das Leben einerseits nicht nur eitel Sonnenschein ist oder uns mit beglückender Eindeutigkeit beschenkt und wir andererseits trotzdem Hoffnung und Halt in Gott finden können. So gilt zum Beispiel von der Schöpfung bis zu Hiob, dass zwar alles Leben aus Gott ist, dass Gott aber Licht und Finsternis, Tag und Nacht gleichermaßen geschaffen hat und das Leben in Freud und Leid in seiner Hand hält. Auch die Heilszusage der Christologie basiert auf der Idee, dass sich erstaunlicherweise durch Leid und Tod hindurch neues Leben zeigen kann. Und schließlich ist auch die Vorstellung des immer treuen Gottes selbst von Ex 3, 14 an (die Offenbarung des Gottesnamens JHWH, der sich etwa übersetzen lässt als „ich bin, der ich bin“ oder „ich bin, der ich sein werde“ oder „ich bin, als der ich mich erweisen werde“) durch eine prozessuale Uneindeutigkeit und prinzipielle Entzogenheit bestimmt: Niemand kann Gott von Angesicht zu Angesicht sehen, einzig von Mose und sehr viel später von Jesus wird erzählt, dass sie Gott näher gekommen sind als andere Menschen. So entzogen und ungreifbar wie Gott selbst, so ist auch sein Wille, weshalb sogar Jesus selbst am Ende nichts anderes bleibt als zu sagen: „Dein Wille geschehe“ (vgl. Mt 26, 36-46). Schon an diesen wenigen Beispielen wird deutlich, dass der christliche Glaube in all seiner Zuversicht zutiefst von einer Ambivalenz und Unsicherheit durchzogen ist, die der Offenheit von Krisenerfahrungen entspricht. Es ist daher kein Wunder, dass Zweifel und Anfechtung so sehr von jeher zum Glauben gehören, dass Melanchthon Mk 9, 24 zu einem der wichtigsten Sätze der evangelischen Glaubenslehre gemacht hat: „Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben!“[4]

Resilienz als Krisenphänomen

In der Forschungsgruppe „Resilienz in Religion und Spiritualität“ war es unser gemeinsames Ziel, eine interdisziplinär valide, religions- und spiritualitätssensible Resilienztheorie zu entwickeln, und zwar unter Einbeziehung individueller und kollektiver Resilienzfaktoren, -mechanismen und -dynamiken. Für die klinischen und wissenschaftspraktischen Anforderungen der medizinischen bzw. lebenswissenschaftlichen Fächer war der Resilienzbegriff ein von vornherein positiv besetzter Diagnosebegriff. Für die geistes- und sozialwissenschaftlich orientierten Fächer hatte der Resilienzbegriff hingegen kritische Implikationen, weil er allzu leicht als eine Art vorbeugende Trainingsmaßnahme missverstanden werden kann: „Fit for resilience“, am besten in regelmäßigen Trainingseinheiten pro Jahr. Spätestens mit der politischen Kritik von Jan Slaby ist bekannt, dass solche Resilienztrainings sehr viel eher dazu angetan sind, Mechanismen der Selbstausbeutung auf Dauer zu stellen, als strukturelle und systemische Ausbeutungsmechanismen bewusst zu machen und den Impuls zu Veränderungen zu geben.[5]

