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Resilienz aus der Perspektive der Fürsorgeethik

Einführung

Soldaten und Soldatinnen verschiedener Länder berichten nach Beendigung ihres Einsatzes und der Rückkehr nach Hause vielfach von moralischen Grenzüberschreitungen, die von der einheimischen Bevölkerung, den eigenen Kameraden oder auch Führungsoffizieren[1] begangen wurden. Oder auch davon, wie sie selbst moralische Grenzen überschritten haben. Immer mehr Belege deuten darauf hin, dass Erfahrungen mit moralischen Grenzüberschreitungen und Zwangslagen, in denen konkurrierende Wertvorstellungen aufeinandertreffen, bei Soldaten zu seelischen Problemen[2] einschließlich „moralischer Verletzungen“ [3] führen können. Daher gibt es ein wachsendes Bewusstsein für die Notwendigkeit, die Bediensteten beim Umgang mit diesen Problemen zu unterstützen.[4]

Die Konfrontation mit einer solchen Situation kann die tief verwurzelten Wertvorstellungen eines Menschen erschüttern und somit eine „zerstörerische Wirkung auf Emotionen, Beziehungen, Gesundheit und das Funktionieren der Betroffenen“[5] haben. Die Verletzung ihrer Wertvorstellungen in bestimmten Situationen hat bei zahlreichen Soldatinnen und Soldaten die verschiedensten Gefühle hervorgerufen: von Schuld und Scham bis hin zu Wut oder Treuebruch.[6] Sie haben teilweise mit einem tiefgehenden „moralischen Orientierungsverlust“ zu kämpfen, bis hin zum verstörenden Verlust der einstigen Gewissheit, zwischen Richtig und Falsch unterscheiden zu können. Für sie beginnt damit ein „ethisches Ringen“ mit sich selbst, in dem sie das Gute in ihnen und die Bedeutung von Richtig und Falsch, Gut und Böse hinterfragen.[7]

Resilienztraining – eine falsche Sinnstiftung?

Die anscheinend zunehmende Auftreten moralischer Verletzungen wirft eine Reihe von Fragen auf. Welche Art von Unterstützung sollte man betroffenen Soldatinnen und Soldaten anbieten? Und wie am besten Streitkräfte aufbauen, die fit genug sind, komplexe Kriege zu gewinnen? Oft wird dafür heutzutage der Begriff Resilienz benutzt: die Fähigkeit, sich von schockierenden Erfahrungen zu erholen und nicht von diesen traumatisiert zu werden[8]; „resilienter werden“ – „glücklich, optimistisch, anpassungsfähig und geistig flexibel“[9]. Die Streitkräfte Australiens, Kanadas und der Vereinigten Staaten haben umfangreiche Resilienzprogramme eingeführt – ein Beispiel, dem andere Staaten folgen könnten. Die Popularität des Resilienztrainings ist teilweise darauf zurückzuführen, dass das Konzept aus der Positiven Psychologie abgeleitet ist, welche wiederum auf die aristotelische Tugendethik zurückgeht.[10] Seit einigen Jahren gründen westliche Streitkräfte ihre Ethikausbildung auf diesen aristotelischen Tugendbegriff. Im Mittelpunkt steht der Mensch, der man sein möchte, sowie die Förderung guter Anlagen. Dies entspricht auch der bei den Streitkräften weitverbreiteten Tendenz, in der Ethikausbildung weniger als bisher einen funktionalen Ansatz mit dem Ziel militärischer Leistungsfähigkeit zu verfolgen, sondern stattdessen einen zielorientierten Ansatz zu formulieren, der den Charakter im Blick hat und aus den Soldatinnen und Soldaten bessere Menschen machen soll.[11]

