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Desinformation und Desinformationsresilienz

Der vorliegende Text übernimmt Überlegungen und im Einzelnen nicht näher gekennzeichnete Textpassagen aus der noch nicht veröffentlichten Dissertation von André Schülke (in Vorbereitung zur Publikation).

„Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.“[1] Mit diesem Diktum verwies 1996 der Soziologe Niklas Luhmann auf den Umstand, dass wir zum Verstehen einer immer komplexer werdenden Welt auf immer weniger Informationen aus eigener Anschauung zurückgreifen können und daher notwendigerweise auf Informationen angewiesen sind, die uns von Dritten zur Kenntnis gebracht werden. Unter diesen Dritten finden sich auch Akteure, die Desinformation verbreiten, um ihren politischen, wirtschaftlichen und militärischen Einfluss außerhalb ihres eigenen Territoriums geltend zu machen und zu erweitern.

Gemäß der Definition einer von der Europäischen Union eingesetzten Expertengruppe umfasst der Begriff der Desinformation „alle Formen falscher, ungenauer oder irreführender Informationen, die darauf abzielen, der Öffentlichkeit absichtlich Schaden zuzufügen oder Gewinn zu erzielen.“[2] Desinformation, ungenau auch oft als „Fake News“ bezeichnet, hat in der aktuellen Medienkommunikation einen weiten Raum eingenommen und wird medienethisch breit diskutiert.[3] Bedrohlich erscheinen Desinformationen, wenn sie als Kampagnen geplant und durchgeführt werden, um demokratische Prozesse zu stören oder allgemein Menschen in ihrem Verhältnis zur Welt zu erschüttern. Da zu vermuten ist, dass ihre Urheber auch weiterhin bemüht sind, ihren Einfluss im medialen Raum auszuweiten, sollen zwei Aspekte bezüglich dieser Kampagnen näher betrachtet werden: die phänomenologische Ausdeutung der Methoden ihrer Einflussnahme auf das einzelne Individuum und mögliche Strategien zu ihrer Abwehr. Mit diesem Ansatz legt der vorliegende Text bei der Betrachtung des grundsätzlich dialektischen Verhältnisses zwischen einem Individuum und der Gesellschaft, der es angehört, den Fokus auf das Individuum und sein Rezeptionsverhalten.

Desinformation

Akteure, die Desinformation verbreiten, verfolgen in der Regel ganz bestimmte Ziele. Desinformation, die von staatlichen Akteuren lanciert wird, ist häufig darauf ausgerichtet, die strukturelle und funktionale Integrität eines gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen oder militärischen Gegners zu unterminieren und – im Falle des Erfolgs – zu destabilisieren.[4] Sie entfaltet in der Regel eine indirekte und subtile Wirkung, indem sie versucht, die Individuen der angegriffenen Gemeinschaft zu einer allmählichen Änderung ihrer mentalen Modelle der Realität und in der Folge zu Verhaltensänderungen zu bewegen, die dieser Gemeinschaft schaden.

Ein mentales Modell[5] der Realität kann definiert werden als eine auf die reale Welt bezogene Repräsentation eines Sachverhaltes, eines Prozesses oder einer Handlung im Bewusstsein eines Individuums. Es stellt den kognitiven Rahmen zur Verfügung, innerhalb dessen dieses Individuum andere Personen und Objekte in seiner Umgebung wahrnimmt und ihren Interaktionen und Relationen Bedeutung und damit Sinn zumisst. Das mentale Modell erlaubt es dem Individuum darüber hinaus, Veränderungen in den Interaktionen und Relationen der wahrgenommenen Personen und Objekte zu erkennen und damit ihren zukünftigen Zustand für eine ausreichende Zeitspanne mit hinreichender Sicherheit vorherzusagen. Das heißt, es erlaubt ihm die Antizipation wahrscheinlicher zukünftiger Entwicklungen und daraus abgeleitet die Planung von Handlungsalternativen und tatsächlichem Handeln.

Die Methoden der Desinformation umfassen somit alle rational geplanten und auf lange Sicht angelegten Versuche eines Akteurs, einer Gruppe von Akteuren, einer Institution oder eines Staates, falsche, ungenaue oder irreführende Informationen im Weltbild ihrer Adressaten zu verankern. Zu diesem Zweck zielen sie in der Regel auf die Konstitution eines nichtrationalen mentalen Modells der Realität im Bewusstsein ihrer Rezipienten, das durch kognitive Regression[6] aufrechterhalten wird.

