Kontroversen in Militärethik und Sicherheitspolitik
Russische Kernwaffen: Vernunft- oder Gefühlssache?
In der heutigen Zeit ist es äußerst wahrscheinlich, dass die Welt den Beginn eines neuen Wettrüstens erleben wird. Auch Kernwaffen werden hier eine Rolle spielen. Die Gründe sind vielfältig und reichen vom dysfunktionalen Zustand der globalen Sicherheitsorganisationen bis hin zu bahnbrechenden Entwicklungen in der Militärtechnologie. In dieser Situation sollten wir uns die Interessenlage der wichtigsten Akteure vergegenwärtigen. So beugen wir nicht nur Fehlern vor, sondern auch einer allgemeinen Verschlechterung der Lage, wie sie zum Beispiel durch eine künstliche Beschleunigung des Wettrüstens entstünde.
Warum ist der Aufbau eines umfangreichen Arsenals an Kernwaffen für Russland überhaupt relevant? Geht es in der aktuellen Situation um strategische Bedeutung, stellen Kernwaffen ein Mittel der Realpolitik dar, oder geht es lediglich um einen Phantomschmerz, entstanden aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion, also um den nie verwundenen Verlust des einstigen Weltmachtstatus?
Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir uns zunächst vergegenwärtigen, welchen Vorteil Russland im Einzelnen aus dem Besitz von Kernwaffen sowie seiner Rolle als wichtigster Konkurrent der USA auf dem Feld nuklearer Abschreckung zieht. Hier sind verschiedene Ebenen zu betrachten, die jeweils unterschiedliche Situationen aufzeigen.
Kernwaffen aus der Perspektive internationaler Beziehungen
Nach dem Kalten Krieg übernahm Russland die Rolle der UdSSR im Bereich der nuklearen Rüstungskontrolle. Mit dem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat erbte das Land auch den Status des politischen Schwergewichts. Allerdings blieb diese Position über viele Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion extrem instabil und bestand in vieler Hinsicht eher auf dem Papier als in der Realität. Denn alles, was in Russland noch übrig war, waren die Kernwaffen der UdSSR und ein paar Dokumente, die dem Land den Platz auf der internationalen Bühne der Politik zusicherten.
Im Ergebnis wurden jegliche Möglichkeiten, exklusive Beziehungen mit den USA aufzubauen, umso interessanter. In den 1990er-Jahren erlebte Russland vor dem Hintergrund der verblassenden Staatsmacht eine Zeit großer sozialer und wirtschaftlicher Unruhen. In den frühen 2000er-Jahren befand sich das Land eindeutig nicht mehr auf Augenhöhe mit der Liga der Weltmächte – abgesehen von seiner Stärke im Bereich der nuklearen Abschreckung und der besonderen Rolle als Partner der USA für die Nichtverbreitung von Kernwaffen. Schon aus diesem Grund kann die Bedeutung eines umfangreichen Kernwaffenarsenals für Russland kaum zu hoch aufgehängt werden. Rechtlich gesehen, hatte dieses in der Reihe internationaler Abkommen – START I und II, SORT und schließlich New START – denselben Status wie der Kernwaffenbestand der USA. Entsprechend erachtet Russland jedes Abkommen, das das Land von den anderen Partnerländern der USA weltweit abhebt, als höchst wertvoll, weil dies Moskau auf der weltpolitischen Bühne wichtiges zusätzliches Gewicht verleiht.