So wichtig dieser Aspekt bereits für alle politisch-ökonomischen Zusammenhänge ist, so lebensentscheidend dürfte er für militärische Zusammenhänge sein: Würde Resilienz simplifizierend mit „fit for fight“ verwechselt, dann wäre sie geeignet, ausgerechnet jene lebensschützenden und lebenserhaltenden Wahrnehmungen auszuschalten, die zum Beispiel mit Ohnmacht, Angst und Sorge verbunden sind. Um solchen Wahrnehmungen in vollem Umfang gerecht werden zu können, braucht es nun aber beides – die geistes- und sozialwissenschaftliche bzw. politikwissenschaftliche Begriffsvorsicht ebenso wie die therapeutische Diagnostik: Die methodische Herausforderung unseres Projektes liegt daher in dem Versuch, das reichhaltige begriffskritische Potenzial der Geisteswissenschaften an der Schnittstelle zu klinischer Psychologie, Psychotherapie und Palliativmedizin mit neuen Ansätzen in Hospizarbeit und Spiritual Care in Verbindung zu bringen. Knapp gesagt geht es uns um eine allgemeine religions- und spiritualitätssensible Resilienztheorie, mit der sich eine entsprechende Resilienzpraxis in Medizin und Therapie, Seelsorge und Spiritual Care fördern lässt. Der Gewinn dieser Forschungsperspektive zeigt sich überall dort, wo sich die Resilienzüberlegungen auf disruptive Lebenserfahrungen wie etwa in Trauerprozessen und Trauerbegleitung beziehen oder auf ein Themenfeld, in dem es von vornherein um einen professionellen Umgang mit strategischer Vorsicht, mit Ambivalenzen und Ambiguitäten und mit Destruktivität geht.

Wenn wir von Resilienz sprechen, unterscheiden wir daher drei Typen oder Stufen von Resilienz, ohne dass sich pro Stufe angeben ließe, für welche Art der Krise sie eindeutig zutreffen würde (denn was für den einen Menschen eine leichte Irritation ist, kann für den anderen existenzbedrohend sein): (a) eine Art „alltagstaugliche Resilienz“, in der es darum geht, mit kleineren oder mittelschweren Irritationen der eigenen Routine umgehen zu lernen. Selbst wenn es unangenehm sein kann, sich anpassen zu müssen, werden sich die Dinge meist doch „zurechtruckeln“. (b) In den etwas komplexeren Lebenskrisen mag man an einen Punkt kommen, an dem das Zurechtruckeln nicht mehr ausreicht, weshalb man professionelle Hilfe in Anspruch nehmen und vielleicht die ein oder andere grundsätzliche Neujustierung des bisherigen Lebens vornehmen muss. (c) In den für unser Projekt relevanten schweren individuellen und existenziellen Lebenskrisen hingegen steht die Sinnhaftigkeit des bisherigen Lebens als Ganzes so sehr in Frage, dass nur über einen langen und mühsamen Prozess eine Beruhigung des Krisenprozesses zu erwarten ist. Ist die Krisenerfahrung dieser dritten Stufe so schwer, dass es gar nicht mehr „nur“ um Irritationen von Resilienz geht, sondern um Traumata im medizinisch-diagnostischen Sinn, dann bedarf es ohnehin und von vornherein der medizinischen Fachexpertise. Im Ergebnis heißt das für unsere Forschung: Wir bearbeiten Resilienz als ein prozessuales Krisenphänomen, das sich je nach Kontext und Situativität unterschiedlich ausnehmen kann und das als Krisenphänomen von zahlreichen Ambivalenzen und Ambiguitäten geprägt ist.

Resilienz im Prozess von Destruktivität, Hoffnung und Ambivalenz

Resilienz ist in diesem Konzept eine Art Sammelbegriff für Fähigkeiten zur Selbsterhaltung und Selbsttransformation im Angesicht von Krisen, die bestimmte Vulnerabilitäten aktualisieren und problematisch machen.[6] Vor Augen stehen uns dabei Beispiele, in denen es (den seelsorgerlichen und therapeutischen Arbeitskontexten unserer Forschungsgruppe entsprechend) um individuelle und existenzielle Krisenerfahrungen geht, vor allem in der Klinikseelsorge, auf der Palliativstation, beim Trauergespräch, in der Telefonseelsorge oder in der Familienberatung. Für jede der drei Stufen, ganz besonders aber für die dritte Stufe, braucht es daher ein Resilienzmodell, das die Empfindung von Ambivalenz und Destruktivität in die existenzielle Krisenerfahrung konstruktiv zu integrieren vermag. Denn nur so können Phasen der Angst und Sorge, des Zweifelns und Scheiterns, der Hilflosigkeit und Ohnmacht als zum Resilienzprozess zugehörig anerkannt werden und neues Vertrauen und Hoffnung generieren.