Wenn sich aber zeigt, dass Individuen und Gruppen insbesondere in pluralistischen und demokratischen Gesellschaften durch den Einfluss von Desinformation zu Verhaltensweisen und Handlungen veranlasst werden, die negative Auswirkungen auf das soziale, politische und wirtschaftliche Gefüge dieser Gesellschaft haben, dann steht auch die Frage im Raum, wie dieser Herausforderung begegnet werden kann.

Neben die klassischen materialen Methoden zur Abwehr von Desinformation – Offenlegung der Quellen, Forderung nach Medientransparenz, Strafverfolgung[7] und Debunking (Entlarven und Widerlegen von Falschmeldungen) – tritt als Methode die Aneignung und Ausweitung von Desinformationsresilienz. Desinformationresilienz kann definiert werden als ein Vermögen, das „[d]ie Ziele von Desinformationskampagnen, seien es ganze Gesellschaften, bestimmte soziale Gruppen oder politische Institutionen, [...] gegen intendierte schädliche Wirkungen immunisiert, ohne dass die Aktivität an sich unterbunden wird“[8]. Auf die phänomenale Ebene bezogen bedeutet dies das Vermögen eines Individuums, Desinformation als solche zu erkennen, ihre Manipulationsabsicht zu durchschauen und sie zu neutralisieren.

Mentale Modelle der Realität

Ausgangspunkt unserer Überlegungen zu Wirkung und Abwehr von Desinformation ist hier Walter L. Bühls[9] Modell der Informationsverarbeitung des menschlichen Gehirns. Wir können es heranziehen, um uns der Wirkung von Desinformation auf das mentale Modell der Realität eines Rezipienten mit einem phänomenologischen Ansatz zu nähern. Bühls Modell beruht auf der analytischen Unterscheidung einer magischen, mythischen, ideologischen und reflexiv-diskursiven Strukturebene der Informationsverarbeitung des menschlichen Gehirns.

Im Folgenden sind die von Bühl unterschiedenen Strukturebenen sowie die funktionalen kognitiven Komponenten, die diese Ebenen ausdifferenzieren, angeführt. Die kognitiven Komponenten können als partikulare Prozesse zur Erzeugung von Sinn verstanden werden. In ihrem Zusammenspiel im Bewusstsein eines Rezipienten konstituieren sie dessen mentales Modell der Realität. Es zeigt sich, dass nur die dem reflexiv-diskursiven Modell zugeordneten kognitiven Komponenten die Forderung nach Rationalität erfüllen. In der Regel wird man aber davon ausgehen müssen, dass jedes individuelle mentale Modell der Realität einen Mix aus den Komponenten unterschiedlicher idealtypischer mentaler Modelle umfasst. Damit steht aber auch ein Instrumentarium zur Verfügung, mit dem das „Maß der Rationalität“ mentaler Modelle beurteilt werden kann:[10]

Reflexiv-diskursive (rationale) mentale Modelle der Realität unterscheiden zwischen Beobachtungsebene und theoretischer Ebene. Sie lehnen übernatürliche Erklärungen von Beobachtungen ab, verknüpfen ihre Aussagen und Propositionen durch die Regeln der Logik und sind als hypothetisch, intersubjektiv überprüfbar, falsifizierbar und vorläufig zu betrachten.

Ideologische und pseudowissenschaftliche (nichtrationale) mentale Modelle der Realität spiegeln die Struktur des wissenschaftlichen Wissens. Sie unterdrücken den Diskurs und das Nachdenken, verkünden eine Teleologie und sind selbstimmunisierend.

Mythische (nichtrationale) mentale Modelle der Realität bieten übernatürliche Erklärungen für die Ereignisse in der Welt an. Sie vermitteln die Illusion, die Welt und das gesamte Universum zu verstehen, und folgen der "Logik der archaischen Opposition", das heißt, sie können räumlich und zeitlich benachbarte oder gestalthaft analog erscheinende Dinge und Ereignisse nicht wirkungsvoll auseinanderhalten, sondern verschmelzen sie miteinander, während sie Dinge und Ereignisse, die nicht zu fusionieren sind, als Gegenspieler betrachten.

Magische (nichtrationale) mentale Modelle der Realität weisen jedem Vorgang in der Welt eine äußere Ursache zu. Sie stellen einen Zusammenhang zwischen unabhängigen Sachverhalten her, verneinen den Zufall und wollen das Schicksal durch Rituale und Formeln beeinflussen.