Genau aus diesem Grund reagierte Russland so ablehnend auf den Ausstieg der USA aus dem ABM-Vertrag im Jahr 2002. Zwar waren die USA, obwohl sie damit eines der Grundprinzipien der strategischen Stabilität missachteten (dem zufolge defensive Waffen das Gleichgewicht der nuklearen Abschreckung zerstören), weder zu diesem Zeitpunkt noch dreißig Jahre zuvor, als dieser Grundsatz zum ersten Mal Anerkennung fand, tatsächlich zum Aufbau eines ABM-Komplexes und damit zur Abwehr eines Zweitschlags in der Lage. Dennoch war der Ausstieg der Vereinigten Staaten aus dem Abkommen ein Akt des politischen Wahnsinns, der weder die Sorgen der Partner noch die langfristigen Folgen im Blick hatte. Er ließ Russland wie einen gescheiterten Staat aussehen. Der in jenen Jahren im Westen weitverbreitete Eindruck des „russischen Niedergangs“ vernebelte erheblich den Blick auf Russland. Dennoch verhielt sich Russland in den Jahren 2001 und 2002 äußerst zuvorkommend gegenüber den USA (tatsächlich so sehr wie zuletzt 1994). Dies bestärkte die Vereinigten Staaten sogar noch darin, das Abkommen aufzukündigen. Zusammen mit der Entscheidung für die NATO-Osterweiterung, die 1997 fiel, entstand in Russland der Eindruck, das Land solle bewusst an den Rand der politischen Weltbühne gedrängt und – wie in der Geschichte bereits geschehen – mit einem Sperrgürtel umgeben werden.
Dies wird am dramatischen Scheitern des INF-Vertrags besonders deutlich. Auch wenn harsche Kritik ausblieb, wurde das Abkommen in Russland ab Mitte der 2000er-Jahre zumindest extrem skeptisch gesehen. Sogar die höchste militärische und politische Führungsriege brachte diese Stimmungslage zum Ausdruck, einschließlich Präsident Putin selbst (der diesen Vertrag einmal als „einseitige Abrüstung der Sowjetunion“ bezeichnete). Dennoch änderte die russische Führung genau zu dem Zeitpunkt abrupt den rhetorischen Kurs, als das exklusive, auf Gegenseitigkeit angelegte Beziehungsgeflecht mit den USA tatsächlich konkret in Gefahr geriet. Zunächst war den Vertrag (der inzwischen leider annulliert wurde) als „Eckpfeiler der strategischen Stabilität“ bezeichnet worden, so wie es in der Vergangenheit bereits beim ABM-Vertrag der Fall gewesen war.
Da Russland mittlerweile einen Teil seines einstigen wirtschaftlichen Status und seiner politischen Einflusskraft wiedererlangen konnte, die das Land nach 1991 eingebüßt hatte, ist diese Phase nun im Großen und Ganzen beendet. In den letzten zehn Jahren haben auch die russischen Streitkräfte große Veränderungen erlebt. Im Ergebnis ist die reine nukleare Abschreckung nicht mehr das einzige Gewicht, das Russland in die Waagschale wirft, um seine militärische und politische Bedeutung in der Welt geltend zu machen. Dennoch misst das Land, wie schon in früheren Zeiten, nicht nur dem Besitz von Kernwaffen an sich, sondern der militärischen und strategischen Augenhöhe mit jedem anderen Staat der Welt große Bedeutung bei – insbesondere geht es im nuklearen Bereich um ein ausgewogenes Kräfteverhältnis mit den Vereinigten Staaten, denn die übrigen Länder sind Russland in dieser Hinsicht sowieso weit unterlegen.
Die militärische Dimension: Das kontinentale Gleichgewicht der Mächte
Aus philosophischer Sicht sind Kernwaffen weder Waffen mit Sonderstatus noch politisches Werkzeug. Vielmehr stellen sie ein eigenständiges Phänomen dar, das die Kunst der Kriegsführung und der internationalen Politik dominiert. Hierdurch büßen sie nichts von ihrer politischen oder militärischen Rolle ein; ihre Bedeutung geht sogar weit darüber hinaus.
Die Abschreckung, die Russland mit seinen Atomwaffen bezweckt, ist in erster Linie vom militärischen und strategischen Gleichgewicht auf dem Kontinent abhängig. Aufgrund der langen Grenzlinie zu China hielt die Sowjetunion ab den 1970er-Jahren den Aufbau eines Abschreckungssystems sowohl in Richtung Osten als auch in Richtung Westen für erforderlich. Man sah es als äußerst wichtig an, ein Machtgleichgewicht in Bezug auf konventionelle Waffen zu schaffen. Nur von diesem einen Aspekt hing ab, in welchem Umfang Atomwaffen in die kontinentale Abschreckung auf russischem Boden eingebunden wurden.
