Kontroversen in Militärethik und Sicherheitspolitik
Warten auf Harmagedon: Theologische und ethische Aspekte der nuklearen Abschreckung
Kernwaffen haben seit ihrer Erfindung den Beiklang des Endzeitlichen, das eine religiöse Sprache erfordert, um dem Ausmaß ihrer Bedeutung für die Menschheit Ausdruck zu verleihen.1 Nach der Detonation der ersten Atombombe auf dem Trinity-Gelände im Juli 1945 rezitierte Robert Oppenheimer die Worte Krishnas aus der Bhagavad Gita: „Jetzt bin ich zum Tod geworden, der Zerstörer der Welten.“ Oppenheimer erkannte die unterschwellig religiöse Dimension des Manhattan-Projekts: das Atom, wahrgenommen als das erste Aufblitzen der Schöpfung und zugleich als explosives Instrument ihrer Vernichtung.
Als General Leslie Groves nachfragte, warum Oppenheimer den atomaren Test Trinity (Dreifaltigkeit) genannt habe, antwortete der Physiker: „Ich sage Ihnen gern, welche Gedanken mir durch den Kopf gingen. Es gibt ein Gedicht von John Donne, geschrieben kurz vor seinem Tod, das mir viel bedeutet. (…)
So, wie Ost und West Auf allen Landkarten – und auch ich bin eine – zusammenfallen, So berührt der Tod die Auferstehung.“
Oppenheimer fuhr fort: „So wird zwar noch keine Dreifaltigkeit daraus. Es gibt jedoch ein anderes, bekannteres Andachtsgedicht, das Donne mit folgenden Worten anstimmt: Zerschlage mein Herz, dreifaltiger Gott.“2
Das erste Zitat aus Donnes Hymne an Gott in meiner Krankheit meditiert über das Sterben als Weg zur Auferstehung. Im zweiten Gedicht, Zerschlage mein Herz, dreifaltiger Gott, betet der Dichter dafür, von allem befreit zu werden, was ihn davon abhält, sich Gott hinzugeben. Ob Oppenheimer unbewusst an die eigene Befreiung von den Folgen seiner Forschungsergebnisse dachte oder Schuldgefühle angesichts des Baus der Bombe äußern wollte, können wir nur vermuten. In jedem Fall scheint er sich der religiösen Tragweite des Tests bewusst gewesen zu sein.
Die Theologie der nuklearen Abschreckung
Die Theologie ist die Sprache, in der wir die religiösen Dimensionen unserer Erfahrung zum Ausdruck bringen. Sowohl Theologen als auch Prediger und religiöse Aktivisten berufen sich auf Bilder aus der Bibel, um ihren Standpunkt hinsichtlich der Abschreckung zu untermauern.3 Betrachten wir drei bildhafte Motive der hebräischen und christlichen Schriften, die im Zusammenhang mit Kernwaffen oft genannt werden: Babel (Mose 11: 1-32), Harmagedon (Offb 16:16), das Reich Gottes (Mt 5:9, 44).
Babel ist eine Geschichte über den Bau einer „irdischen Stadt“, wie Augustinus später schrieb, „zu Gottes Abscheu“.4 Der Politologe Michael Oakeshott betrachtet Babel als ein Lehrbeispiel für menschliches Streben5, das uns die Hybris aller technologischen Errungenschaften ins Bewusstsein ruft. Babel wird somit zur treffenden Metapher für den Bau der Atombombe. Der französische Calvinist Jacques Ellul wiederum sieht in der Kernenergie ein starres, unumkehrbares System, das sich jeglicher Reform widersetzt.6
Im Gegensatz dazu vertritt die katholische Soziallehre die Auffassung, die Technologie bedürfe einer bewussten menschlichen Steuerung (Papst Franziskus (2015): Laudato Si’, Nr. 52, 114 und 184; im Folgenden LS). „Nie hatte die Menschheit so viel Macht über sich selbst, schrieb Papst Franziskus, „und nichts kann garantieren, dass sie diese gut gebrauchen wird“ (LS, Nr. 104). Die Verantwortung des Menschen für die Natur, einschließlich der Nutzung der Kernenergie, ist eines der Themen von Franziskus’ Enzyklika Laudato Si’. (LS, Nr. 104, und Papst Benedikt XVI. (2009), Caritas in veritate, Nr. 68-77). Papst Franziskus’ Appell an die menschliche Verantwortung wendet die Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils über die genauere Erfüllung der Gewissenspflicht in der Geschichte an (Zweites Vatikanisches Konzil, Gaudium et spes, Nr. 9 und 16).