Rezeption kann als eine kognitive Herausforderung verstanden werden, die ein Individuum vor die Aufgabe stellt, neue Informationen über die Ereignisse in der Welt in sein bereits bestehendes mentales Modell der Realität einzubauen

Rezeption kann nun als eine kognitive Herausforderung verstanden werden, die ein Individuum vor die Aufgabe stellt, neue Informationen über die Ereignisse in der Welt in sein bereits bestehendes mentales Modell der Realität einzubauen. Wenn alle Strukturebenen der Informationsverarbeitung funktional integriert sind, kommt einem Individuum das Vermögen zu, in seinem Bewusstsein ein stimmiges mentales Modell der Realität zu konstituieren, aufrechtzuerhalten, bei Bedarf zu modifizieren und sein Handeln danach auszurichten. Wenn es einem Individuum jedoch nicht (mehr) gelingt, neue Informationen sinnvoll auf einer höheren Strukturebene der Informationsverarbeitung zu integrieren, erfolgt diese Integration, wenn überhaupt, auf einer entwicklungsgeschichtlich tieferen Ebene.[11] An diesem Punkt setzt Desinformation an, indem sie Regressionstrigger aktiviert.

Desinformationskampagnen

Unter Regressionstriggern sind Stimuli zu verstehen, die den Übergang von einer rational ausgerichteten Strukturebene der Informationsverarbeitung auf eine Strukturebene, die insbesondere nichtrationale Komponenten umfasst, in die Wege leiten. Trigger für solche Übergänge sind die von Emotionen ausgelöste Angst, das Ressentiment und eine latent bestehende Verschwörungsmentalität.[12] Sie entfalten ihre Wirkung sowohl bei Einzelindividuen als auch innerhalb von Gruppen Gleichgesinnter. Damit ist auch die formale Konstitutionsregel für nichtrationale mentale Modelle der Realität beschrieben: Die regressive Informationsverarbeitung stellt die Methode zur Verfügung, die Desinformation liefert den Stoff.

Emotionen werden durch die Wahrnehmung einer Person, eines Ereignisses, einer Situation oder einer Information hervorgerufen und sind daher auf diese Wahrnehmung bezogen: Man ärgert sich über jemanden, man ist stolz auf sich, man freut sich über etwas und man fürchtet sich vor einer Spinne oder vor einer schlechten Nachricht. Emotionen unterscheiden sich nach Qualität und Intensität. Jede Emotion umfasst eine physiologische, eine kognitive und eine konative Komponente.[13] Unter der physiologischen Komponente sind vegetative Reaktionen und zentralnervöse Prozesse zu verstehen. Ein zentralnervöser Prozess, der im Rahmen der Nachrichtenrezeption eine wichtige Rolle spielt, ist die Aktivierung der Amygdala, eines Teils des limbischen Systems, das für die Bewertung einlaufender Informationen zuständig ist. Mit der Aktivierung der Amygdala erfolgt der Übergang von der physiologischen zur kognitiven Komponente der Emotion. Dies führt dazu, dass eine rezipierte Information als gut oder als schlecht, als harmlos oder als bedrohlich beurteilt wird. Aus dieser Beurteilung resultiert eine Erlebenskomponente, das heißt ein subjektives Gefühl, das Einfluss auf das mentale Modell der Realität des Rezipienten und in der Folge auf sein Verhalten hat. Emotionen haben daher ein hohes Potenzial, zur Konstitution nichtrationaler mentaler Modelle der Welt beizutragen.

Eine Emotion, die im Rahmen von Desinformationskampagnen sehr häufig adressiert wird, ist Angst

Eine Emotion, die im Rahmen von Desinformationskampagnen sehr häufig adressiert wird, ist Angst. Im Gegensatz zur Furcht, die auf ein konkretes Objekt gerichtet ist und zusammen mit diesem Objekt auch wieder verschwindet, entwickelt sich Angst häufig aus dem Gefühl der Ungewissheit oder einer diffusen Bedrohung, die vom betroffenen Individuum nicht durchschaut und auch nicht begrifflich gefasst werden kann. Dieses Gefühl kann durch verstörende sozioökonomische Entwicklungen ausgelöst werden, mit denen sich ein Individuum konfrontiert sieht, oder dann, wenn ein Rezipient die durch Desinformation verbreiteten Lügen im Nachrichtengewand (Fake News) zu den apokalyptischen Generalthemen Krieg, Hunger, Krankheit und Tod zu einer dystopisch-eschatologischen Erzählung vom Untergang der Welt zusammensetzt. Die Folge ist ein Phänomen, das als Thomas-Theorem beschrieben wird: „If men define situations as real, they are real in their consequences.“ Aktuelle Beispiele für nichtrationale mentale Modelle der Realität, die tödliche Konsequenzen nach sich ziehen können, finden sich bei "Reichsbürgern", Rechtsradikalen und Anhängern von Verschwörungserzählungen.