Schauen wir noch einmal zurück auf die Chronologie der Konfrontationen in Europa während des Kalten Krieges. Ab den 1960er-Jahren stützte sich die NATO auf die vorgelagerten atomaren Waffensysteme (Forward-Based-Systeme) der Vereinigten Staaten, um ein militärisches Gleichgewicht herzustellen. Zu dieser Zeit waren die Staaten des Warschauer Pakts der NATO in Bezug auf Truppenstärke und Anzahl konventioneller Waffen überlegen. Es war kein Zufall, dass die Sowjetunion zwei Jahrzehnte lang darauf beharrte, diese Waffensysteme sollten von den Vereinigten Staaten in die Zählung der strategischen Offensivwaffen (SOA) einbezogen werden – was immer wieder abgelehnt wurde.
In den 1990er-Jahren kehrte sich die Lage um. Der Zusammenbruch des Warschauer Paktes, die tiefe soziale und wirtschaftliche Krise in Russland und die Osterweiterung der NATO schufen eine neue Situation der Asymmetrie. Russland sah sich nun gezwungen, das verschobene Kräfteverhältnis auf dem Kontinent durch einen verstärkten Rückgriff auf Kernwaffen auszugleichen. Aus gutem Grund haben die Vereinigten Staaten in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren die weitere Verringerung und den Abbau strategischer Offensivwaffen von der Verringerung und dem Abbau der russischen taktischen Kernwaffen abhängig gemacht. Dieses Ansinnen weist Russland grundsätzlich zurück.
Auch aus diesem zweiten Grund spielt der Umfang und das Potenzial des eigenen Kernwaffenbestands für Russland eine derart große Rolle: Es geht um die unmittelbare militärische Notwendigkeit, das kontinentale Gleichgewicht der Kräfte aufrechtzuerhalten.
Auf die Stagnation der strategischen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre folgte eine allgemeine Verschlechterung in der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre, trotz einer kurzfristigen Verbesserung zwischen dem 11. September 2001 und dem Einmarsch der USA im Irak im Frühjahr 2003. Nach der militärischen und politischen Krise in der Ukraine 2014 erreichte das Verhältnis einen neuen Tiefpunkt.
In dieser Zeit konzentrierte Russland sich insbesondere auf die Erhaltung und den Ausbau seines nuklearen Abschreckungspotenzials. Da Moskau im militärischen Vergleich zu seinen Nachbarn quantitativ hinterherhinkte und qualitativ hinter der von den USA angeführten NATO zurückblieb (in Bezug auf präzisionsgelenkte Waffen, Drohnen, Luftstreitkräfte, Seestreitkräfte, automatisierte Führungs-, Aufklärungs- und Zielsysteme), nutzte es aus rationalen Erwägungen seine Kernwaffen, um die Unabhängigkeit der eigenen Politik zu sichern. Diese schließt unter anderem das ehemalige Staatsgebiet der Sowjetunion. ein, das Russland als seine exklusive Interessensphäre betrachtet.
Anleitung zum Verständnis der russischen Nukleardoktrin
Russlands strategische Kultur erschließt sich nur vor dem Hintergrund der historischen Erinnerung. Auch die Traumata der jüngeren Vergangenheit spielen hier eine wichtige Rolle. Ohne die umfassende Betrachtung des historisch-kulturellen Narrativs, das eine Art „genetisches Gedächtnis“ im System der Staatsführung schafft, führt der Versuch, das Verhalten Russlands als wichtiger politischer Akteur zu interpretieren, zwangsläufig zu falschen Schlussfolgerungen und somit zu Fehlern in der strategischen Planung.
Aus Sicht der UdSSR fand der Kalte Krieg im Schatten der Ereignisse des Juni 1941 statt. Das Militär unternahm alle erdenklichen Anstrengungen, um eine ähnliche Niederlage in den ersten Tagen des angenommenen neuen Krieges zu verhindern. Aus Augenzeugenberichten geht hervor, dass die Sowjetunion bereits auf der Grundlage von Anzeichen, dass die NATO „Vorbereitungen für einen Angriff mit Atomraketen“ treffen könnte, bereit war, einen Präventivkrieg mit einem Großeinsatz von Kernwaffen in Europa zu beginnen.1 Die UdSSR sah hierin keinen Verstoß gegen den 1982 offiziell erklärten grundsätzlichen Verzicht auf einen atomaren Erstschlag. Vielmehr galten derlei Aktionen aufgrund der „Unvermeidbarkeit“ des bevorstehenden nuklearen Angriffs durch den Feind als Vergeltungsschläge.