Harmagedon steht für die letzte Schlacht am Ende der Geschichte, in der die Feinde Gottes vollkommen vernichtet werden.7 Die Vorstellung einer apokalyptischen Zerstörung fasziniert biblische Fundamentalisten und Leser dystopischer Belletristik gleichermaßen. In der theologischen Lehre des Dispensationalismus sehnen sich die Rechtschaffenen nach dem Ende der Geschichte, und so mancher Fundamentalist mag den Atomkrieg sogar wohlwollend als einen Akt der göttlichen Vergeltung betrachten. Und selbst Kernenergiegegner legen Harmagedon in ihrem Sinn aus. Sowohl liberale Christen als auch säkulare Kritiker berufen sich auf die mit Harmagedon verbundene unvorstellbare Zerstörung und lenken so die Aufmerksamkeit auf die katastrophalen Risiken der atomaren Abschreckung.8
Das Reich Gottes zeichnet das Bild einer immerwährenden Herrschaft der Gerechtigkeit und des Friedens. Es bietet Christen verschiedener Strömungen eine Vision, sowohl den Pazifisten, die jegliche Beteiligung an Kriegshandlungen verweigern, als auch den Melioristen, die die menschliche Existenz zu verändern hoffen, indem sie „eine Welt ohne Krieg“ bzw. eine Welt mit einer weit geringeren Kriegsgefahr schaffen. Christliche Pazifisten verurteilen Atomwaffen generell und drängen auf das Vertrauen in Gott. Zu ihnen gehörten der Mönch und geistliche Schriftsteller Thomas Merton sowie der Historiker und Aktivist für Gewaltlosigkeit Gordon Zahn.9 Den überzeugten Pazifisten zufolge ist das Reich Gottes bereits gekommen, und es ist unsere Pflicht, Gottes Wille zu folgen und gewaltfrei zu leben.10
Andere, wie etwa die katholischen Bischöfe der USA in ihrem Hirtenbrief The Challenge of Peace (Die Herausforderung des Friedens) von 1983, bringen den Glauben zum Ausdruck, das Königreich sei zwar bereits gekommen, jedoch noch nicht in seiner gesamten Fülle verwirklicht. Die Unvollständigkeit des Königreichs erlaubt eine komplexe moralische Haltung, die sowohl die Lehre von der Gewaltlosigkeit als auch die des gerechten Kriegs mit einschließt. Dementsprechend lässt die differenzierte Haltung der Bischöfe zum gerechten Krieg gerade genug Zweideutigkeit zu, um die nukleare Abschreckung glaubwürdig erscheinen zu lassen.
Religiöse Grundhaltungen
Die tiefer verwurzelten menschlichen Haltungen und Veranlagungen gehen oft auf singuläre Erfahrungen zurück, die die Grundlage für den Umgang der Menschen mit dem eigenen Leben bilden. Die Beziehung zwischen Symbolen und religiösen Neigungen entfaltet hierbei eine gegenseitige Wirkung.11 Symbole können religiöse Haltungen erzeugen. Andererseits können diese Haltungen auch die Deutung bestimmter Metaphern verändern oder ihre Interpretation beeinflussen. Symbole können etwa Zuneigung, Vorsicht oder Vertrauen hervorrufen. Die Zuneigung wiederum kann dazu führen, dass ein bestimmtes Symbol auf eine bestimmte Art und Weise konstruiert wird und dass sich daran festmacht, ob ein nukleares Harmagedon eher als Ausdruck göttlicher Vergeltung oder als Motiv für die Abschaffung von Atomwaffen gesehen wird.