Ein auf Sinnstiftung ausgerichtetes Resilienztraining ist zwar zu begrüßen, kann jedoch die diesen Erfahrungen inhärenten Komplexitäten und Spannungen nicht auflösen. Soldatinnen und Soldaten werden ermutigt, dem Erlebten einen Wert und einen Sinn abzugewinnen. Leider werden moralische Zwangslagen hierdurch nicht gelöst; Wertvorstellungen prallen aufeinander, und oft muss eine Wahl zwischen sich gegenseitig ausschließenden Handlungsoptionen getroffen werden. Es ist daher nicht immer möglich, eine moralische Zwangslage in einem positiven Licht neu zu interpretieren. Es sind jedoch Fälle dokumentiert, in denen Soldatinnen und Soldaten, die mit Schamgefühlen und Gewissenskonflikten zu kämpfen hatten, das Erlebte besser verarbeiten konnten, wenn sie es verurteilten, anstatt es zu rechtfertigen. [12]Bemühungen seitens der Organisation, Soldatinnen und Soldaten von der Sinnhaftigkeit ihrer Handlungen zu überzeugen, können Probleme mit moralischen Zielkonflikten unter Umständen überhaupt erst auslösen, anstatt sie zu verhindern: Menschen werden ermutigt, Dinge zu tun, die sie später vielleicht bereuen und Gefühle von Enttäuschung, Verrat und Wut auslösen können.[13]

Schuld- und Schamgefühle spielen beispielsweise eine wichtige Rolle als heuristisches Mittel zur Unterscheidung zwischen Richtig und Falsch sowie als Anreiz, Fehlverhalten zu vermeiden. Dem Sozialpsychologen Albert Bandura zufolge verhalten sich Menschen mit hohen ethischen Standards dann unethisch, wenn sie die Möglichkeit haben, ihr Verhalten zu rechtfertigen. So können sie den Scham- oder Schuldgefühlen aus dem Weg gehen, die sie normalerweise empfinden, wenn sie ihren eigenen ethischen Standards nicht gerecht werden. Bandura zufolge „gibt es viele soziale und psychologische Manöver, durch die moralische Selbstsanktionen von unmenschlichem Verhalten abgekoppelt werden können“[14]. Moralische Rechtfertigung („Was ich tue, dient einem guten Zweck“) ist ein solches Manöver.

Im schlimmsten Fall kann Resilienztraining bei militärischem Personal zu Abstumpfung führen. In einem Artikel über die Tötung 400 vietnamesischer Zivilisten durch Angehörige der US-Streitkräfte im Jahr 1968 in My Lai beschreibt der Psychiater Robert Jay Lifton, dass „die bösesten Taten mit minimalen Schuldgefühlen begangen werden können, wenn es dafür eine strukturierte Bedeutung gibt, um diese zu rechtfertigen, selbst eine illusorische Pseudoformulierung, wie es sie in My Lai (…) gab“. Seiner Meinung nach „kann diese Art der Vermeidung von Schuldgefühlen jede Gruppe normaler Menschen (das heißt ohne diagnostizierbare Krankheiten), die im Besitz tödlicher Waffen sind, äußerst gefährlich werden lassen“[15]. Lifton zeigt, dass Soldaten in Vietnam in einer „umgekehrten Moral“[16] lebten, in welcher ihr Verhältnis zum Krieg von „paralleler Illusion, Täuschung und Selbsttäuschung“[17] bestimmt war.

Fürsorgeethik

In einem vor Kurzem erschienenen Artikel von van Baarle und Molendijk[18] werden diese Ausbildungsprogramme und Resilienzdebatten kritisch reflektiert.[19] Unter Rückgriff auf die Literatur zur Fürsorgeethik vertreten sie die Ansicht, dass sich ein alternativer oder zusätzlicher Ansatz zur Unterstützung der Soldatinnen und Soldaten eröffne, wenn man nicht nur auf „Resilienz“, sondern auch auf „moralische Genesung“[20], „moralische Wiederherstellung“[21] oder „Vergebung“[22] aus theoretischer und praktischer Perspektive blicke. Dieser Ansatz erinnert an institutionelle Reaktionen auf moralische Grenzüberschreitungen, die auf die Heilung beschädigter Beziehungen zwischen Akteuren abzielen und nicht auf das Überschreiten von Gesetzen oder Ethikrichtlinien.[23] Die Bereitschaft, sich im Dialog zu öffnen und die eigenen Probleme mit anderen zu teilen, gilt als wichtiger Teil des Lernprozesses und der Schaffung eines sicheren Arbeitsumfeldes.