Fake News als Bestandteil von Desinformation werden insbesondere auch dann geglaubt, wenn sie dazu beitragen, ein bestehendes Ressentiment[14] zu schüren oder kognitive Dissonanz zu reduzieren. Ressentiments als negative Affekte entstehen als Reaktion auf Kränkungen. Amlinger und Nachtwey rekonstruieren diesen Affekt als spezifisch für unsere „regressive Moderne“, in der Freiheitsmöglichkeiten gleichzeitig wachsen wie auch eingeschränkt werden.[15]

Dieser allgemeine Zusammenhang kann mit konkreten Inhalten versehen und angesichts aktueller Ereignisse wie folgt reformuliert werden: Russische Propaganda in der Form von Fake News wird geglaubt, weil sie dazu beiträgt, ein bestehendes Ressentiment gegen das westliche Gesellschaftsmodell und seinen progressiven Normwandel zu schüren und kognitive Dissonanz zu reduzieren. Kognitive Dissonanz, die dadurch entsteht, dass in vielen westlichen Medien von einem Verhalten der russischen Führung berichtet wird, das mit dem positiven Bild, das man sich von ihr in all den Jahren vor dem Überfall auf die Ukraine gemacht hat, nicht übereinstimmt. Dazu mag kommen, dass das Gefühl der Ohnmacht gegenüber einer pluralistischen demokratischen Gesellschaft, die durch Gleichberechtigung, Toleranz und Pressefreiheit ausgezeichnet ist, zu einer autoritären Regression und zum Wunsch nach strengen Regeln führt in der Hoffnung, dass sich aus dem Chaos der pluralistischen Welt Ordnung entfalten möge.

Urheber von Desinformationskampagnen versuchen darüber hinaus, zu Verschwörungsmentalität neigende Gruppen innerhalb der angegriffenen Gemeinschaft in ihrem nichtrationalen mentalen Modell zu bestärken und sie aus dem Wertekonsens ihrer Gemeinschaft herauszulösen. Verschwörungsmentalität wiederum ist gekennzeichnet durch Regression von der reflexiv-diskursiven auf die ideologische Strukturebene der Informationsverarbeitung, die bis auf die mythische Ebene hinabreicht. Sie richtet sich ihrerseits gegen Minderheiten in der eigenen Gesellschaft, die als fremd, bösartig und mit übernatürlichen Kräften ausgestattet wahrgenommen werden. Ihre Absichten und Pläne seien auf die Zerrüttung der Gemeinschaft, in der sie Gast sind, ausgerichtet und ihr Fernziel sei die Etablierung einer Weltherrschaft. Deshalb müssten sie mit allen Mitteln bekämpft werden.

Desinformationsresilienz und Medienkompetenz

Nicht ohne Grund kann der aktuellen Berichterstattung über die Themen Spionage, Sabotage, Cyberangriffe, Terroranschläge, bewaffnete Konflikte und Kriege insbesondere im Internet und in den Social Media ein hoher Anteil an Desinformation unterstellt werden. Damit steht die Frage im Raum, wie dieser Herausforderung der Vernunft und dem durch sie verursachten Rückzug vieler Individuen einer angegriffenen Gesellschaft in eine nichtrationale phänomenale Welt begegnet werden kann. Vollständiger Verzicht auf die Kenntnisnahme neuer Informationen wird nicht möglich sein, dagegen sprechen die Medienpraxis und die Neigung des Menschen, an den Angelegenheiten der Welt teilzuhaben. So lautet denn die Antwort: Aufbau und Ausweitung von Desinformationsresilienz im Sinne einer individuell realisierten Immunität gegenüber mental-kognitiven Regressionstriggern. Angezielt ist damit die kompetenzförmige Erhöhung der „Bereitschaft, sich auf Wahrheitsfragen in einer rationalen Form einzulassen“[16].

Desinformationsresilienz immunisiert, wie eingangs erwähnt, gegen die intendierten schädlichen Wirkungen von Desinformationskampagnen. Sie baut dabei auf die Bewusstmachung der kognitiven Prozesse, die durch Erzeugung von Angst, Ungewissheit und Ressentiments die Regression fördern. Dazu steht ihr neben der Aufklärung über die historischen Hintergründe der „üblichen Verdächtigen“, die gemeinhin als die Strippenzieher vermeintlicher Verschwörungen genannt werden, als wichtigste Strategie die Vermittlung von Medienkompetenz zur Verfügung.

