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„Wir haben alle unsere Sollbruchstellen“

Wie lässt sich die Resilienz von Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr steigern? Was ist wichtig, um die Belastungen in den Einsätzen gut zu überstehen? Wie steht es um die Akzeptanz psychischer Erkrankungen in der Truppe, und was kann ein professioneller Umgang damit bewirken? Über diese und weitere Fragen zum Thema Resilienz, vor allem im militärischen Bereich, hat die Redaktion von Ethik und Militär mit dem Diplom-Psychologen Dr. Ulrich Wesemann vom Psychotraumazentrum des Bundeswehrkrankenhauses in Berlin gesprochen.

Herr Dr. Wesemann, Resilienz ist ein sehr vielschichtiger Begriff, wie würden Sie ihn aus Sicht der Psychologie definieren oder auf eine kurze Formel bringen?

Am gängigsten ist die Definition, dass es sich um eine gewisse Widerstands- oder auch Durchhaltefähigkeit gegenüber kritischen Situationen handelt, dass man dabei also auch psychisch stabil bleibt und sich nicht beeinträchtigen lässt. Ob das immer voll und ganz funktioniert, ist eine andere Sache. Für mich handelt es sich um ein Kontinuum mit zwei entgegengesetzten Polen: auf der einen Seite die Resilienz, die Durchhaltefähigkeit oder Widerstandskraft, und auf der anderen Seite die Vulnerabilität, eine Art Verletzlichkeit oder Anfälligkeit. Welchen Begriff man verwendet, spielt also gar keine so große Rolle.

Was ist es denn, was Menschen resilient oder vulnerabel macht? Sind das eher unveränderliche persönliche Merkmale, gibt es also eher resiliente und eher vulnerable Typen, oder kann man Resilienz auch erwerben und lernen?

Sowohl als auch, da gibt es verschiedene Theorien. Viele gehen davon aus, dass es erst einmal eine genetische Komponente gibt. Andere Experten sind jedoch der Ansicht, dass Resilienz erwerbbar ist. Ich denke, es ist eine Kombination aus beidem. Dass man Einfluss auf die Resilienz nehmen kann, sieht man zum Beispiel auch an der Wirksamkeit von Psychotherapien.

Lässt sich das Verhältnis zwischen invariablen Faktoren und beeinflussbaren Größen ungefähr bestimmen? 

Nein, es lässt sich nicht in Prozentzahlen ausdrücken, wie stark umwelt- oder genetisch bedingte Faktoren wirken. Die Resilienzforschung ist zwar ein riesiger Bereich, aber hundertprozentige Vorhersagen kann sie auch nicht leisten. Insgesamt sind die Studien, die sich mehr mit der Vulnerabilität auseinandersetzten, stärker. Vulnerabilitätsfaktoren scheinen also bessere Vorhersagen zu liefern. Wenn wir aber grundsätzlich sagen, dass ist das Gleiche, muss man davon ausgehen, dass die Resilienzforschung noch nicht ganz die richtigen Einflussfaktoren gefunden hat. Man müsste ja nur die Vulnerabilitätsfaktoren umformulieren und als resilient bezeichnen. Zum Beispiel könnte aus „Schlafproblemen“, „körperlichen Beschwerden“ oder „gedrückter Stimmung“ „gesunder Schlaf“, „körperliches Wohlbefinden“ oder „ausgeglichene Stimmung“ werden. Damit würden aktuelle psychische Befindlichkeiten stärker einbezogen, die durchaus Indikatoren für Resilienz darstellen.

Welches sind aus Ihrer Sicht und Erfahrung die wichtigsten Einflussgrößen für Resilienz, und handelt es sich um interne oder externe Faktoren?

Ich denke, dass Kontrollüberzeugungen ein ganz wesentlicher Faktor sind, also die Auffassung, wieweit man Kontrolle über Situationen und Ereignisse hat. Wie vorhersehbar sind diese, wie stark kann ich darauf Einfluss nehmen? Das scheint eine große Rolle zu spielen. Selbstwirksamkeitserwartungen sind ebenfalls ein sehr wichtiger Faktor. Wir würden das eher als Traits beschreiben, also stabile Faktoren, die sich über die Zeit relativ wenig verändern. Bei den äußeren Faktoren ist vor allem die Gruppenkohäsion zu nennen – im militärischen Bereich also das, was man unter Kameradschaft versteht – beziehungsweise ein gutes soziales Gefüge zu Hause. Das sind die wichtigsten Punkte, die Menschen am ehesten resilient machen.