In dieser Hinsicht bietet die Fürsorgeethik eine interessante Perspektive auf die zwischenmenschlichen Schwierigkeiten und Implikationen moralischer Verletzungen in den Streitkräften. Bei der Umsetzung dieser Perspektive in die Praxis kann die militärethische Ausbildung eine wichtige Rolle spielen („sich interessieren, sich kümmern, Fürsorge leisten und empfangen“[24]) und damit Soldatinnen und Soldaten bei der Bewältigung der emotionalen Auswirkungen moralischer Fragestellungen unterstützen.

Eine fürsorgeethische Perspektive betont die konkreten Bedürfnisse der Menschen, zu denen wir in einer Beziehung stehen.[25] Grundlage dafür sind die Emotionen, die innerhalb dieser Beziehungen entstehen, und nicht eine persönliche Einstellung. Dabei ist der Begriff Fürsorge nicht nur als Wert, sondern auch als etwas ganz Praktisches zu verstehen. In der Fürsorgeethik gelten Abhängigkeit und das Streben nach Verantwortung und Fürsorge als wesentliche Eigenschaften des Menschen. Gleichzeitig wird das soziale Wesen und die gegenseitige Bedingtheit menschlichen Lebens in Abgrenzung zu Unabhängigkeit und individueller Autonomie betont.

Ein fürsorgeethischer Ansatz beginnt nicht mit einer abstrakten Liste moralischer Regeln und Verbote

In der Fürsorgeethik ist der Ausgangspunkt für Moral das Eintreten in eine Beziehung mit anderen, nicht die Abgrenzung von ihnen. Die entsprechende moralische Voraussetzung ist die Übernahme von Verantwortung für andere.[26] Ein fürsorgeethischer Ansatz beginnt nicht mit einer abstrakten Liste moralischer Regeln und Verbote.

Joan Tronto und Berenice Fisher berücksichtigen in ihrer weit gefassten Definition von Fürsorge (care) sowohl öffentliche als auch private Aspekte:

„Eine Art Aktivität, die alles umfasst, was wir tun, um unsere Welt zu erhalten, einzugrenzen und wiederherzustellen, damit wir so gut wie möglich in ihr leben können. Diese Welt beinhaltet unsere Körper, unser Selbst und unsere Umwelt.“[27]  

Sie grenzen vier Phasen der Fürsorge voneinander ab, die uns bei dem Verständnis helfen können, wie wir Fürsorge anwenden können. Jede dieser Phasen besitzt eine eigene moralische Dimension.[28] Erstens Aufmerksamkeit, oder sich interessieren (to care about), den anderen sehen und seine Bedürfnisse erkennen. Zweitens Verantwortung oder sich kümmern (to care for), eine moralische Verantwortung übernehmen für das, was getan werden muss. Drittens Kompetenz oder das tatsächliche Erbringen von Fürsorge (care-giving). Viertens Empfänglichkeit oder das Empfangen von Fürsorge(receiving of care); wie beurteilen wir ihre Wirksamkeit, wenn wir Fürsorge erbracht haben?

Diese vier Phasen sind in einem sich gegenseitig verstärkenden Prozess miteinander verflochten. In Caring Democracy[29] ergänzt Tronto eine fünfte Phase, sichgemeinsam kümmern(caring with), um zu betonen, dass Fürsorge einen Paradigmenwechsel beinhaltet – weg von Autonomie und vertraglichen moralischen Verpflichtungen und hin zu Beziehungen und Verantwortung. Caring with ist eine Aktivität, die einen dauerhaften Einsatz für andere einschließlich Solidarität und Vertrauen erfordert. Dies setzt voraus, dass Macht- und Herrschaftsverhältnisse berücksichtigt werden, um die Stimmen anderer mit aufzunehmen. Dementsprechend sind verschiedene Phasen von Fürsorge wie Aufmerksamkeit und Empfänglichkeit nicht einfach individualistische Werte oder Tugenden; sie sollten vielmehr als Interaktion mit anderen gesehen werden, als Reaktion auf die Bedürfnisse anderer, und zwar weder unter der Vorgabe der „Perfektion des tugendhaften Individuums“ noch unter „dem Fokus auf die Leistung des Fürsorgeerbringers“[30]. Philosophen wie McIntyre betonen ebenfalls, laut der aristotelischen Tugendethik seien für ein gutes Leben auch sinnvolle Interaktionen mit anderen Menschen nötig; es sei nicht im Alleingang zu erreichen.[31]