Medienkompetenz ist das Vermögen eines Individuums, aus der Vielfalt der täglich auf uns einströmenden Informationen ein nicht defizientes mentales Modell der Realität zu konstituieren. Dies wurde bereits im Kontext des in den 2000er-Jahren diskutierten Begriffs der Wissensgesellschaft medienethisch eingefordert[17] und ist heute erneut bedeutsam im Kontext vermehrter Unsicherheit (Corona …) darüber, was als wahres Wissen gelten kann und soll. Ein nicht defizientes mentales Modell ist der Struktur der Realität kongruent und kann daher über einen langen Zeitraum hinweg korrigierbar und damit auch konsistent gehalten werden. Zur Aufrechterhaltung eines solchen mentalen Modells bedarf es des Rückgriffs auf die reflexiv-diskursive Strukturebene der zerebralen Informationsverarbeitung.

Medienkompetenz umfasst darüber hinaus das Vermögen, Sprachspiele und visuelle Elemente zu erkennen, die ebenfalls darauf ausgerichtet sind, Ungewissheit und Angst zu erzeugen und zu befördern. Sie konstatiert, dass es Quellen gibt, die nicht der Wahrheit verpflichtet sind, und trägt dazu bei, die Sensibilität der Rezipienten gegenüber den Methoden der Desinformation und den Methoden zur Abwehr ihrer Wirkung zu fördern. Medienkompetenz ist somit eine kognitive Leistung zur Aufrechterhaltung eines rationalen mentalen Modells der Realität in der Weise, dass auch die Rationalität der Entscheidungen eines Individuums in zunehmendem Maß von seiner Medienkompetenz abhängt. Und nicht zuletzt ist sie auch dadurch gekennzeichnet, dass sich Rezipienten möglicher Wahrnehmungsfehler und kognitiver Verzerrungen[18] bewusst werden und dies bei ihrer Urteilsbildung berücksichtigen. Denn auch Wahrnehmungsfehler und kognitive Verzerrungen können der Ausbildung nichtrationaler mentaler Modelle der Welt Vorschub leisten.

Bildungsprozesse

Medienkompetenz muss also darauf ausgerichtet sein, einer Informationsverarbeitung entgegenzuwirken, die nichtrationale mentale Modelle der Realität konstituiert. Die wichtigste Strategie dieses Prozesses ist die Aneignung von Wissen. Individuen sind stolz darauf, sich eigenes Wissen zu erarbeiten. Dies sollte bei der Gestaltung von Bildungsprozessen berücksichtigt werden. Es geht dabei nicht darum, Individuen einfach mit Gegenwissen zu bestehenden nichtrationalen Weltmodellen zu konfrontieren und sie aufzufordern, nun dieses Gegenwissen zu glauben. Dieses Vorgehen wäre selbst nicht rational. Vielmehr geht es darum, Rezipienten dazu zu befähigen, durch eigenes Nachdenken den Schluss zu ziehen, dass die Inhalte nichtrationaler Weltmodelle in vielen Fällen kontrafaktisch und nicht plausibel sind.

Es geht nicht darum, Individuen einfach mit Gegenwissen zu bestehenden nichtrationalen Weltmodellen zu konfrontieren und sie aufzufordern, nun dieses Gegenwissen zu glauben

Medienkompetenz umfasst auch das Vermögen, auf konsistentes Wissen zurückzugreifen und begründete Urteile fällen zu können, ohne auf die Algorithmen von Google et al. angewiesen zu sein. Medienbildung muss daher vermitteln, warum es trotz Wikipedia und Alexa dennoch wichtig ist, Faktenwissen direkt aus dem Gedächtnis abrufen zu können, und dass es relevant ist, aus welchen Quellen man sein Wissen schöpft. Denn Mediennutzer überführen die Details neuer Nachrichten schon während der Rezeption in allgemeine semantische Kategorien und ziehen zur Urteilsfindung solche Informationen heran, die ihnen zum Zeitpunkt des Urteils zur Verfügung stehen.[19] Diese Informationen rufen sie aus ihrem gespeicherten Wissenskorpus ab. Die Urteilsbildung erfolgt also noch vor dem beinahe schon reflexartigen Griff zum Smartphone. Umgekehrt bedeutet dies aber auch, dass falsche Informationen, die bezüglich eines zu beurteilenden Sachverhalts aus dem Gedächtnis abgerufen werden, zu Urteilen führen können, die dem Sachverhalt nicht angemessen sind. Erforderlich ist daher neben der Hinterfragung der Plausibilität neuer Information ihre Verifizierung anhand von Quellen- und Faktenchecks. Formales Wissen und formale Bildung schützen einen Rezipienten nur dann zuverlässig vor nichtrationalen mentalen Weltmodellen, wenn er bereit ist, sein Wissen fortlaufend der Überprüfung durch die soziale, wirtschaftliche und politische Realität zu unterziehen.