Wirkt das auch kumulativ – ist man also umso resilienter, je mehr positive Faktoren vorhanden sind?

Man kann nicht sie so einfach aufaddieren, aber andererseits ist klar: Je mehr dieser Faktoren jemand hat, umso besser ist es in jedem Fall.

Welche Rolle spielen eigentlich Sport und körperliche Bewegung für Resilienz? Und bei der Gelegenheit eine persönliche Frage zwischendurch: Was ist denn Ihre wichtigste Resilienzressource?

Als meine wichtigste Resilienzquelle würde ich meine Familie bezeichnen, die gibt mir viel Halt und viel Kraft. Aber tatsächlich, Hobbys, ob das jetzt Sport ist oder etwas anderes, also allgemein ein ausgefülltes Privatleben mit schönen Beschäftigungen und guten Freundschaften, das spielt eine große Rolle. Eine gewisse Zufriedenheit mit dem Beruf gehört ebenfalls dazu, also dass man in diesem einen Sinn sieht, gern zur Arbeit geht, eine gute Kollegialität erlebt.

Kann man denn nun anhand solcher Faktoren wirklich Vorhersagen treffen, dass eine Person besser oder schlechter mit Schwierigkeiten umgehen kann? Manche sind ja der Auffassung, dass sich Resilienz erst in der konkreten Situation erweist, in der jemand unter Belastung steht.

Personen, die über entsprechende Faktoren verfügen, werden bestimmte Situationen besser überstehen als solche, denen diese fehlen. Solche Prognosen sind durchaus möglich, aber eher für eine große Gruppe; auf Einzelpersonen sollte man das nicht beziehen.

Und wie steht es um die Soldatinnen und Soldaten, die ja in Einsätzen nicht nur potenziell traumatischen Erlebnissen ausgesetzt sind, sondern hohen Stress und andere Widrigkeiten erleben: Besteht bei ihnen dadurch auch ein größeres Risiko, psychisch zu erkranken?

Ja, sie haben ein berufsbedingtes erhöhtes Risiko, eine einsatzbedingte psychische Erkrankung zu entwickeln. Die häufigsten Erkrankungen sind nach unserer Studienlage Angststörungen, dann etwa zwei Prozent posttraumatische Belastungsstörungen, aber auch depressive Episoden. Die Einjahresinzidenz von psychischen Störungen nach einem Einsatz liegt bei Soldatinnen und Soldaten höher als in der Allgemeinbevölkerung. Wenn man sich jetzt noch anschaut, ob die Betroffenen ein kritisches Ereignis hatten, sehen wir, dass diejenigen mit einem solchen Ereignis ein sechs- bis siebenfach erhöhtes Risiko für eine Erkrankung haben.

Bei Soldatinnen und Soldaten wirken schon die Abwesenheit von zu Hause und die Zustände im Einsatz als Stressfaktoren an sich

Ohne dieses kritische Ereignis blieben die Soldatinnen und Soldaten im ähnlichen Risikobereich wie die Normalbevölkerung. Natürlich wirken schon die Abwesenheit von zu Hause und die Zustände im Einsatz als Stressfaktoren an sich; auch wenn man das eher als militärische Grundbedingungen sieht, ist es zugleich ein Risikofaktor.

Wenn es also tatsächlich vor allem auf die Einsätze und das, was dort erlebt wird, ankommt: Wie geht man dann konkret vor in der Einsatzvorbereitung, wie kann man präventiv die Resilienz stärken?

