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Russische Kernwaffen: Vernunft- oder Gefühlssache?

Von Konstantin Bogdanov

Die Wahrscheinlichkeit eines neuen (atomaren) Wettrüstens ist derzeit hoch. Um Fehleinschätzungen zu vermeiden, muss nach der russischen Interessenlage und der Bedeutung des russischen Kernwaffenbestands auf verschiedenen Ebenen gefragt werden. Vor allem die Atomwaffen aus Zeiten der Sowjetunion sicherten Russland einen Status auf Augenhöhe mit den USA, den das Land eine Zeit lang faktisch kaum auszufüllen vermochte. Genau deshalb sollte dieser aus Prestigegründen durch eine sehr kooperative Haltung gewahrt werden; umso stärker wurden einseitige Entscheidungen der USA wie die Aufkündigung des ABM-Vertrags als Affront empfunden. Unter anderem dank der Militärreformen ist diese Phase mittlerweile beendet.

Aus militärstrategischer Perspektive dient das russische Atomwaffenarsenal dazu, ein Gleichgewicht der Kräfte aufrechtzuerhalten und qualitative wie quantitative konventionelle Unterlegenheit auszugleichen. Die Nukleardoktrin ist dabei unbedingt im historischen Kontext und mit Blick auf das nationale Trauma des deutschen Überfalls 1941 zu lesen. Die defensive Ausrichtung strategischen Denkens erklärt, warum mit der zunehmenden Modernisierung der Streitkräfte im konventionellen Bereich zugleich die Schwelle für den Atomwaffeneinsatz schrittweise angehoben wurde.

Dies lässt Vermutungen, Russland könne auf Risiko spielen und mit begrenzten atomaren Schlägen im Baltikum vollendete Tatsachen schaffen, als grobe Verzerrung der Wirklichkeit erscheinen. Gleichwohl bergen auch die absichtlichen Unklarheiten der russischen Nuklearstrategie und die Möglichkeit unvorhergesehener Zwischenfälle ein erhebliches Eskalationsrisiko. Auf die viel beachteten neuen Waffensysteme (Hyperschallgleiter, Nukleartorpedos et cetera) trifft dies weniger zu.

Die Rolle der Kernwaffen für Russland wird also einerseits durch emotionale Faktoren bestimmt, erscheint andererseits aber in der gegenwärtigen dynamischen Weltlage als rationales Mittel zur Einflusssicherung. Bedauerlicherweise gehen jedoch weitere Bedingungen, unter denen die nukleare Abschreckung überhaupt stabilisierend wirken kann, zunehmend verloren.

Originalartikel