Betrachten wir folgendes Beispiel. Auch wenn Augustinus als Vater der christlichen Lehre vom gerechten Krieg gilt, führte ihn das überwältigende Gefühl der Unsicherheit aller menschlichen Existenz irgendwann dazu, über der Frage der moralischen Entscheidung in Kriegszeiten zu verzweifeln, sodass er sich schließlich den unergründlichen Wegen Gottes überließ:
„... da das gesamte sterbliche Leben des Menschen auf der Erde eine Prüfung ist, wer vermag zu sagen, ob es in einem bestimmten Fall richtig oder falsch sei – in Friedenszeiten zu regieren oder zu dienen, oder sich in Ruhe zu wähnen oder zu sterben – oder aber, in Kriegszeiten, zu befehlen oder zu kämpfen, oder (den Feind) zu erobern oder zu töten? Gleichzeitig bleibt es wahr, dass alles Gute durch den göttlichen Segen gut und alles Schlechte durch göttliches Gericht schlecht ist.“12
Augustinus beruft sich hier auf das Bild eines fernen, souveränen Gottes, der Segen und Urteil nicht nach einem Maß, sondern lediglich nach eigenem Gutdünken ausspricht. Seine starke Ängstlichkeit und Verunsicherung finden ihren Ausdruck im Bild eines allmächtigen Gottes, welches er auf die Erfahrung des Krieges überträgt. Kein Hinweis auf Gottes Güte oder Vorsehung, wie sie moderne Interpretationen der menschlichen Endlichkeit enthalten.13 Die Ereignisse entziehen sich der Kontrolle des Menschen. Von diesem Gefühl getrieben, wird Augustinus’ Wille gelähmt, und sein Verstand setzt aus. Er ist unfähig, moralische Urteile zu fällen, wie sie der gerechte Krieg verlangt. Daher ist zusätzlich zu den herkömmlichen Elementen des rationalen Denkens, die ich weiter oben aufzähle (rationale Argumentation, Umstände), auch die religiöse Zuneigung zu betrachten, welche die Verwendung religiöser Symbolik beeinflusst.
Sowohl der Mönch Thomas Merton als auch der Jesuit Daniel Berrigan lehnten Atomwaffen ab, aber sie waren sich uneins in der Frage, wie man ihnen entgegentreten solle. Berrigan und die katholische Linke zeigten ihre Ablehnung der Ökonomie des Todes einfallsreich durch öffentliche Widerstandsbekundungen, in denen sie ihre Wut auf das Establishment auslebten. Sie sahen sich als rechtschaffene Propheten. Merton hingegen war der Auffassung, die Anhänger der Gewaltlosigkeit müssten ein größeres Unbehagen über ihren eigenen Zorn zeigen und ihr Vertrauen in Gott setzen. „Der Schlüssel zur Gewaltlosigkeit“, schrieb er, „ist die Bereitschaft des gewaltlosen Widerstandskämpfers, ein gewisses Maß an zufälligem Übel zu erleiden, um einen Sinneswandel beim Unterdrücker herbeizuführen und dessen Bereitschaft zu persönlicher Offenheit und zum Dialog zu erwecken.“14 Eine wahrhaft gewaltfreie Antwort, so argumentierte er, „verlangt nicht nachdrücklich, dass Personen und Ereignisse ihren eigenen abstrakten Idealen entsprechen“, so wie es die katholische Linke vertrat.15
Die Ethik der Abschreckung
Schon vor dem Trinity-Test haben sich ethische Debatten an der Atombombe entzündet. Leo Szilard leitete einigen Wissenschaftlern in den Labors des Manhattan-Projekts einen Brief weiter, in dem er Präsident Roosevelt vor den Gefahren eines atomaren Wettrüstens warnte. Auch später sprach er immer wieder ähnliche Warnungen aus, doch sein Protest kam weder bei Präsident Roosevelt noch bei Präsident Truman je an. Sowohl vor als auch nach den Atombombenabwürfen auf Japan stritt Oppenheimer mit General Groves, Lewis Strauss von der Atomenergiekommission und dem Un-American Activities Committee (Ausschuss für unamerikanische Umtriebe) des Repräsentantenhauses über seinen Widerstand gegen die weitere Entwicklung der Bombe. Insbesondere ging es hier um Edward Tellers Forschung an einer „the Super“ genannten Wasserstoffbombe.
Die ethische Debatte vollzog sich im Gleichschritt mit dem technologischen Fortschritt und den Veränderungen der US-Regierungspolitik.16 Von Anfang an waren die Politiker uneins darüber, ob die Waffen überhaupt eingesetzt werden sollten. Bernard Brodie, dessen Werk The Absolute Weapon: Atomic Power and World Order die Grundlagen der Abschreckungstheorie legte, argumentierte, Atomwaffen dienten ausschließlich als Abschreckungsmaßnahme zur Verhinderung eines Krieges. Der Diplomat George Kennan vertrat die Auffassung, diese Waffen seien „bei unserer militärischen Grundhaltung überflüssig“. Beide waren der Ansicht, der einzige Zweck des Besitzes von Atomwaffen bestehe darin, ihren Einsatz zu verhindern.