Für die Psychologie klingt das jetzt etwas ernüchternd – aber besonders bedeutend ist erst einmal die Handlungssicherheit, also das Training der Performanz in verschiedenen kritischen Situationen. Was genau in Einsätzen passiert, ist teilweise unvorhersehbar. Doch wenn die Soldatinnen und Soldaten bestimmte militärische Situationen geübt und eine gewisse Handlungssicherheit erworben haben, überträgt sich das als protektiver Faktor auch auf andere Situationen. Wir haben etwa bei der Amokfahrt 2016 in Berlin gesehen, dass es für Feuerwehrleute weitaus belastender war, Aufgaben zu übernehmen, die üblicherweise außerhalb ihres Aufgabenbereichs lagen. Es gibt also schon eine ganze Reihe an Faktoren, die man trainieren und beeinflussen kann. Das Nächste ist eine gute Ausrüstung. Ansonsten geht es natürlich auch um die Gruppenkohäsion, also dass die Kameradschaft gestärkt wird. Das geschieht zwar automatisch im Einsatz, kann aber zusätzlich gefördert werden.

Es geht nicht darum, alle kritischen Situationen symptomfrei zu überstehen, sondern einen möglichst professionellen Umgang damit zu finden

Schließlich ist das Wissen über psychische Störungen nützlich. Wir haben dafür ein computerbasiertes Trainingsprogramm namens CHARLY eingesetzt. Den dahinterstehenden Ansatz haben wir „Vom Helden zum Profi“ genannt. Das heißt, es geht nicht darum, alle kritischen Situationen symptomfrei zu überstehen, sondern einen möglichst professionellen Umgang damit zu finden. Destigmatisierung ist dabei ein großes Thema.

Geht es bei CHARLY nicht auch darum zu erleben, dass bestimmte Techniken zur Stressreduktion, also beispielsweise Atemübungen, wirklich funktionieren?

Richtig, dazu werden fotorealistisch kritische Einsatzsituationen eingespielt, auf die sich die Probandinnen und Probanden in sensu einlassen und in denen sie dann ihre eigene Erregung herunterregulieren sollen. Es geht also um die emotionale Vorwegnahme solcher kritischen Situationen – wenn sie sich darauf vorbereitet haben, wirken diese natürlich nicht mehr so überwältigend wie ohne eine Vorbereitung. Der wichtigste Faktor ist wie gesagt die Performanz, damit ich in der Situation wirklich die Kontrolle behalte; wenn die Soldatinnen und Soldaten das auch noch emotional trainieren, besteht natürlich eine deutlich größere Chance, dass sie es gut überstehen.

Schon in der Vorbereitung konnten wir gute Trainingseffekte beobachten. Diejenigen, die mit CHARLY auf den Einsatz vorbereitet wurden, hatten nach einem Afghanistan-Einsatz (ISAF) auch weniger Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung. Es ist also tatsächlich ein effektives Instrument.

Wird CHARLY aktuell noch eingesetzt?

Nein, das Projekt ist jetzt ausgelaufen, es war auch nicht für das gesamte Militär konzipiert, sondern nur für verschiedene Einsatzgruppen wie Kampfmittelbeseitiger oder den Sanitätsdienst. In der Bundeswehr gibt es aber natürlich auch andere präventive Ausbildungen, aktuell wird zum Beispiel die B.E.S.S.E.R-Methode intensiv ausgebildet. Das ist eine Methode der psychischen Ersten Hilfe, mit der jeder Menschen helfen kann, die unter psychischem Schock stehen. 

Gibt es in der Bundeswehr auch Vorabscreenings, um bestimmte Risikofaktoren zu identifizieren?

Der Psychologische Dienst verfügt mit der „Erfassung der Psychischen Fitness“ über ein Screening-Instrument, das individuell, aber auch im Gruppenrahmen durchführbar ist. Jede Soldatin und jeder Soldat kann den Test freiwillig bei der Truppen- oder Betriebspsychologie durchlaufen und wird anschließend beraten. Es ist nicht als Selektionstool gedacht, sondern um Auffälligkeiten in bestimmten Bereichen festzustellen, auf die man dann individuell eingehen kann. Nach dem Motto: Gibt es irgendwo Schwächen, und was kann man dagegen tun? Etwa mit einem Training der sozialen Kompetenz, einem Schlaftraining oder Maßnahmen, um Symptome von Übererregung abzubauen. Das kann sowohl im Einzel- wie auch im Gruppensetting geschehen. Dazu entwickelt der Psychologische Dienst der Bundeswehr gerade verschiedene Trainingsprogramme und hat jüngst mit trainSLEEP ein Selbstlerntool herausgebracht, mit dem man seinen Schlaf verbessern kann

Nun werden militärische Resilienzprogramme durchaus kritisch gesehen. Dem stark von der positiven Psychologie beeinflussten Comprehensive Soldier and Family Fitness Programm aus den USA beispielsweise wird vorgeworfen, es würde problematische Einstellungen befördern wie „man muss nur seine Einstellung ändern, dann kann man alles aushalten“. Was sagen Sie dazu, wo hat das Resilienzkonzept seine Grenzen?