Dabei spielt die Tatsache eine Rolle, dass sich Russland über Jahrhunderte hinweg in erster Linie als einen riesigen militärisch-administrativen Komplex zur Verteidigung seines äußerst verwundbaren Territoriums betrachtet und konstituiert hatte (der allerdings immer wieder das reine Überleben der Bevölkerung zu gewährleisten hatte). Die Außengrenzen des Landes waren lang und schlecht gesichert, und auf der anderen Seite wartete eine beträchtliche Anzahl Feinde. Bis zum heutigen Tag sind die russische Außenpolitik, Militärstrategie und Kriegskunst tief geprägt von einer defensiven Haltung, die auf jede potenzielle Bedrohung von außen überempfindlich reagiert.2
Die Entwicklung der russischen Nukleardoktrin steht in direktem Zusammenhang mit diesen Überlegungen. Die plötzliche Schwächung des militärischen Potenzials führte dazu, dass Russland sich 1993 weigerte, den Verzicht auf den nuklearen Erstschlag überhaupt offiziell zu erklären. Die Militärdoktrin von 2000 wurde im Zuge der drastischen Reduzierung der Streitkräfte, auf dem Höhepunkt des zweiten Tschetschenien-Feldzugs und nach dem NATO-Einsatz in Jugoslawien im Frühjahr 1999 verabschiedet. Im Ergebnis erklärte Russland seine Bereitschaft zu einem atomaren Erstschlag zunächst für den äußerst vage formulierten Fall einer „kritischen Situation für die nationale Sicherheit“, sollte es zum Angriff konventioneller Streitkräfte kommen.
Doch bereits 2010 wurde mit der nächsten Militärdoktrin die Schwelle für den Einsatz von Kernwaffen angehoben und deutlich strikter definiert: Ein Angriff mit konventionellen Waffen musste nun eine Bedrohung „für die Existenz des Staates an sich“ darstellen. Kurz vor Jahresende 2014, als die Beziehungen zum Westen nach den Ereignissen auf der Krim und dem Krieg im Donbass auf einem Tiefpunkt angekommen waren, bekräftigte Russland diese Formulierung in der Neufassung der Doktrin als ergänzenden Wortlaut im Rahmen des Konzepts der „nicht nuklearen strategischen Abschreckung“. Damit kündigte die Regierung den Aufbau neuer Kapazitäten im Bereich der nicht nuklearen Hochpräzisionswaffen mit großer Reichweite an, die die bis dato auf Kernwaffen basierende Abschreckung um eine weitere Komponente ergänzen sollen. Mit der Neuformulierung der Doktrin 2014 wurde die Schwelle für den Einsatz von Kernwaffen gegenüber der Fassung von 2010 indirekt erneut angehoben, ohne die Kernaussage der Doktrin zu ändern.
Auf diese Weise behielt man sich das Recht vor, unzureichende Kapazitäten an konventionellen Waffensystemen mit Kernwaffen aufzustocken, um das allgemeine Gleichgewicht der Abschreckung zu wahren. Russland verbesserte die Schlagkraft seiner Streitkräfte, rüstete aktiv auf (einschließlich der Einführung neuer Präzisionswaffen und des Aufbaus von Systemen zur Aufklärung, Zielerfassung und Bekämpfung) und fuhr die Abhängigkeit seiner strategischen Abschreckung von Kernwaffen allmählich zurück. Somit hat sich das Land bereits deutlich von der Klippe entfernt, an der es in den 1990er- und 2000er-Jahren stand, und die nuklearen Risiken deutlich verringert. Diese Linie verfolgt Moskau ganz bewusst.