Medienkompetenz verweist auf eine verantwortungsvolle Medienrezeption.[20] Sie anerkennt, dass einem Rezipienten mit der Wahl seiner Quelle Verantwortung für diese Wahl und damit Verantwortung für das zufließt, worüber er sich unterrichtet. Daraus folgt, dass er auch Verantwortung für das mentale Modell der Realität trägt, das sich infolge seiner Rezeption in seinem Bewusstsein entfaltet. In diesem Rezeptionsprozess hat die Qualität des durch die Quelle vermittelten Wissens Einfluss auf die Rationalität des sich ausbildenden mentalen Modells des Rezipienten. So wird es beispielsweise kaum möglich sein, aus Fake News ein nicht defizientes mentales Modell der Realität zu konstituieren. Aus medienethischer Perspektive sind daher alle Rezipienten gehalten, sich ihrer Verantwortung im Rahmen ihrer Mediennutzung bewusst zu werden. Sie sind aufgefordert, sich nach bestem Vermögen von der Wahrheit ihrer Informationen, der Wahrhaftigkeit ihrer Informanten sowie der Seriosität ihrer Quellen zu überzeugen und keine Lügen, Fake News oder Bullshit zu verbreiten, da dies ethisch nicht zu rechtfertigen ist. In diesem Zusammenhang ist insbesondere zu berücksichtigen, dass Desinformation, die einmal viral gegangen ist, in der Regel nicht mehr eingefangen werden kann.

Desinformationsresilienz als Grundlage der offenen Gesellschaft

Mit dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine ist auch die Verbreitung von Desinformation im Internet und in den Foren und Chatrooms der Social Media sprunghaft angestiegen. Angesichts dieser Entwicklung, die sich insbesondere gegen die offenen Gesellschaften des Westens richtet, und der möglichen Folgen, die sich aus dem Verhalten derer ergeben, die ihren Kampagnen erliegen, steht die Frage im Raum, wie diesem Angriff auf die pluralistische und demokratische Gesellschaftsverfassung begegnet werden kann.

Hier kann die Medienethik mit normativen Aussagen Einfluss auf die Medienrezeption nehmen, indem sie mit Verweis auf die Ursachen nichtrationaler Konstruktion menschlicher Handlungsorientierung Vorschläge zur Neutralisierung von Regressionstriggern macht. Denn nur wenn es gelingt, Desinformationskampagnen entgegenzuwirken, kann eine weitere Verbreitung nichtrationaler mentaler Modelle der Realität und ihrer Folgen unterbunden werden. So kann denn die Antwort der pluralistischen und demokratischen Zivilgesellschaft auf die Herausforderung der Vernunft prinzipiell auf drei Ebenen erfolgen:

  • Auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene durch Maßnahmen zur Unterbindung oder zumindest zur Zurückdrängung verstörender sozioökonomischer Entwicklungen, die Angst erzeugen und Verschwörungsmentalität fördern.
  • Auf der Medienebene durch Offenlegung der Quellen, Forderung nach Medientransparenz, Debunking sowie Strafverfolgung im Falle der Verbreitung von Fake News, Hate Speech und Verschwörungserzählungen, sei es durch ihre unmittelbare Kompilation oder sei es durch Bereitstellung der Distributionskanäle zu ihrer Verbreitung.
  • Auf der in diesem Text betrachteten phänomenalen Ebene der Einzelindividuen durch Vermittlung von Medienkompetenz in allen Bildungseinrichtungen.