Das Gleichgewicht des Schreckens
Die Abschreckungspolitik der Supermächte im Kalten Krieg wurde als „Mutually Assured Destruction“ (wechselseitig zugesicherte Zerstörung) oder MAD bekannt. Die Abschreckungswirkung beruht also auf der Furcht des potenziellen Angreifers, ein nuklearer Erstschlag werde bei einem Vergeltungsschlag des Gegners zu einem inakzeptablen Maß an Zerstörung führen. Die Strategen waren sich über den Umfang des für die Abschreckung benötigten Arsenals uneins. Einige plädierten für einen zahlenmäßigen Vorsprung, um die Überlebensfähigkeit der Nuklearstreitkräfte zu gewährleisten und eine größere Bedrohung für den Gegner darzustellen. Andere drängten darauf, die Arsenale sollten lediglich groß genug sein, um nach einem Präventivschlag Vergeltungsmaßnahmen ergreifen zu können. Die weitere Ausbreitung der Kernwaffen, so glaubten diese Strategen, hätten den genau entgegengesetzten Effekt, nämlich den, die nationale Sicherheit zu schwächen.
Strategische Denker wie Henry Kissinger, Paul Nitze und Herman Kahn vertraten die Ansicht, ein Atomkrieg könne in Fortsetzung eines konventionellen Kriegs geführt werden, wobei taktische Atomwaffen eine Eskalation unterhalb eines totalen Atomkriegs ermöglichen sollten. Die Frage der moralischen Legitimität taktischer Nuklearwaffen und einer nuklearen Kriegsführung rückte während der Carter-Administration (1977–81) in den Vordergrund; dies geschah vor dem Hintergrund der Debatte über die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa. Als US-Präsident Reagan während seiner ersten Amtszeit (1981–85) das Wettrüsten mit der Sowjetunion durch den „Star Wars“ genannten Raketenabwehrschirm erneut beschleunigte, wuchsen auch die moralischen Zweifel am System der Abschreckung. Indem die Regierung davon sprach, einen längeren Atomkriegs führen und „gewinnen“ zu können, verhalf sie der Anti-Atomkraft-Bewegung in den Achtzigerjahren zu großem Auftrieb.
Die Verteidigung der Grundwerte
Die Hardliner waren der Auffassung, taktische Kernwaffen stellten einen Kompromiss zwischen massiven nuklearen Vergeltungsmaßnahmen einerseits und der politischen Kapitulation andererseits dar. Als die liberale Demokratie und der Kommunismus sich im Kalten Krieg als unversöhnliche ideologische Blöcke gegenüberstanden, ging man davon aus, eine Niederlage hätte den inakzeptablen Verlust eines grundlegenden Wertes zur Folge, nämlich der politischen Freiheit. Michael Walzer, der führende Denker des 20. Jahrhunderts im Bereich des gerechten Krieges, merkte an: „Wir nahmen das Risiko eines Atomkrieges in Kauf, um das Risiko nicht einer gewöhnlichen, sondern einer totalitären Unterwerfung zu vermeiden.“17 Aufbauend auf der Lehre von Papst Pius XII. stellte der Jesuitentheologe John Courtney Murray fest:
„Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Pius XII. sich ausschließlich auf Kriege mit sogenannten konventionellen Waffen bezog, als er infolge des grausamen Weltgeschehens das traditionelle Prinzip der defensiven Kriegsführung bekräftigte. Ganz im Gegenteil: Der Papst weitete es explizit aus, nicht nur auf einen Krieg mit Kernwaffen, sondern auch auf ABC-Waffen.“18
In den folgenden Jahren vermieden es sogar einige Moralisten, die ansonsten strikt gegen die Politik der Abschreckung eingestellt waren, ihr Urteil konsequent umzusetzen – nicht nur weil grundlegende Werte auf dem Spiel standen, sondern auch weil die Gegenseite als unerbittlicher Feind erschien.19
Die katholischen Bischöfe der USA verurteilten zwar in The Challenge of Peace (1983), dem einflussreichsten Kommentar zu diesem Thema, die nukleare Kriegsführung und äußerten Skepsis gegenüber einem taktischen Atomkrieg, räumten jedoch ein, dass „die Verteidigung von Grundwerten auch bei geringen Erfolgschancen zuweilen ein ,angemessenes‘ Zeugnis sein kann“ (National Conference of Catholic Bishops: The Challenge of Peace: God’s Promise and Our Response, Nr. 98; im Folgenden CP20). In Abweichung von ihrer Grundsatzposition gestehen sie zu, ein begrenzter Atomkrieg könne geführt werden, um die „höchsten Werte“ eines Volkes zu verteidigen (CP, Nr. 220). Gleichermaßen lässt auch Michael Walzer, grundsätzlich kein Befürworter der Abschreckung, innerhalb eines engen Spielraums einen begrenzten Atomkrieg zu, insofern der „höchste Notstand“ das Überleben einer politischen oder religiösen Gemeinschaft bedrohe.21 Die Begründung der Position leitet sich für ihn aus der Rolle ab, welche die genannten Gemeinschaften als „die Quelle(n) unserer Identität und unseres Selbstverständnisses“ spielen.22
Die Abschreckung und der gerechte Krieg
Ethiker behandeln das Thema Grundwerte oft als eher marginale Fragestellung. Die Abschreckungsdebatte verweist in der Regel auf die Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und der Immunität der Zivilbevölkerung des ius in bello. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–65) verurteilt die katholische Kirche „jede Kriegshandlung, die auf die Vernichtung ganzer Städte oder weiter Gebiete und ihrer Bevölkerung unterschiedslos abstellt“ (GS, Nr. 80). Dieses Urteil erwächst aus dem Einsatz von Kernwaffen in Hiroshima und Nagasaki, aber auch aus den auf vollkommene Zerstörung ausgerichteten Flächenbombardements, dem sogenannten obliteration bombing im Zweiten Weltkrieg, einschließlich der Brandbombenangriffe auf Dresden und Hamburg (GS, Nr. 80).