Es braucht ein Resilienzmodell, das die Empfindung von Ambivalenz und Destruktivität in die existenzielle Krisenerfahrung konstruktiv zu integrieren vermag

Unabhängig von Art und Intensität einer Krisenerfahrung bringen sich im Aushalten und Gestalten von Ohnmacht, Angst und Sorge leibliche, emotionale, narrative und intellektuelle Dimensionen zum Ausdruck, die allesamt eines gemeinsam haben: Sie speisen sich aus sinnhaften bzw. aus mit Sinn gesättigten, kommunikativen Traditionen und Interaktionen und schreiben diese in jeder Selbstreflexion und in jedem Gespräch ihrerseits fort. Ganz besonders gut lässt sich das anhand von jenen Beispielen aus der jüdisch-christlichen Religion und Spiritualität zeigen, die bis heute für die Seelsorge zentral sind, wie zum Beispiel die Klage- und Dankpsalmen der hebräischen Bibel[7]oder auch die glaubensbezogenen Vorstellungswelten und Reflexionsfiguren der dogmatischen Tradition von der performativen Kraft der Naherwartung bis hin zu Bonhoeffers „guten Mächten“[8]. Das Faszinierende an den Texten unserer Tradition ist: Sie strahlen in ihrer Wirkung aus und sie manifestieren sich in den ritualisierten Praktiken der Kirchen, in deren Transformationsgestalten in modernen Spiritualitäten[9]und in deren säkularisierten Ausformungen wie etwa in der Achtsamkeitspraxis[10].

Für die geisteswissenschaftliche Vertiefung der Resilienzforschung ist dabei entscheidend, dass sich das Verhältnis von Resilienz, Religion und Spiritualität ja nur anhand konkreter Texte, Narrative, Metaphern und Symbole, Rituale und gemeinschaftlicher Praktiken untersuchen lässt. Wenn man sie mithilfe der fachwissenschaftlichen Methoden analysiert, dann lassen sich aus ihnen Strukturen und Prozesse, Sprachmuster und Semantiken erkennen, die für den interdisziplinären Resilienzdiskurs fruchtbar gemacht werden können. Zu unseren auffälligsten Befunden gehört in dieser Hinsicht, dass sich aus der Forschung zu Psalmen und Passionserzählungen die folgenden Aspekte als zentral herausgestellt haben: das Ringen mit Destruktivität, der Umgang mit Ambivalenz und Ambiguitätstoleranz, die Integration destruktiver Erfahrung in das eigene Kohärenzerleben, das Verwobensein physischer, psychischer, emotionaler, spiritueller und in alldem sozialer Krisendimensionen und die sozialen und kulturellen Varianten der Krisenbewältigung.[11]

Man kann sogar so weit gehen, von sogenannten „Resilienznarrativen“ zu sprechen im Sinne einer heuristischen und hermeneutischen Kategorie für resilienzrelevante Narrative, Narrationen und Narrativierungsprozesse. Sie werden in der religiösen Selbstreflexion, in der theologisch-fachwissenschaftlichen Arbeit und in der liturgischen Praxis immer wieder neu aufgerufen und weiter ausgebildet, abhängig von und eingepasst in ihren jeweiligen sozialen und kulturellen Kontext.[12] Zeigen kann man das zum Beispiel anhand der Narrative von Kreuz und Auferstehung, die über Bilder, Texte, Gesänge, rhythmisierte Bewegungselemente oder räumliche Gestaltungsformen vermittelt werden. In ihnen werden Aspekte der Integration von Negativität und ambivalente Lebenserfahrungen explizit benannt und/oder sie vermitteln eine atmosphärische Praxis[13], in der Klage und Dank, flehendes Beten und freudiger Lobpreis nahtlos ineinander übergehen können. Ganz besonders interessant ist, dass solche Resilienznarrative, etwa die enge Verbindung von Kreuz und Auferstehung, auch als implizit „im Raum stehende“ Atmosphären vermittelt werden können. Die Erzählungen können selbst dann eine hohe Wirksamkeit entfalten, wenn nicht alle Anwesenden in der Lage oder dazu bereit sind, die Narrative selbst zu benennen oder sie affirmativ zu bestätigen. Hoffnung kann sich in solchen Konstellationen sogar im Umweg über die hoffnungsvolle Selbstreflexion der anderen übertragen.