Das US-Programm wurde meines Wissens zuerst sehr stark gehypt, aber dann nahm die Kritik zu, es sei mit heißer Nadel gestrickt worden und man habe nur Dinge vom Zivilen aufs Militär übertragen, ohne sie ordentlich zu evaluieren. Und natürlich hat Resilienztraining seine Grenzen, denn wir haben alle irgendwo unsere Sollbruchstellen. Wenn der Stress von außen zu groß wird, dann erkranken wir alle, die einen nur schneller als die anderen. Die einen mit Magengeschwür und die anderen vielleicht mit einer depressiven Episode. Resilienz lässt sich nicht bis zur Unendlichkeit trainieren.

Ich denke, wir stehen mit unserem Ansatz der „psychischen Fitness“ gar nicht so schlecht da. Wir trainieren individuell, wo es eben Trainingsbedarf gibt. Über den Gesamterfolg können wir im Moment noch nicht so viel sagen, aber ich bin da recht zuversichtlich.

Sie haben bereits die Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen erwähnt. Widerstandsfähig und robust sein, um andere zu schützen, das gehört ja zum Selbstbild von Soldatinnen und Soldaten; man spricht auch von der „Rescue Mentality“. Inwiefern hat sich denn ein größeres Verständnis für psychische Erkrankungen entwickelt, auch durch die Erfahrungen der Auslandseinsätze?

Ähnlich wie bei anderen Einsatzkräften sind auch beim Militär berufsbedingte psychische Störungen tatsächlich weitaus akzeptierter als in der Allgemeinbevölkerung. Leider verkehrt sich das aber genau dann ins Gegenteil, wenn man selbst davon betroffen ist. Anhand der Einsatzstatistik, in der alle Soldatinnen und Soldaten vermerkt sind, die einmal einsatzbedingt in psychischer Behandlung waren, sieht man, dass es im Schnitt dreieinhalb Jahre dauert, bis sie sich zum ersten Mal in Behandlung begeben – wenn sie überhaupt kommen. Wir gehen von einer hohen Dunkelziffer aus.

Wir waren letztes Jahr auf der Messe Interschutz in Hannover und haben dort an über 1000 anderen Einsatzkräften, ein Großteil von der Feuerwehr, mit einem Fragebogen untersucht, wie es bei ihnen mit der Stigmatisierung aussieht. Auf die hypothetische Frage, ob sie im Falle einer Erkrankung lieber eine gleichwertige psychische oder körperliche Erkrankung hätten, hat sich die Mehrheit für die körperliche Erkrankung entschieden. Die Psyche scheint also noch ein großes Mysterium zu sein. Es braucht aber einen professionellen Umgang mit beruflich und privat bedingten psychischen Belastungen, daher das Motto „Vom Helden zum Profi“.

Was genau meinen Sie damit?

Ich denke, es ist wichtig zu begreifen, dass es in diesem Beruf nicht als Erstes um einen selbst „als Retter“ geht, sondern dass man seine Aufgabe gut erfüllt, also beispielsweise Menschen hilft. Und dass man zugleich darauf achtet, wie es einem mit den entsprechenden Belastungen geht und einen guten Umgang damit findet. Es kann eben, wie vorher bereits gesagt, immer Belastungssituationen geben, die überfordernd sind – hier ist ein professioneller Umgang im Sinne von Hilfe annehmen bzw. sich Hilfe holen erforderlich. Psychische Probleme sind ein Berufsrisiko, das als solches akzeptiert und ernst genommen werden sollte.

Dass sich Menschen nicht in professionelle Behandlung begeben, kann auch an der Angst vor der institutionellen Stigmatisierung liegen

Beim Abbau von Stigmata muss man also gerade bei den Einzelnen noch mehr ansetzen?