Für einige Kritiker verbietet sich jeglicher Einsatz von Atomwaffen – auch zum Zweck der Abschreckung – aufgrund des Axioms, dass „es verboten ist, mit Verbotenem zu drohen“23. Ihrer Auffassung nach kommt Abschreckung der Beteiligung an einer Morddrohung gleich. In den letzten Jahren des Kalten Krieges konzentrierte sich ein Großteil der Debatte jedoch auf die Frage nach der zuverlässigen Unterscheidbarkeit ziviler und militärischer Ziele im Fall eines nuklearen Konflikts.
Doch wenn die nukleare Kriegsführung an sich verboten war, wie konnte man sich dann auf die Normen des ius in bello beziehen? Mit dem aufkommenden Thema der atomaren Kriegsführung verlagerte sich die politische Debatte während der ersten Amtszeit von US-Präsident Reagan auf die Frage, wie ein begrenzter Atomkrieg bis an die Schwelle der Mutually Assured Destruction geführt werden könne. Ethische Realisten wie Paul Ramsey traten dafür ein, eine verantwortungsbewusste Ethik müsse die Normen des gerechten Krieges auf diesen Ausnahmezustand anwenden.
Ramsey wollte die Abschreckung aufrechterhalten, unternahm allerdings einige fragwürdige Schritte auf dem Weg zu diesem Ziel. Er argumentierte, die Auswirkungen nuklearer Vergeltungsschläge könnten derartig begrenzt werden, dass sie hinnehmbare Auswirkungen für die Zivilbevölkerung zur Folge hätten.24 Doch eine wechselseitig zugesicherte Zerstörung kennt selbstverständlich keine derartige Unterscheidung, und die Vereinigten Staaten markierten in Wahrheit militärische Ziele inmitten dicht bevölkerter ziviler Ballungszentren. Sechzig „militärische Ziele“, vermerkt Michael Joseph Smith, „waren allein im Großraum Moskau identifiziert worden. Selbst ein Angriff auf relativ menschenleere Raketenstandorte im Landesinneren würde beispiellose Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung verursachen.“25
Der britische Philosoph G.E.M. Anscombe warf Ramsey vor, dies sei „Doppeldenk über den Doppeleffekt“ („Double Think About Double Effect“). Dieser bezieht sich auf die Moralvorstellung von einem gerechten Krieg, welche einen gezielten Angriff gegen das Militär des Feindes unter Inkaufnahme ziviler Kollateralschäden zulässt.26 Die US-Bischöfe kamen nach ihrer Abwägung der Argumente für einen begrenzten Atomkrieg zu folgendem Schluss: „Die Beweislast liegt bei denen, die behaupten, daß eine sinnvolle Begrenzung möglich sei“ (CP, Nr. 159).
Die Bischöfe selbst stellen drei Bedingungen für eine moralisch legitime nukleare Abschreckung:
Kernwaffen sind ausschließlich zum Zweck der Abschreckung zulässig;
Der Umfang der Atomwaffenarsenale bestimmt sich nach dem Prinzip des für die Abschreckung erforderlichen Maßes; sowie
Die Abschreckung stellt einen Schritt auf dem Weg zur fortschreitenden Abrüstung dar (CP, Nr. 188).