Praktische Auswirkungen

Das Verhältnis zwischen moralischen Zwangslagen, moralischen Verletzungen und Resilienz hat in der Forschung bislang noch nicht die erforderliche Aufmerksamkeit erfahren. Der einschlägigen Literatur zufolge scheinen betroffene Soldatinnen und Soldaten jedoch von Interventionen zu profitieren, die einen ethischen Bezugsrahmen entwickeln, mit dessen Hilfe sie ihre Erfahrungen mit moralischen Verletzungen einordnen können.[32] Sich der eigenen moralischen Werte und der Werte anderer bewusst zu sein und auf sie zu achten, das Erkennen von Situationen, in denen diese Werte in Gefahr sind, sowie die Fähigkeit, die moralische Dimension dieser Situationen in Worte zu fassen, scheint den Soldatinnen und Soldaten dabei zu helfen, sich selbst und anderen gegenüber zu rechtfertigen und darzustellen, warum ihnen ein bestimmter Wert wichtig ist und sie ihr Handeln danach ausrichten.

Das Verhältnis zwischen moralischen Zwangslagen, moralischen Verletzungen und Resilienz hat in der Forschung bislang noch nicht die erforderliche Aufmerksamkeit erfahren

In der Praxis bedeutet dies, in Mitarbeiter mit soliden Zuhör- und Kommunikationsfähigkeiten zu investieren, sie angemessen zu schulen und zu unterstützen sowie eine Organisationskultur zu fördern, die diese Fähigkeiten für die verschiedenen Phasen der Fürsorge anerkennt und wertschätzt. Dies setzt umfassende kritische Beratungsprozesse sowie Organisationsstrukturen voraus, die die Mitarbeiter befähigen, moralische Fragen zu diskutieren und Wege zur Förderung moralischen Lernens zu finden. Die Fähigkeit, angesichts einer moralischen Zwangslage für die eigenen Handlungen Verantwortung zu übernehmen, sowie die bewusste Entscheidung angesichts konkurrierender Wertvorstellungen, in dem Wissen, dass einige dieser Werte verletzt werden müssen, kann einem Gefühl moralischen Versagens oder überwältigenden Schuldgefühls vorbeugen.[33]

Um dies zu erreichen, muss vermutlich an der sozialen Identität bzw. am Selbstverständnis der Soldatinnen und Soldaten gearbeitet werden.[34] Ungeachtet des momentanen Kriegs in der Ukraine sehen die meisten westlichen Streitkräfte nach wie vor friedenserhaltende und humanitäre Missionen als ihre Kernaufgaben an. Diese Einsätze zur Friedenssicherung und Krisenhilfe (Operations Other Than War) werden jedoch bisweilen im Vergleich zu den „echten“ Einsätzen als minderwertig angesehen.[35] Yi beschreibt ein Kampfsportprogramm der U.S. Marines, das nach einer Zeit, in der die Streitkräfte hauptsächlich als „Instrument des Social Engineering[36] angesehen wurden, das Kriegerethos der Soldaten bewahren soll. Dieses Kampfsport-Trainingsprogramm (MCMAP) existiert nach wie vor und soll in seiner jetzigen Form „durch realistisches Kampftraining, vertiefte Auseinandersetzung mit dem Kriegerethos sowie körperliche Abhärtung die mentale und moralische Resilienz der Marines stärken“[37]. Forschungen zum Verhalten von Soldatinnen und Soldaten, die an der Operation Restore Hope der US-Streitkräfte in Somalia in den frühen 1990er-Jahren beteiligt waren, zeigen, dass Konflikte mit der lokalen Bevölkerung häufiger eskalieren, wenn während einer Friedensmission auf Kriegerstrategien zurückgegriffen wird. Wer sich mit der Rolle des Kriegers identifizierte, entwickelte ein negatives stereotypisches Bild und damit eine feindselige Haltung gegenüber der lokalen Bevölkerung.[38] Interessanterweise haben Op den Buijs, Broesder und Meijer herausgefunden, dass sich die Identifikation mit der Rolle des Peacekeepers auch positiv auf das psychische Wohlbefinden der Soldatinnen und Soldaten auswirkte. Im Allgemeinen ist diese Rolle psychologisch befriedigender als das Selbstverständnis als Kämpfer, insbesondere wenn es keinen klar definierten Feind gibt oder die Rolle des Kriegers zu der des Diplomaten und Entwicklungshelfers im Widerspruch steht.[39] Es ist daher bedauerlich, dass der Begriff „Kämpfer“ den bescheideneren Ausdruck „Soldat“ immer mehr verdrängt. Dies dürfte nicht gerade dazu beitragen, das oben beschriebene Bild zu verändern.