Ja, da gibt es leider noch einiges zu tun. Dass sich Menschen nicht in professionelle Behandlung begeben, kann im Übrigen auch an der Angst vor der institutionellen Stigmatisierung liegen: Man befürchtet schlechtere Karrierechancen oder dass die Vorgesetzten oder Kameraden schlecht über einen denken. Deswegen haben wir schon vor langer Zeit begonnen, Destigmatisierungsprogramme zu etablieren. Das Problem war jedoch, dass alles aufs Militär selbst beschränkt blieb. Jetzt haben wir einen einfachen Laienfremdbeurteilungsfragebogen entwickelt. Er soll es den Partnerinnen oder Partnern von Bundeswehrangehörigen ermöglichen, den psychischen Status des Betroffenen besser einzuschätzen. Dies kann als Grundlage für Gespräche dienen oder als Einstieg, sich über weitere Angebote beraten zu lassen. Wir erhoffen uns dadurch einerseits eine Stärkung der Partnerschaft, andererseits könnte dies auch zu einem früheren Aufsuchen von Hilfsangeboten durch die Soldatinnen/Soldaten selbst führen. Der Fragebogen wird gerade noch validiert. In einer Pilotphase konnten wir damit aber schon recht erfolgreich Erkrankungen erkennen. Jetzt testen wir ihn gerade im größeren Stil.

Sozusagen ein Versuch, den Resilienzfaktor soziales Umfeld zu aktivieren?

Ob der sanfte Druck der Familie ausreicht, damit sich jemand in Behandlung begibt, wird sich natürlich noch zeigen müssen. Aber das ist ja auch nur ein Tool, das Stigma zurückzudrängen. Wir haben schließlich recht gute therapeutische Maßnahmen, um die meisten psychischen Störungen zu behandeln. Nur wenn die Betroffenen nicht kommen, wird es eben schwierig; und je länger man mit der Behandlung wartet, umso schwieriger wird es.

Wir haben recht gute therapeutische Maßnahmen, um die meisten psychischen Störungen zu behandeln. Nur wenn die Betroffenen nicht kommen, wird es schwierig

Auch bei psychischen Störungen gilt also: Je früher man sich in Behandlung begibt, umso größer ist die Chance, sie in den Griff zu bekommen?

Als Faustregel funktioniert das schon, aber natürlich nicht in jedem Einzelfall. Eine depressive Episode kann zum Beispiel von alleine abklingen. Andererseits wissen wir auch: Wenn sie einmal da war, ist die Chance, dass eine weitere hinzukommt, deutlich höher, deshalb ist eine frühzeitige Behandlung unbedingt sinnvoll. Die Erfassung der psychischen Fitness soll wie eine Art psychologische Vorsorgeuntersuchung genau da ansetzen, bevor sich eine Störung entwickelt.

Die Grundsätze der Inneren Führung werden gelegentlich mit Resilienzfaktoren in Zusammenhang gebracht.[1] Wie wichtig ist denn generell eine menschenorientierte Führung, gerade im militärischen Bereich?

Erst vor Kurzem wurde dazu eine Studie veröffentlicht[2], die zeigen konnte, dass soziale Unterstützung einen wesentlichen Einfluss auf die psychische Symptomatik hatte. Und unter sozialer Unterstützung wurde dort nicht nur die Familie verstanden, sondern eben auch Kameraden und Vorgesetzte. Wir haben bereits versucht, das zu replizieren, und konnten feststellen, dass soziale Unterstützung während des Einsatzes, gerade durch Vorgesetzte, sich in der Psychosomatik niederschlägt. Wir sind auch zu dem Schluss gekommen, dass eine gute Führung einen extrem wichtigen Faktor für Resilienz darstellt – oder, wenn sie fehlt, eben einen Vulnerabilitätsfaktor.

Auch die Sinnhaftigkeit des Einsatzes ist ein wichtiger protektiver Faktor. Wenn ich die nicht erkenne, habe ich weniger Motivation und bin natürlich auch anfälliger, wenn ich in Schwierigkeiten gerate.

Machen bestimmte Wertorientierungen nicht auch anfälliger für die sogenannten moralischen Verletzungen? Sind „moralisch sensible“ Soldatinnen nicht leichter zu erschüttern, wenn sie gerade in Einsätzen auf Situationen treffen, die ihren Werten völlig widersprechen?