Gericht und Gerechtigkeit: Der Gewinn der sperrigen Glaubensvorstellungen

Zu den eindrücklichsten Erkenntnissen unserer Resilienzforschung gehört, dass sich die performative, resilienzförderliche Kraft jüdisch-christlicher Glaubensüberzeugungen nicht nur dort zeigt, wo es um die „happy-go-lucky“-Vorstellungen geht, in denen „nur“ von der Liebe Gottes und seiner barmherzigen Zuneigung gesprochen wird: „Gott liebt Dich und deshalb ist alles gut.“ Denn wo es in einer existenziellen Krisenerfahrung zu einer gravierenden Störung und Unterbrechung des bisherigen Lebens kommt, ist die pure Zusage der Liebe Gottes ein konfrontatives Gegenmodell, das sich zumindest für diesen Moment der Krise nicht in das eigene Leben integrieren lässt. In solchen Situationen sind viel eher die sperrigen und harten Glaubensvorstellungen relevant, in denen unsere Tradition Worte findet für die Unsichtbarkeit und Abwesenheit Gottes, für die Undurchsichtigkeit seines Willens und die nicht erkennbaren Wege seiner Vorsehung, um es mit den Worten religiöser Rede auszudrücken. Erstaunlich oft werden dann auch Vorstellungen vom Gericht laut, das heißt von einem richtenden Gott, vor dem sich Menschen zu verantworten haben. Ja, gerade die Rede vom Gericht ist bis heute präsent, auch wenn die bildhafte Vorstellungswelt der kirchlichen Kunst vom Richterstuhl Gottes in den Hintergrund getreten und eher durch apokalyptische Gesamtszenarien abgelöst ist.

Für manche Seelsorgerinnen und Seelsorger und noch mehr für Kolleginnen und Kollegen aus Psychologie und Psychotherapie sind solche Vorstellungen erschreckend und sie tendieren dazu, sie zu beruhigen, ja sogar sie stillzustellen – und verkennen genau damit das in den sperrigen Vorstellungen liegende Trostpotenzial. Gerade das Gericht ist ja bereits in der biblischen Tradition nicht ein Willkürakt Gottes, der selbstherrlich Strafe und Vergeltung übt. Sondern in der hebräischen Bibel gilt: Gott „richtet“, indem er „rettet“, weil das Gericht Gottes mit seinem Erbarmen korreliert (vgl. Ex 22, 20-26, Gen 6,5-8,22, Hos 11,8-11, Jer 31, 20 oder Ps 3,5; 4,9). Darin kommt die bittere menschheitsgeschichtliche Erfahrung zum Ausdruck, dass Recht und Gerechtigkeit leider nicht immer identisch sind, dass aber Gott als Einziger in der Lage ist, durch seine Gerechtigkeit wieder Recht zu schaffen – und zwar denen gegenüber, die hier und jetzt Unrecht erfahren.

Erneut wird hoffentlich deutlich, wie in solchen Narrationen und Narrativen die Dynamik von Destruktivität, Hoffnung und Ambivalenz zum Ausdruck kommt, die wir in unserer Forschung als charakteristisch für den Resilienzprozess ansehen. Es wäre äußerst interessant, im vertiefenden Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen der Militärseelsorge herauszufinden, welche weiteren Motive, Narrative und Praktiken sie in die Resilienzforschung einbringen würden und wie dies das Verständnis von Resilienz als „fit for fight“ langfristig verändern würde.