Doch auch dieses an sich klare Bild bot noch genügend Raum für widersprüchliche Auslegungen. Beispielsweise wird immer wieder unterstellt, die russische Regierung setze Kernwaffen bewusst als Druckmittel ein, um die Bedrohlichkeit eines Konflikts mit der NATO zu betonen, den Moskau selbst provoziere – entsprechend dem Konzept der Eskalation zur Deeskalation („escalate to de-escalate“). Etwas karikaturhaft wird oft ein „hybrider Angriff“ auf die baltischen Staaten heraufbeschworen, der vermeintlich in einem blitzkriegartigen Überfall russischer Truppen und einem präventiven taktischen Einsatz von Kernwaffen gegen einen NATO-Militärstützpunkt in Europa gipfeln solle – mit dem Ziel, die Bündnismächte zum Rückzug zu zwingen und mit der Annexion der baltischen Staaten vollendete Tatsachen zu schaffen.
Diese Auslegung der russischen Nukleardoktrin mutet allerdings reichlich primitiv an. Die zur Lösung der unterstellten Lage vorgeschlagenen Maßnahmen – die Stationierung nuklearer Gefechtsköpfe mit niedriger Sprengkraft für Trident-II-Raketen – erscheinen zudem unlogisch und widersprüchlich und bergen die Gefahr einer weiteren Destabilisierung.3 Vor allem aber verkennt ein solches Szenario die Grundlagen des russischen strategischen Denkens, das von den Traumata militärischer Niederlagen in der Vergangenheit geprägt und zutiefst defensiv ausgerichtet ist. Russland ist zwar zu einem nuklearen Erstschlag bereit und hat dies seit 1993 immer wieder deutlich zum Ausdruck gebracht. Doch dieser wäre zwingend an eine große militärische Niederlage geknüpft, die die Existenz des Staates in seiner jetzigen Form bedrohen müsste. Es ist schwer vorstellbar, wie sich solche Bedingungen im Zusammenhang mit diesem etwas abenteuerlich anmutenden nuklearen Poker-Szenario ergeben sollten, das mit der Idee einer „hybriden“ Invasion im Baltikum und ihrer anschließenden Annexion spielt – selbst wenn man den strategischen Vorteil für Moskau beiseitelässt, der mit diesem Szenario verbunden ist.
Ist die russische Nukleardoktrin also rein defensiv, quasi im Geist sicherheitspolitischer „Tauben“ konzipiert, und bedroht sie somit weder die Stabilität noch den Kontinent? Nein, und auch dies sollte allen Parteien der gegenwärtigen militärisch-politischen Konfrontation in Europa Anlass zur Sorge geben. Erstens sieht sich Russland aus den oben genannten Gründen „im Belagerungszustand“ (und die letzten fünf bis zehn Jahre haben diese Wahrnehmung noch weiter untermauert). Russland verwischt absichtlich die „roten Linien“ mit Hinblick auf einen atomaren Erstschlag und bedient sich der altbewährten Strategie der „Abschreckung durch Verunsicherung“. Die Kehrseite dieses Vorgehens ist, dass das Risiko eines Atomkriegs bereits in einem frühen Eskalationsstadium steigt, in dem eine Lage noch nicht als existenzielle Bedrohung gelten kann.
Außerdem wird der potenzielle Konflikt zwischen Russland und der NATO typischerweise aus der Perspektive des rational handelnden Akteurs bewertet, der konsequent gut durchdachte Strategien umsetzt. Doch dies trifft auf keine der beiden Seiten zu – weder auf die Befürworter der „Eskalation zur Deeskalation“ (die letztlich wieder zur Aufrüstung mit taktischen Kernwaffen führt, wenn auch mit dem Ziel der Eindämmung nuklearer Risiken) noch auf ihre Kritiker. Beide Seiten sind nicht in der Lage, einen außerplanmäßigen Zwischenfall zu verhindern, also eine unbeabsichtigte Eskalation, bei der jeder Schritt einen weiteren Schritt nach sich zieht und der Konflikt sich automatisch immer weiter zuspitzt.