Da haben Sie leider recht. Es gibt Studien, etwa von Professor Peter Zimmermann et al., die etwas in diese Richtung tendieren. Sie zeigen, dass Soldatinnen und Soldaten etwa mit starker Wertorientierung „Tradition“ in solchen Situationen anfälliger sind, zum Beispiel für eine depressive Symptomatik. Das scheinen also Prädiktoren für moralische Verletzungen zu sein. Man muss dazu sagen, dass diese keine Diagnose an sich darstellen, dass sich daraus in der Folge aber psychische Erkrankungen entwickeln können. Über die Einsatzstatistik haben wir festgestellt, dass moralische Verletzungen in den letzten Jahren zugenommen haben.

Wie Professor Zimmermann sagt, ist es zugleich Ausweis einer hohen moralischen Orientierung, dass jemand in solchen Situationen Probleme entwickelt und das Erlebte nicht einfach an sich abprallen lässt. Da stehen wir also vor einem Dilemma, das sich nicht vollständig auflösen lässt?

Das ist richtig. Wir können ja nicht deshalb antisoziale Menschen einstellen, auch wenn diese in manchen Situationen vielleicht resilienter wären. Es braucht genauso Empathiefähigkeit. Eine Lösung wäre, solche Wertorientierungen als Risikofaktor zu verstehen und dann andere Einflussgrößen zu trainieren. Das Resilienzkonzept hat wie gesagt viele Variablen und Möglichkeiten. Es werden zum Beispiel vom Psychologischen Dienst jetzt bei Bedarf präventive Maßnahmen zum Umgang mit moralischen Konflikten angeboten, die geeignet sind, frühzeitig zu intervenieren, damit sich kein Krankheitsbild entwickelt.

Kurz noch zu einem anderen Thema: Beim Ukrainekrieg wird oft, vielleicht auch etwas leichtfertig, von der starken Resilienz der ukrainischen Bevölkerung gesprochen. Aber die Menschen dort erleben seit über einem Jahr massive Gewalt. Was kommt auf dieses Land noch zu?

Das sehen wir auch in anderen Kriegskontexten: Meistens halten die Soldatinnen und Soldaten bis zum Ende durch. Aber wenn der Krieg zu Ende geht, dann müssen wir leider davon ausgehen, dass es zu massiven psychischen Auswirkungen kommt, und zwar nicht nur beim Militär selbst, sondern auch in der Zivilbevölkerung.

Momentan dürfte es ja wohl vor allem darum gehen, die Soldatinnen und Soldaten wieder fit zum Kämpfen zu machen …

Es ist im Krieg leider so, dass die einzelne Person keine große Rolle spielt, sondern funktionieren muss. Ob sie dabei weiter Schaden nimmt, ist meist erst einmal zweitrangig, solange sie nicht ausfällt. Lassen Sie uns wenigstens hoffen, dass alle frühestmöglich angemessene Hilfe erhalten.

Herr Dr. Wesemann, vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Rüdiger Frank.

 


[1] Beck, Julia (2020): Psychische Resilienz – Begriffe, Konzepte und deren Verankerung in der Inneren Führung. In: Hartmann, Uwe, Janke, Reinhold und Rosen, Claus von (Hg.): Jahrbuch Innere Führung. Berlin, S. 216–229.

[2] Thomas, S. et al. (2022): Examining bidirectional associations between perceived social support and psychological symptoms in the context of stressful event exposure: a prospective, longitudinal study. In: BMC psychiatry, 22(1), S. 736. doi.org/10.1186/s12888-022-04386-0.

Regierungsdirektor Priv.-Doz. Dr. Dipl.-Psych. Ulrich Wesemann

Regierungsdirektor Priv.-Doz. Dr. Dipl.-Psych. Ulrich Wesemann ist Klinischer Psychologe am Psychotraumazentrum des Bundeswehrkrankenhauses Berlin und Dozent an der Charité Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören einsatzbedingte psychische Störungen mit dem Ziel der Optimierung von Einsatzvor- und -nachbereitung sowie dem Abbau von Stigma bei psychischen Problemen.


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