„Resilience and Humanities“ wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert (Projekt-Nr. 348851031).

 

 


[1] Hiebel, Nina, Rabe, Milena, Maus, Katja und Geiser, Franziska (2021): Gibt es die „resiliente Persönlichkeit“? In: Spiritual Care, 10(2), S. 117−127, DOI: 10.1515/spircare-2020-0125.

[2] Vgl. Richter, Cornelia (2015): Das Selbst als Balanceakt von Physis und Psyche in Leiblichkeit, Ratio und Affektivität. In: Gräb-Schmidt, E. (Hg.): Was heißt Natur? Philosophischer Ort und Begründungsfunktion des Naturbegriffs. Leipzig, S. 157−173.

[3] Vgl. Hiebel, Nina et al, S. Endnote 1.

[4] Vgl. Melanchthon, Philipp (2002): Heubtartikel Christlicher Lere. Melanchthons deutsche Fassung seiner LOCI THEOLOGICI, nach dem Autograph und dem Originaldruck von 1553 hg. v. Ralf Jenett und Johannes Schilling. Leipzig, 153-159.

[5] Slaby, Jan (2016): Kritik der Resilienz. In: Wüschner ,P. und Kurbacher F. A. (Hg.): Was ist Haltung? Würzburg, S. 273−298.

[6] Breyer, Thiemo (2017): Selbstsorge und Fürsorge zwischen Vulnerabilität und Resilienz. In: Richter, C. (Hg.): Ohnmacht und Angst aushalten. Kritik der Resilienz in Theologie und Philosophie. Stuttgart (RuG 1), S. 119−132; Gärtner, Judith (2020): Vulnerabilität und Resilienz. Psalm 38 als Beispiel einer Verhältnisbestimmung. In: Keul (Hg.): Theologische Vulnerabilitätsforschung. Gesellschaftsrelevant und interdisziplinär. Stuttgart, S. 137–156.

[7] Vgl. Gärtner, Judith (2019): Eine Frage der Gerechtigkeit? Identität durch Transformation am Beispiel der Gnadenformel in den späten Psalmen. In: Ebach, R. und Leuenberger, M. (Hg.): Tradition(en) im Alten Israel. Konstruktion, Transmission und Transformation. Tübingen (FAT II 127), S. 233–252; Gärtner, Judith (2021): „Und mein Schmerz steht mir immer vor Augen“ (Ps 38,18). Schmerz als Ausdrucksform der Klage. In: Bauks, M. und Olyan, S. (Hg.): Pain in Biblical Texts and Other Materials of the Ancient Mediterranean. Tübingen (FAT II 130), S. 85–104; Gärtner, Judith (2022): Resilienz [Art.]. In: Grund-Wittenberg, A., Janowski, B. und Neumann-Gorsolke, U. (Hg.): Handbuch Alttestamentliche Anthropologie. Tübingen; Gärtner, Judith und Petersen, Mirja (2021): Klagen, beten, das Leben beweinen – Die Bedeutung der alttestamentlichen Forschung für das interdisziplinäre Gespräch im 21. Jahrhundert. In: Richter, C. (Hg.): An den Grenzen des Messbaren. Die Kraft von Religion und Spiritualität in Lebenskrisen. Stuttgart (RuG 3), S. 79–96; Gärtner, Judith und Petersen, Mirja (2021): Zwischen Aushalten und Gestalten: Resilienznarrative im Alten Testament 30.01.–01.02.2020. Ein Tagungsbericht aus Rostock. In: Spiritual Care 10/2, S. 165–167; Gärtner, Judith und Richter, Cornelia (2022): Der (post-)moderne Begriff der Resilienz und die jüdisch-christliche Tradition, in: Gärtner, J. und Schmitz, B. (Hg.): Resilienznarrative im Alten Testament, Tübingen (FAT 156), S. 1–21.