Die heutzutage gefragten Tugenden sind wohl eher Fürsorge (care) und Wohlwollen gegenüber anderen als das Unterbeweisstellen der eigenen körperlichen Stärke, Loyalität und Disziplin

Was einer Organisation wichtig ist, wird nicht zuletzt durch Verhaltenskodizes, Wertekataloge und Diensteide vermittelt. Auch durch explizite Rücksichtnahme auf die Interessen Außenstehender kann dieses Selbstverständnis geändert werden. Die heute am weitesten verbreiteten Kodizes, Diensteide und Werte erscheinen in der Tat etwas einseitig, da sie sich hauptsächlich auf die Interessen und Ziele der Organisation beziehen. Die in den meisten Streitkräften vorherrschenden Werte wie beispielsweise Mut, Loyalität und Disziplin sind für die lokale Bevölkerung, in denen militärisches Personal stationiert ist, nicht besonders hilfreich.[40]Selbstverständlich brauchen die heutigen Soldatinnen und Soldaten Tugenden, aber nicht unbedingt die derzeit vorherrschende Art funktionaler Tugenden. Es stellt sich die Frage, inwieweit zum jetzigen Zeitpunkt, da viele Streitkräfte das Eintreten für universelle Werte als ihre vornehmste Daseinsberechtigung in den Vordergrund stellen, eine Militärethik neu formuliert werden kann, welche auch die Interessen Außenstehender mehr als bisher berücksichtigt. Die heutzutage gefragten Tugenden sind wohl eher Fürsorge (care) und Wohlwollen gegenüber anderen als das Unterbeweisstellen der eigenen körperlichen Stärke, Loyalität und Disziplin. Die Fürsorgeethik steht der von den Streitkräften bevorzugten Lehrmethode für Tugenden übrigens keineswegs entgegen: Einigen Autoren zufolge ist die Fürsorgeethik ein Teilgebiet der Tugendethik.[41] Ein auf Fürsorge beruhender Wertekanon würde auch besser zu dem eher zielorientierten und weniger funktionalen Ansatz passen, den die Streitkräfte in ihrer Ethikausbildung überwiegend bevorzugen.