Dreißig Jahre lang blieb die bedingte Zustimmung der Bischöfe zur Abschreckung die bekannteste Meinungsäußerung der katholischen Lehre.
Die gegenwärtige Debatte
Die Skepsis gegenüber der moralischen Legitimität der Abschreckung hat zugenommen, da sie mittlerweile unter veränderten Rahmenbedingungen stattfindet.27 Bereits 2005 erklärten fünf Elder Statesmen und ehemalige Verfechter der US-Abschreckungspolitik unter der Wortführung des ehemaligen US-Verteidigungsministers George P. Shultz angesichts der veränderten geopolitischen Bedingungen nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ihre Abkehr vom Prinzip der Abschreckung und plädierten für die Abschaffung von Atomwaffen.28 Der einstige Ultrarealist Henry Kissinger erklärte: „Die Vereinigten Staaten können nicht sagen, kein anderes Land außer uns dürfe Atomwaffenarsenale aus- oder aufbauen, während wir weiterhin in vollem Umfang auf nukleare Waffen setzen.“29
Während des Kalten Krieges setzte das Konzept der Abschreckung eine bipolare Weltordnung voraus. Heute leben wir in einer multipolaren Welt mit neun nuklear bewaffneten Staaten, von denen vier (Israel, Indien, Pakistan und Nordkorea) außerhalb des Nichtverbreitungsvertrags stehen. Der Iran ist nach dem Rückzug der USA aus dem JCPOA (Gemeinsamer Umfassender Aktionsplan) wieder bereit, nukleare Kapazitäten aufzubauen, und es ist davon auszugehen, dass weitere Länder bereit sind, diesem Beispiel zu folgen. Eine zusätzliche Bedrohung geht von nuklear bewaffneten nicht staatlichen Akteuren wie Al-Kaida und dem Islamischen Staat aus. In den letzten Jahren haben laut der Nuclear Threat Initiative zudem neue Technologien sowie „unterschiedliche Interpretationen dahingehend, was die Stabilität beeinträchtigt und was eine Eskalation auslöst“, sich gegenseitig verstärkt und die ursprüngliche Abschreckungslogik zwischen den Supermächten untergraben.30
Im Jahr 2013 verlautbarte der Heilige Stuhl, die Abschreckung sei zu einem Deckmantel für das Scheitern der Abrüstung geworden.31 Seitdem hat der Vatikan einen ethischen und diplomatischen Ansatz entwickelt, mit dem er sich gegen die Fortsetzung der nuklearen Abschreckung als Element der globalen Sicherheit ausspricht. In den Jahren 2013/14 beteiligten sich Delegationen des Vatikans am Humanitarian Consequences Movement, einer Initiative der Zivilgesellschaft, die die immer zahlreicher werdenden Belege für die durch Kernwaffen verursachten sozialen und ökologischen Schäden prüft.32 Darüber hinaus war den Kirchenvertretern im Laufe der Zeit klar geworden, dass keine der von den US-Bischöfen 1983 formulierten Bedingungen eingehalten worden war.
Im Jahr 2017 nahm der Heilige Stuhl an der UNO-Konferenz zur Ausarbeitung des Vertrags über das Verbot von Kernwaffen (TPNW) teil. Im selben Jahr unterzeichnete und ratifizierte der Vatikan als einer der ersten Staaten diesen Vertrag. Schließlich verurteilte Papst Franziskus auf einer Festveranstaltung des Vatikans zum Vertragsschluss 2017 ausdrücklich die nukleare Abschreckung mit den Worten, Atomwaffen seien aufgrund „der Gefährlichkeit sowohl ihres Einsatzes als auch ihres Besitzes auf das Schärfste zu verurteilen“33. Indem der Papst die Abschreckung ächtet, verurteilt er ein Verteidigungssystem, das seine moralische Legitimität verloren hat und das in einem zunehmend instabilen geostrategischen Umfeld ein erhöhtes Risiko für die Zukunft der Menschheit und des Planeten darstellt. Gemäß der katholischen Moraltheologie und Soziallehre stellt die Theologie lediglich ein Element unter mehreren zur Herausbildung eines moralischen Urteils dar. Neben theologischen Prinzipien und religiösen Symbolen greift es auf eine Tradition der moralischen Argumentation und die Bewertung von Fakten zurück. Besonders seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil werden diese bedingten Faktoren immer bedeutender, wenn es darum geht, die Zeichen der Zeit zu erkennen.