[8] Richter, Cornelia (2016): Resilienz im Kontext von Kirche und Theologie. In: Richter, C. und Pohl-Patalong, U.: Resilienz – Problemanzeige und Sehnsuchtsbegriff. Themenheft der Zeitschrift Praktische Theologie 51(2), S. 69–74; Richter, Cornelia (2016): Situative Polyvalenz, Figuration und Performanz. Was die Dogmatik immer wieder von der Schrift lernen kann. In: Roth, U. und Seip, J. (Hg.): Schriftinszenierungen. Bibelhermeneutische und texttheoretische Zugänge zur Predigt. Festgabe für G. Ulrich und E. Garhammer. München (Ökumenische Studien zur Predigt 10), S. 59–78; Richter, Cornelia und Alles, Thorben (2021): „... und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ Bonhoeffer als „role-model“ für Resilienz? In: Spiritual Care 10/2, S. 156–164; Richter, Cornelia und Geiser, Franziska (2021): „Hilft der Glaube oder hilft er nicht?“ Von den Herausforderungen, Religion und Spiritualität im interdisziplinären Gespräch über Resilienz zu erforschen. In: Richter, C. (Hg.): An den Grenzen des Messbaren. Stuttgart (RuG 3), S. 9–36.

[9] Opalka, Katharina (2021): Hilft der Segen? Glaubenspraxen und -erfahrungen im Resilienzdiskurs. In: Praxis Gemeindepädagogik, 74(4), S. 36−37; dies. (2021): Trost an den Grenzen des Sagbaren. In: Magazin Bestattungskultur (Dez.).

[10] Sautermeister, Jochen (2021): Sinnverheißende Gegenwart?! Achtsamkeit zwischen Therapie und spiritueller Lebensform. In: Richter, C. (Hg.): An den Grenzen des Messbaren. Die Kraft von Religion und Spiritualität in Lebenskrisen. Stuttgart (RuG 3): S. 59−77.

[11] Vgl. Gärtner, Judith (2021) und (2022), s. Endnote 7; Sautermeister, Jochen (2021), s. Endnote 10; Richter, Cornelia (2021): Integration of Negativity, Powerlessness and the Role of the Mediopassive: Resilience Factors and Mechanisms in the Perspective of Religion and Spirituality. In: JRAT 7, 2021/2, S. 491−513, online unter <brill.com/view/journals/jrat/7/2/jrat.7.issue-2.xml>.  

[12] Opalka, Katharina (2021): “On Healing”. Paul Tillich’s Contribution to Current Research on Resilience. In: Interdisciplinary Journal for Religion and Transformation in Contemporary Society, 7(2), S. 473−490, DOI: 10.30965/23642807-bja10020; dies. (2021): Was man erzählen kann, wenn man an seine Grenzen kommt. Zur Bedeutung der Narrativität im Resilienzdiskurs. In: C. Richter (Hg.): An den Grenzen des Messbaren. Die Kraft von Religion und Spiritualität in Lebenskrisen. Stuttgart (RuG 3), S. 97−115; Gärtner, Judith und Richter, Cornelia (2022), s. Endnote 7.

[13] Albrecht, Clemens (2017): Atmosphäre statt Sinn. Offene Räume in der interferenten Kultur. In: Lessenich, S. (Hg.): Geschlossene Gesellschaften. Verhandlungen des 38. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Bamberg 2016. Essen; ders. (2017): Atmosphären operationalisieren. In: Sociologia Internationalis, 55(2), S. 141−166. doi.org/10.3790/sint.55.2.141.

Zusammenfassung

Cornelia Richter

Dr. Cornelia Richter, geb. 1970 in Österreich, ist seit 2012 Professorin für Systematische Theologie und Hermeneutik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Von 2019 bis 2022/23 war sie Sprecherin der interdisziplinären Forschungsgruppe DFG-FOR 2686 „Resilienz in Religion und Spiritualität“. Im April 2020 übernahm sie die Leitung der Evangelisch-Theologischen Fakultät als Dekanin.


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