Schlussbemerkungen

In den Anfängen der Militärpsychiatrie wurden Kriegsneurosen und ähnliche Erkrankungen zunächst mit Versagen gleichgesetzt. Es kamen Militärpsychiater zum Einsatz mit dem Ziel, die Soldaten so bald wie möglich wieder zurück an die Front zu schicken. Dies geschah teilweise mit derart harten Behandlungsmethoden, dass der Fronteinsatz geradezu attraktiv anmutete. Psychologen haben jedoch auch als Erste darauf hingewiesen, dass in der modernen Kriegsführung die Gefahr eines seelischen Schadens deutlich größer ist als die einer körperlichen Verletzung. Die Weiterentwicklung von Militärpsychiatrie und -psychologie in der jüngsten Zeit führte zu einem größeren Verständnis für diejenigen, die dem Druck nicht standhalten konnten.[42] Ein Zusammenbruch gilt demnach nicht mehr als moralisches Versagen. Dennoch hat sich die hartnäckige Vorstellung gehalten, man könne mithilfe einer auf gesundem Menschenverstand basierenden Psychologie die Soldaten so schnell wie möglich wieder an der Front einsetzen.[43] Besonders in Kriegszeiten wird das sogenannte Salvage-Prinzip angewandt (das heißt, so viele Soldaten wie möglich wieder in die Dienstfähigkeit zu versetzen). Heutzutage ist zu beobachten, dass Resilienztraining und Positive Psychologie eingesetzt werden, um dafür zu sorgen, dass die Soldaten „dienstbereit“ sind, und so das Risiko von Zusammenbrüchen zu mindern. Das kann zweifellos etwas Gutes haben, da es Angehörigen der Streitkräfte erklärtermaßen außerordentlich wichtig ist, „sich selbst im Spiegel anschauen zu können“. Resilienztraining kann dabei helfen. Diese Art Resilienz kann auch für das Militär als kollektive „Kampftruppe“ wichtig sein und schlussendlich für das Überleben des politischen Gebildes, dem es dient. Solange die Streitkräfte jedoch Resilienz in erster Linie als Mittel zur Stärkung der Dienstbereitschaft ihres Personals ansehen, wird dadurch ein eher funktionaler Ansatz der Ausbildung betont, der in erster Linie auf die Interessen der militärischen Organisation ausgerichtet ist. Dies hat natürlich Schattenseiten, allen voran die mögliche Desensibilisierung militärischen Personals gegenüber dem Leid Außenstehender. Darüber hinaus läuft ein solch funktionaler Ansatz nicht nur der Fürsorgeethik, sondern auch der Tugendethik zuwider, also dem Herzstück der Ausbildung in Positiver Psychologie und Resilienz, der sich viele Streitkräfte verschrieben haben. Die Tugendethik setzt den Akzent auf den Charakter des Individuums und das „Gedeihen des Menschen im Verhältnis zu anderen“ und nicht so sehr auf ihre Dienst- bzw. Einsatzbereitschaft.

 

 


[1] Schut, Michelle und van Baarle, Eva (2017): Dancing Boys and the Moral Dilemmas of Military Missions: the Practice of Bacha Bazi in Afghanistan. In: International Security and Peacebuilding: Africa, the Middle East, and Europe, edited by Abu B. Bah, S. 77–98. Bloomington; Vikan, Cornelia (2017): Responsibility in Complex Conflicts: An Afghan Case. In: Journal of Military Ethics, Band 16, Nr. 3–4, S. 239–255.

[2] Ritov, Gilad und Barnetz, Zion (2014): The interrelationships between moral attitudes, posttraumatic stress disorder symptoms and mixed lateral preference in Israeli reserve combat troops. In: International Journal of Social Psychiatry, Band 60, Nr. 6, S. 606–612; Jordan, Alexander H., et al. (2017): Distinguishing war-related PTSD resulting from perpetration- and betrayal-based morally injurious events. In: Psychological Trauma: Theory, Research, Practice, and Policy, Band 9, Nr. 6, S. 627; Wisco, Blair E. et al. (2017): Moral injury in US combat veterans: Results from the national health and resilience in veterans study. In: Depression and anxiety, Band 34, Nr. 4, S. 340–347.

[3] Litz, Brett T. et al. (2009): Moral injury and moral repair in war veterans: A preliminary model and intervention strategy. In: Clinical psychology review, Band 29, Nr. 8, S. 695–706; Frankfurt, Sheila and Frazier, Patricia (2016): A Review of Research on Moral Injury in Combat Veterans. In: Military Psychology, Band 28, Nr. 5, S. 318–330. (Übersetzung aus dem Englischen.)

[4] Litz, Brett T. et al. (2009); Molendijk, Tine et al. (2022): Contextual dimensions of moral injury: An interdisciplinary review. In: Military Psychology, Band 34, Nr. 6, S. 742–753.

[5] Griffin, Brandon J. et al. (2019): Moral injury: An integrative review. In: Journal of Traumatic Stress, Band 32, Nr. 3, S. 358. (Übersetzung aus dem Englischen.)

[6] Litz, Brett T. et al. (2009).

[7] Molendijk, Tine (2018): Toward an interdisciplinary conceptualization of moral injury: From unequivocal guilt and anger to moral conflict and disorientation. In: New Ideas in Psychology, Band 51, S. 1–8.