1 Zum Begriff “ultimacy” (Endzeitlichkeit), verstanden als Ausdruck der impliziten religiösen Dimension, siehe Gilkey, Langdon (1969): Naming the Whirlwind: The Renewal of God Language. Indianapolis, passim.
3 Zum Einsatz der heiligen Schriften in der Auslegung zeitaktueller Ereignisse siehe Gustafson, James M. (1975): Can Ethics Be Christian? Chicago, S. 117–145; sowie Theology and Christian Ethics (Philadelphia), S. 121–146. Zu verschiedenen theologischen Interpretationen mit Bezug auf Kernwaffen siehe “The Fire Next Time: Faith and the Future of Nuclear Weapons”. In: Reflections, Yale Divinity School, Frühjahr 2009.
4 Augustinus (1960): The City of God. Book XIV, Kapitel 28. Garden City. (Übersetzung aus dem Englischen.)
5 Siehe Oakeshott, Michael (1989): „The Tower of Babel“. In Clarke, Stanley G. and Simpson, Evan (Hg.): Anti-Theory in Ethics and Moral Conservatism. Albany, New York, S. 185 ff.
6 Siehe Ellul, Jacques (1982): „A Theological Reflection on Nuclear Developments: The Limits of Science, Technology and Power“. In Wallis, Jim (Hg.): Waging Peace: A Handbook for the Struggle to Abolish Nuclear Weapons. New York, S. 114–121. Zu Elluls quasideterministischer Lesart unserer technologischen Kultur siehe ders. (1964): Technological Society. New York.
7 Siehe Jacques Ellul (1977): Apocalypse: The Book of Revelation. New York.
8 Berrigan, Daniel (2009): The Nightmare of God: The Book of Revelation. Eugene, Oregon. Der Autor erläutert die apokalyptische Perspektive eines führenden katholischen Pazifisten und Atomkraftgegners. Zum säkularen Gebrauch apokalyptischen Denkens siehe Schell, Jonathan (2000): The Fate of the Earth. Redwood City, Kalifornien.
9 Zur fundamentalistischen Haltung Mertons siehe: „Blessed Are the Meek: The Christian Roots of Nonviolence“ in Shannon, William A. (Hg.) (1995): Thomas Merton: Passion for Peace: Reflections on War and Nonviolence. New York, S. 87–108 sowie „Nuclear War and Christian Responsibility“, S. 39–58. Hierzu siehe auch Zahn, Gordon (1983): „Pacifism and the Just War“ in Murnion, Philip (Hg.): Catholics and Nuclear War: A Commentary on The Challenge of Peace – The U.S. Catholic Bishops’ Pastoral Letter on War and Peace. New York, S. 119–131.
10 Siehe Roth, John D. (2002): Choosing Against War. Intercourse, Pennsylvania.
11 Die Ausführungen zur Stärke religiöser Zuneigung entnehme ich dem Anthropologen Clifford Geertz, dem zufolge religiöse Symbole „starke, durchdringende und lang anhaltende Stimmungen und Motivationen“ hervorrufen können, die ihnen „eine Aura der Faktizität [verleihen], sodass die Stimmungen und Motivationen einzigartig realistisch erscheinen“. (Übersetzung aus dem Englischen.) Geertz, Clifford (1973): „Religion as a Cultural System“. In: ders.: The Interpretation of Cultures. New York, S. 93–135.
12 „Erwiderung an Faustus, den Manichäer“, 22.78. In: Holmes, Arthur F. (Hg.): War and Christian Conscience. Grand Rapids, S. 68. (Übersetzung aus dem Englischen.)
13 Siehe Gustafson, James M. (1975), S. 94–114; außerdem: Evans, Donald (1979): Struggle and Fulfillment: The Inner Dynamics of Religion and Morality. Philadelphia, S. 49–55 und S. 73–76.
14 Merton, Thomas (1995), S. 106–107. (Übersetzung aus dem Englischen.)
15 Merton, Thomas (1995), S. 108. (Übersetzung aus dem Englischen.)
16 Zum Überblick über die Abschreckungsethik mit Argumenten verschiedener Seiten siehe Smith, Michael Joseph: „Nuclear Deterrence: The Strategic and Ethical Debates.“ In: Virginia Quarterly Review, Winter 1987. www.vqronline.org/essay/nuclear-deterrence-behind-strategic-and-ethical-debate (Stand 14.3.2020). Siehe auch: Kaplan, Fred (2020): The Bomb: Presidents, Generals and the Secret History of Nuclear War. New York.