Aus einem unbeabsichtigten Aufeinandertreffen der Streitkräfte in der Luft oder auf See können sich militärische Kampfhandlungen in einer frühen Phase entwickeln, die wiederum möglicherweise zu einem nuklearen Erstschlag führen. Solch ein Zwischenfall wird nicht nach am Reißbrett entworfenen Plänen verlaufen, geschweige denn einer Strategie „maßgeschneiderter nuklearer Gegenschläge“ gehorchen. Beide Seiten werden in einem solchen Fall nicht auf ihre Szenarien, sondern auf ihre vorhandenen Waffen zurückgreifen, auch auf ihre Kernwaffen. Auf diese Weise könnte ein unbeabsichtigter, räumlich begrenzter Zwischenfall zu einem echten nuklearen Krieg führen.
Nur der systematische Aufbau und die Festigung politischen Vertrauens zwischen Russland und der NATO kann die Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses verringern. Dies ist jedoch unmöglich, solange man im in sich logischen Rahmen der Nuklearstrategie oder selbst der Rüstungskontrolle verharrt.
Die Waffen des 1. März
Man darf sich zu Recht fragen: Wenn die russische Regierung Kernwaffen eine wichtige, aber gleichzeitig begrenzte und zudem mit jedem Jahr weniger bedeutsame Rolle zuschreibt, warum kündigt sie dann die Entwicklung gleich mehrerer neuer nuklearer Waffensysteme auf einmal an? Präsident Putin stellte die neuen Systeme in einer Rede vor der Föderalen Versammlung am 1. März 2018 vor; deshalb sind sie in Russland als „Waffen des 1. März“ bekannt.
An sich sind diese neuen Waffen noch nicht spruchreif; insbesondere die umstrittensten sind noch weit von der Einsatzbereitschaft entfernt, ganz zu schweigen von einer Serienproduktion. Selbst die sofort einsatzfähigen Raketensysteme Avangard und Kinzhal („Dolch“) stehen nur sehr eingeschränkt zur Verfügung und ergänzen Russlands aktuelles Nukleararsenal auch nur unwesentlich. Das militärische und strategische Gleichgewicht mit den Vereinigten Staaten verschieben sie jedenfalls nicht.
Allen neuen Waffen kreisen um die Idee, den starken ABM-Komplex der Vereinigten Staaten auszuschalten, obwohl dieser weder jemals real existierte noch konkret geplant war. Einige der vorgestellten Systeme (Avangard und der interkontinentale Nukleartorpedo Poseidon) gehen auf Konzepte zurück, die in der UdSSR in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre als Teil möglicher Gegenmaßnahmen gegen die zukünftigen Kapazitäten der US-amerikanischen Strategischen Verteidigungsinitiative (SDI) entwickelt wurden.
Es handelt sich hierbei nicht um neue Kernwaffen im eigentlichen Sinn. Es mag seltsam anmuten, aber die Modernisierung des russischen Nukleararsenals ist weitgehend abgeschlossen (mit Ausnahme der Produktion von mit Bulawa-Raketen bestückten U-Booten, die mit unverminderter Intensität weitergeht). Die letzte große, für die erste Hälfte der 2020er-Jahre geplante Veränderung ist die Ablösung der schweren Interkontinentalrakete Voevoda („Kriegsherr“; SS-18 Satan Mod 5/6), deren Einsatzzeit bereits mehrfach verlängert wurde und sich nun dem Ende zuneigt, durch die vergleichbaren, zukunftsweisenden schweren Sarmat-Raketen, die derzeit gerade in die Flugtestphase starten.
Die Waffen des 1. März, die so viel Aufmerksamkeit erregt haben, stehen also eigentlich beispielhaft für die Militärtechnologie der Zukunft. Sie sind die Vorboten einer fernen Zukunft, die höchstwahrscheinlich nie kommen wird. Die Vorabpräsentation dieser neu entwickelten Waffen stellt in gewisser Weise eine Geste der Abschreckung dar, um die Diskussion über die strategische Stabilität (in erster Linie also über den ABM-Komplex) neu zu beleben. Letztlich geht es darum, eine Zukunft verhindern, in der monströse Waffen wie Hochseetorpedos mit extrem starken nuklearen Gefechtsköpfen oder Marschflugkörper mit Nuklearantrieb erforderlich wären, um einen wirksamen Vergeltungsschlag durchzuführen.