[8] Litz, Brett T. (2014): Resilience in the aftermath of war trauma: a critical review and commentary. In: Interface focus, Band. 4, Nr. 5. https://royalsocietypublishing.org/doi/epdf/10.1098/rsfs.2014.0008 (Stand aller Internetbelege: 31.5.2023).

[9] Howell, Alison (2015): Resilience, war, and austerity: The ethics of military human enhancement and the politics of data. In: Security Dialogue, Band 46, Nr. 1, S. 15–32. https://journals.sagepub.com/doi/pdf/10.1177/0967010614551040. (Übersetzung aus dem Englischen.)

[10] Van Zyl, Llewellyn E. et al. (2023): The Critiques and Criticisms of Positive Psychology: A Systematic Review. In: Journal of Positive Psychology, DOI: 10.1080/17439760.2023.2178956.

[11] Olsthoorn, Peter (2021): Militärische Tugenden für die heutige Zeit. In: Ethik und Militär, Nr. 2, S. 24–29. https://www.ethikundmilitaer.de/ausgabe/2021-02/article/militaerische-tugenden-fuer-die-heutige-zeit.

[12] Litz, Brett T. et al. (2009).

[13] Shay, Jonathan (2010): Achilles in Vietnam: Combat trauma and the undoing of character. New York.

[14] Bandura, Albert (1999): Moral disengagement in the perpetration of inhumanities. In: Personality and Social Psychology Review, Band 3, Nr. 3, S. 193–209. (Übersetzung aus dem Englischen.)

[15] Lifton, Robert Jay (1973): Home from the War: Learning from Vietnam Veterans, New York, S. 57. (Übersetzung aus dem Englischen.)

[16] Lifton, Robert Jay (1973), S. 59. (Übersetzung aus dem Englischen.)

[17] Lifton, Robert Jay, S. 65. (Übersetzung aus dem Englischen.)

[18] Van Baarle, Eva und Molendijk, Tine (2021): Resilience as the Road to Mental Readiness? Reflections from an Ethics-of-care Perspective. In: Journal of Military Ethics, Band 20, Nr. 2, S. 129–144.

[19] Eidelson, Roy, Pilisuk, Marc und Soldz, Stephen (2011): The dark side of comprehensive soldier fitness. In: American Psychologist, Band 66, Nr. 7, S. 643–644; Litz, Brett T. (2014).

[20] Cullen, John G. (2022): Moral recovery and ethical leadership. In: Journal of Business Ethics, Band 175, Nr. 3, S. 485–497. (Übersetzung aus dem Englischen.)

[21] Vives-Gabriel, Jordi, Van Lent, Wim und Wettstein, Florian (2022): Moral Repair: Toward a Two-Level Conceptualization. In: Business Ethics Quarterly, S. 1–31. (Übersetzung aus dem Englischen.)

[22] Fehr, Ryan und Gelfand, Michelle (2012): The forgiving organization: A multilevel model of forgiveness at work. In: Academy of Management Review, Band 37, Nr. 4, S. 664–688. (Übersetzung aus dem Englischen.)

[23] Dekker, Sidney and Breakey, Hugh (2016): ‘Just culture:’ Improving safety by achieving substantive, procedural and restorative justice. In: Safety science, Band 85, S. 187–193; Van Baarle, Eva et al. (2023): Sexual Boundary Violations: Exploring How the Interplay Between Violations, Retributive, and Restorative Responses Affects Teams. In: Journal of Business Ethics, S. 1–16.

[24] Fisher, Bernice and Tronto, Joan (1990): Toward a feminist theory of caring. In: Circles of care: Work and identity in women’s lives, S. 35–62. (Übersetzung aus dem Englischen.)

[25] Gilligan, Carol (1993): In a different voice: Psychological theory and women’s development. Harvard University Press; Tronto, Joan (1993): Moral boundaries: A political argument for an ethic of care. New York.

[26] Edwards, Steven D. (1990): Three versions of an ethics of care. In: Nursing philosophy, Band 10, Nr. 4, S. 231–240.

[27] Fisher, Bernice and Tronto, Joan (1990), S. 39. (Übersetzung aus dem Englischen.)

[28] Fisher, Bernice and Tronto, Joan (1990), S. 41.

[29] Tronto, Joan (2013): Caring Democracy: Markets, Equality, and Justice. New York, London.