Mangelnde Medienkompetenz eines Individuums setzt es dem erhöhten Risiko aus, Opfer einer Desinformationskampagne zu werden

Angesichts des heutigen Standes der digitalen Kommunikationsmittel zählt Medienkompetenz ebenso wie Lesen, Schreiben und Rechnen zu den grundlegenden Kulturtechniken unserer Gesellschaft. Mangelnde Medienkompetenz eines Individuums setzt es dem erhöhten Risiko aus, Opfer einer Desinformationskampagne zu werden. Da durch Desinformation die offene Gesellschaft insgesamt angegriffen wird, muss Medienkompetenz in den Bildungseinrichtungen schon früh eingeübt und gefördert werden. Um diese Strategie erfolgreich verfolgen zu können – die aktuelle Entwicklung lässt vermuten, das Desinformationskampagnen in naher Zukunft eher ausgebaut denn zurückgefahren werden –, bedarf es neben langfristig angelegten Maßnahmen auch ausreichender materieller und personeller Ressourcen. Und dies „bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.“[21] Das Nähere, so könnte man hier anfügen, regelt die Kultusministerkonferenz.

Die zu treffenden Entscheidungen, dies sei noch ergänzt, sollten sich nicht der Erkenntnis verweigern, dass Prophylaxe in der Regel geringere Kosten verursacht als die Reparatur politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und im Extremfall militärischer Schäden, die durch das Wirken von Desinformation in einem angegriffenen Gemeinwesen entstehen. Einer erfolgreichen Prophylaxe folgt jedoch wie ein Schatten das Präventionsparadoxon. Es äußert sich darin, dass der Erfolg der Prophylaxe nicht gemessen werden kann, da bei erfolgreicher Vorbeugung keine Schäden eintreten. Daraus wird gefolgert, dass eine weitere Prophylaxe nicht mehr nötig sei. Dieser Fehlschluss sollte allerdings nach Möglichkeit vermieden werden.

Fazit

Es zeigt sich, dass sich ein nicht geringer Teil der aktuellen Medienkommunikation im Spannungsfeld von Desinformationskampagnen und deren Abwehr durch Desinformationsresilienz abspielt. Diese beiden Strategien können wie folgt zusammengefasst und gegenübergestellt werden.

Desinformationskampagnen sind rational organisiert. Um an ihr destruktives Ziel, die Unterminierung und Destabilisierung eines als feindlich deklarierten Gemeinwesens, zu gelangen, appellieren sie an die irrationalen Ängste, Ressentiments und latent ausgeprägten Verschwörungsmentalitäten der Individuen dieses Gemeinwesens. Dies geschieht zu dem Zweck, sie zur Konstitution eines nichtrationalen mentalen Modells der Realität und in dessen Folge zu Handlungen zu bewegen, die ihrer eigene Gemeinschaft zum Schaden gereichen. Somit steht Rationalität gegen Nichtrationalität.

Desinformationsresilienz hingegen versucht, genau dies zu verhindern, indem sie mit einem ebenfalls rationalen Ansatz die Wirkungsweise von Regressionstriggern aufklärt und Methoden zu ihrer Neutralisierung bereitstellt. Die Mittel dazu liefern ihr umfangreiche Forschungsergebnisse der Psychologie und der Sozialpsychologie, die in zahlreichen Studien ausführlich beschrieben werden. Ihre Vermittlung in allen Bildungsbereichen leistet einen wichtigen Beitrag zum Aufbau und zur Erweiterung der Rezeptionskompetenz von Mediennutzern. Denn die kompetente Anwendung dieser Methoden vertreibt das Gefühl einer diffusen Bedrohung, wendet sich gegen die Verschwörungsmentalität, indem sie das Misstrauen gegenüber anderen Menschen verringert, erhöht das Vertrauen in die pluralistische Gesellschaft und ihre demokratischen Institutionen, führt aus der Unmündigkeit und eröffnet dem Denken neue Horizonte.

 

[1] Luhmann, Niklas (2017): Die Realität der Massenmedien. Berlin.

[2] European Commission (2018): Final report of the High Level Expert Group on Fake News and Online Disinformation (Übers. d. Verf.). https://digital-strategy.ec.europa.eu/en/library/final-report-high-level-expert-group-fake-news-and-online-disinformation (Stand aller Internetquellen: 16.5.2023).

[3] Vgl. Schicha, Christian, Stapf, Ingrid und Sell, Saskia (Hg.) (2021): Medien und Wahrheit. Baden-Baden; Ulrich, Christine und Filipović, Alexander (2021): Die Wahrheit der Medien. Der Wirklichkeitsbezug in medienethischer Perspektive. In: Bründl, Jürgen, Schmitt, Alexander und Lindner, Konstantin (Hg.): Zählt Wahrheit heute noch? Theologische und interdisziplinäre Sondierungen in postfaktischer Zeit. Bamberg, S. 421–454.