* * *
Das Erbe der als traumatisch erlebten Transformation, die Russland nach dem Ende der 1980er-Jahre durchlaufen hat, stellt in vielerlei Hinsicht ein emotionales Element seiner Nuklearpolitik dar. Vom Ende der Perestroika bis in die 1990er-Jahre hinein verhielt sich die Bevölkerung geradezu euphorisch, vielleicht sogar etwas naiv. Doch an die Stelle der freudigen Erwartung einer vollständigen Wiedereingliederung in die westliche Welt traten Groll und Ernüchterung. In der Folge nahmen die neue Generation der russischen Führungsschicht eine völlig entgegengesetzte Haltung ein. Vorsicht und Zynismus setzten sich durch; das Vertrauen in den Westen, seine Institutionen und Werte sank, ebenso wie in seine Politik, die gewohnheitsmäßig auf Machtmittel setzte („militärische Kapazitäten anstatt guter Absichten“).
Aus genau diesem Grund ist von der russischen Führungsschicht in Zukunft keine positive Einstellung hinsichtlich einer umfassenden nuklearen Abrüstung zu erwarten. Diese käme in ihrer Vorstellung (vielleicht zu Unrecht) einer nationalen Katastrophe, zumindest einem Souveränitätsverlust gleich. Die Erfahrungen aus der Zusammenarbeit mit den USA in den 2000er- und 2010er-Jahren, einschließlich der Auflösung des ABM-Vertrags, haben ebenfalls nicht gerade für Optimismus gesorgt.
Die Weltordnung ist einem grundlegenden Wandel unterworfen. Gegenwärtig ist es schwierig zu sagen, welche Gestalt sie annehmen wird und welche Mechanismen der Zusammenarbeit und Institutionen der globalen Sicherheit bzw. welche Machtverhältnisse sich herausbilden werden (Multipolarität, Unipolarität oder neue Bipolarität).
In dieser Situation sieht Russland die nukleare Abschreckung ganz pragmatisch als Mittel zur Vermeidung eines größeren Krieges oder einer neuen nationalen Katastrophe. Es sei darauf verwiesen, dass sich aktuell ähnliche Prozesse bei mindestens zwei weiteren führenden Nuklearmächten vollziehen, die daran interessiert sind, ihre Position zu erhalten und zu festigen: in den Vereinigten Staaten und in China. Nukleare Abschreckung als Friedensgarant ist ein in sich widersprüchliches Konzept, das auf der Furcht vor dem Tod von Millionen Menschen beruht. Nichtsdestotrotz spielt sie seit Langem eine wichtige Rolle für die Wahrung des Weltfriedens. In einer Zeit, in der sich die Weltordnung im Umbruch befindet und sowohl die Unsicherheit als auch die Anzahl der Konflikte unvermeidlich zunehmen, sollten wir diese Rolle nicht unterschätzen.
Sich auf nukleare Abschreckung rational und dauerhaft zu verlassen, erfordert allerdings, die Schwelle für den Einsatz von Kernwaffen anzuheben, die Unklarheit hinsichtlich der „roten Linien“ zu beseitigen und nach Möglichkeit alle Szenarien auszuschließen, in denen diese Waffen im Gefecht – und sei es auch nur begrenzt – eingesetzt werden könnten. Genau dieser Aspekt wird jedoch zum größten Risiko, denn der Zusammenbruch des früheren Systems der internationalen Beziehungen geht einher mit dem Zusammenbruch des Rüstungskontrollsystems für Kernwaffen. Leider fällt ihm auch die Kultur bilateraler Expertengespräche über Fragen der Doktrin zum Opfer.
1 Гриневский, Олег (2004): Перелом. От Брежнева к Горбачеву. Москва, с. 71. [Grinevsky, Oleg (2004): The Turning Point. From Brezhnev to Gorbachev. Moscow, S. 71.]
Konstantin Bogdanov ist seit 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter (Senior Research Fellow) am Zentrum für Internationale Sicherheit des Primakov National Research Institute of World Economy and International Relations der Russian Academy of Science (IMEMO RAS) in Moskau. An der ITMO-Universität in St. Petersburg promovierte er in Ingenieurwissenschaften. Vor seiner Arbeit für das IMEMO war er rund acht Jahre lang als Kolumnist und Experte für politisch-militärische und militär- technische Fragen für führende russische Medien tätig.