17 Walzer, Michael (2000): Arguing About War. New Haven, Connecticut, S. 48. (Übersetzung aus dem Englischen.)
18 Siehe Murray, John Courtney SJ (1960): „Remarks on the Moral Problem of War.“ In: Nagle, William (Hg.): The Morality of Modern Warfare. Baltimore, S. 69–71. (Übersetzung aus dem Englischen.)
19 Siehe Finnis, John, Boyle, Joseph, Jr. und Grisez, Germain (1988): Nuclear Deterrence: Morality and Realism. New York.
20 Deutsche Übersetzung der Zitate aus The Challenge of Peace aus: „Die Herausforderung des Friedens – Gottes Verheißung und unsere Antwort“. Pastoralbrief der katholischen Bischofskonferenz der USA über Krieg und Frieden. In: Hirtenworte zu Krieg und Frieden. Die Texte der katholischen Bischöfe der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik, der Niederlande, Österreichs, der Schweiz, Ungarns und der Vereinigten Staaten von Amerika. Köln, 1983, S. 125–285.
21 Siehe Walzer, Michael (2000), S. 49. Zum Begriff des höchsten Notstands (“the Supreme Emergency”) siehe Walzer, Michael (1977): Just and Unjust Wars: A Moral Argument with Historical Illustrations. New York,
S. 251–268; zum Thema der nuklearen Abschreckung siehe S. 269–283. (Übersetzung aus dem Englischen.)
22 Walzer, Michael (1977), S. 283. (Übersetzung aus dem Englischen.)
23 Siehe hierzu zum Beispiel Kenny, Anthony (1985): The Logic of Deterrence. Chicago. (Übersetzung aus dem Englischen.)
24 Zur Position Paul Ramseys siehe Stout, Jeffrey: „Paul Ramsey and Others on Nuclear Ethics“. In: Journal of Religious Ethics 19:2 (Juni 1993), S. 209–238.
25 In Smith, Michael Joseph (1987), Anmerkung 32 oben. (Übersetzung aus dem Englischen.)
26 Walzer, Michael (1977) zitiert den Kommentar von Anscombe, S. 279.
27 Siehe Morgan, Patrick und Quester, George: „How History and Geopolitical Context Shape Deterrence“, S. 3–7, sowie Mazarr, Michael und Goodby, James E.: „Redefining the Role of Deterrence“, S. 9-20. In Shultz, George P. et al. (Hg.) (2011): Deterrence: Its Past and Future. Stanford, Kalifornien.
28 Siehe Shultz, George P. et al. (2009): „A World without Nuclear Weapons“, Anhang 1. In Drell, Sidney and Goodby, James E. (Hg.): A World without Nuclear Weapons: End-State Issues. Hoover, S. 41–46.
29 Zitiert in Taubman, Phillip (2012): The Partnership: Five Cold Warriors and Their Quest to Ban the Bomb. New York. Kindle ed., Loc. 4753. (Übersetzung aus dem Englischen.)
31 Zur Zurückweisung des Abschreckungsbegriffs durch den Heiligen Stuhl siehe Mamberti, Dominique (2015): „Address of the Holy See to the High-Level Meeting on Nuclear Disarmament“, New York, 26. September 2013. In: Nebel, Mathias und Reichberg, Gregory M. (Hg.): Nuclear Deterrence: An Ethical Perspective. Genf, S. 81–82.
32 Für eine umfassendere Darstellung der Positionen des Vatikans siehe „Nuclear Deterrence: Time for Abolition“. In: Nebel, Mathias und Reichberg, Gregory M. (Hg.) (2015), S. 87-97.
33 Ansprache Seiner Heiligkeit Papst Franziskus anlässlich des Internationalen Symposiums „Prospects for a World Free of Nuclear Weapons and for Integral Disarmament“ am 10. November 2017.
Drew Christiansen SJ ist Jesuitenpriester und Distinguished Professor für Ethik und Global Human Development an der Universität Georgetown (USA) sowie Senior Fellow am dortigen Berkley Center for Religion, Peace and World Affairs. Seit 2013 arbeitet er direkt mit dem Heiligen Stuhl zum Thema nukleare Abrüstung zusammen. Er gehörte der Delegation an, die bei der Abrüstungskonferenz der Vereinten Nationen den Atomwaffenverbotsvertrag aushandelte. Zusammen mit Carole Sargent ist Pater Christiansen Herausgeber von „A World Without Nuclear Weapons“ (in Vorbereitung) und arbeitet als Herausgeber und Autor für verschiedene wissenschaftliche Magazine.