[30] Tronto, Joan (2013), S. 51. (Übersetzung aus dem Englischen.)

[31] Tholen, Berry (2018): Political responsibility as a virtue: Nussbaum, MacIntyre, and Ricoeur on the fragility of politics. In: Alternatives, Band 43, Nr. 1, S. 22–34.

[32] Bica, Camillo C. (1999): A therapeutic application of philosophy: The moral casualties of war: Understanding the experience. In: International Journal of Applied Philosophy, Band 13, Nr. 1, S. 81–92.

[33] Litz, Brett T. et al. (2009).

[34] Franke, Volker C. (2003): The Social Identity of Peacekeeping. In: Britt, Thomas W. and Adler, Amy B. (Hg.): The Psychology of the Peacekeeper: Lessons from the Field. Westport, S. 31–52.

[35] Robinson, Paul (2007): The Way of the Warrior. In: Spectator, 13. Juni.

[36] Yi, Jamison (2004): MCMAP and the Warrior Ethos. In: Military Review, Nov–Dez, S. 17–24. Übersetzung aus dem Englischen.

[37] MARINE CORPS ORDER 1500.59A.https://www.marines.mil/Portals/1/Publications/MCO%201500.59A.pdf?ver=2019-09-27-154522-420 (abgerufen am 28. Mai 2023). Übersetzung aus dem Englischen.

[38] Miller, Laura and Moskos, Charles (1995): Humanitarians or Warriors? Race, Gender, and Combat Status in Operation Restore Hope. In: Armed Forces and Society, Band 21, Nr. 4, S. 615–637.

[39] Op den Buijs, Tessa, Broesder, Wendy and Meijer, Marten (2012): Strain and stress. Role ambiguity in an unfriendly environment. In: Beeres, Robert, Soeters, Joseph and van der Meulen, Jan (Hg.): Mission Uruzgan. Amsterdam, S. 114.

[40] Olsthoorn, Peter (2010): Military Ethics and Virtues: An Interdisciplinary Approach for the 21st Century. London und New York.

[41] Halwani, Raja (2003): Care ethics and virtue ethics. In Hypatia, Band 18, Nr. 3, S. 161–192.

[42] Wessely, Simon (2006): Twentieth-century Theories on Combat Motivation and Breakdown. In: Journal of Contemporary History, Band 41, Nr. 2, S. 268–286.

[43] Dem Militärpsychologen Shabtai Noy zufolge sollte Soldaten, die unter Kriegstraumata leiden, bei der Behandlung indirekt die Botschaft vermittelt werden, sie seien nicht wirklich krank und sollten bald zu ihrer Einheit zurückkehren – „In den meisten Fällen genügen einige Stunden Erholung oder eine Nacht Schlaf“. (Übersetzung aus dem Englischen.) Noy, Shabtai (1991): Combat Stress Reactions. In: Gal, Reuven and Mangelsdorff, A. David (Hg.): Handbook of Military Psychology. Chichester, S. 523.

Zusammenfassung

Eva van Baarle

Eva van Baarle ist Lehrbeauftragte für Militärethik und Militärphilosophie an der Niederländischen Akademie für Verteidigung. Sie promovierte 2018 mit ihrer Forschung zur Stärkung der moralischen Kompetenz militärischen Personals durch ethische Bildung. Derzeit ist sie in der anwendungsbezogenen Forschung als Forschungsleiterin zum Thema „Hin zu einer sozial gesicherten Verteidigungskultur“ tätig.

Dr. Peter Olsthoorn

Peter Olsthoorn ist außerordentlicher Professor für militärische Führung und Ethik an der Niederländischen Akademie für Verteidigung. Sein Lehrstuhl deckt neben Führung und Ethik die Gebiete Streitkräfte und Gesellschaft, Krieg und Medien sowie Ethik und Grundrechte bei Frontex ab. Er forscht vor allem zu militärischen Tugenden, militärischer Medizinethik, bewaffneten Drohnen und Ethik des Grenzschutzes. Er ist Autor zahlreicher Publikationen, unter anderem von „Military Ethics and Virtues: An Interdisciplinary Approach for the 21st Century“ (Routledge, 2010).

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