[4] vgl. Heil, Karl Moritz (2021): Kollektive Strategien zur Abwehr digitaler Desinformation. Resilienz und Abschreckung bei EU und NATO. München, S. 35 ff.

[5] Siehe hierzu Moser, Karin S. (2003): Mentale Modelle und ihre Bedeutung. Kognitionspsychologische Grundlagen des (Miss-)Verstehens. In: Schriften zur Symbolforschung, Vol. 13. Bern, S. 181 ff.

[6] Siehe hierzu Ruhrmann, Georg et al. (2003): Der Wert von Nachrichten im deutschen Fernsehen. Ein Modell zur Validierung von Nachrichtenfaktoren. Wiesbaden, S. 215.

[7] Löber, Lena Isabell und Roßnagel, Alexander (2020): Desinformation aus der Perspektive des Rechts. In: Steinebach, Martin et al. (Hg.): Desinformation aufdecken und bekämpfen. Baden-Baden, S. 149 ff.

[8] Heil, Karl Moritz (2021), s. Endnote 4, S. 51 f.

[9] Bühl, Walter L. (1984): Die Ordnung des Wissens. Berlin.

[10] Siehe hierzu Bühl, Walter L. (1984), siehe Endnote 9, S. 20–43.

[11] Bühl, Walter L. (1984), siehe Endnote 9, S. 43 ff.

[12] Moscovici, Serge (1987): The Conspiracy Mentality. In Graumann, C. F. und Moscovici, S. (Hg.): Changing Conceptions of Conspiracy. New York, S. 151–169.

[13] Siehe hierzu Haußecker, Nicole (2013): Terrorismusberichterstattung in Fernsehnachrichten: visuelles Framing und emotionale Reaktionen. Baden-Baden, S. 77 ff.

[14] Siehe hierzu Müller, Robert (2019): Ressentiment und Faschismus. In: weiter denken. Journal für Philosophie online. https://weiter-denken-journal.de/herbst_2019_faschistische_versuchungen/Ressentiment_und_Faschismus.php.

[15] Amlinger, Carolin und Nachtwey, Oliver (2022): Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus. Originalausgabe. Berlin.

[16] Dietz, Simone (2021): Wahrheit in der digitalen Kulturindustrie. In: Schicha, Christian, Stapf, Ingrid und Sell, Saskia (Hg.): Medien und Wahrheit. Baden-Baden, S. 43–58. https://doi.org/10.5771/9783748923190,
S. 54.

[17] Filipović, Alexander (2007): Öffentliche Kommunikation in der Wissensgesellschaft. Sozialethische Analysen. Bielefeld.

[18] Siehe hierzu Heil, Karl Moritz (2021), siehe Endnote 4, S. 25 ff.

[19] Siehe hierzu Brosius, Hans-Bernd (1995): Alltagsrationalität in der Nachrichtenrezption. Ein Modell zur Wahrnehmung und Verarbeitung von Nachrichteninhalten. Wiesbaden, S. 127 ff.

[20] Siehe hierzu Funiok, Rüdiger (2007): Medienethik. Stuttgart, S. 155 ff.

[21] Weber, Max (1919): Politik als Beruf. In: ders: Geistige Arbeit als Beruf. Vier Vorträge vor dem Freistudentischen Bund. Zweiter Vortrag. Leipzig, S. 66.

Zusammenfassung

André Schülke

André Schülke ist Doktorand bei Prof. Alexander Filipović. Die Publikation seiner Dissertation zur Sozialpsychologie nichtrationaler Weltbilder befindet sich in Vorbereitung.  

Alexander Filipović

Prof. Dr. Alexander Filipović, geboren 1975, ist Sozialethiker mit dem Schwerpunkt Medienethik, Technikethik (Digitale Ethik), Politische Ethik und Philosophischer Pragmatismus. Nach dem Studium der Katholischen Theologie, Kommunikationswissenschaft und Germanistik promovierte er 2006 in Bamberg und habilitierte 20212 an der Universität Münster zu Grundlagenfragen Christlicher Sozialethik in Auseinandersetzung mit dem Philosophischen Pragmatismus. Bis Januar 2021 war er Professor für Medienethik an der Hochschule für Philosophie in München. Er ist Fellow am zem::dg – Zentrum für Ethik der Medien und der digitalen Gesellschaft, betreibt den Blog www.unbeliebigkeitsraum.de und gibt die medienethische Zeitschrift „Communicatio Socialis“ mit heraus.


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