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Erweiterte nukleare Abschreckung und Teilhabe: Gemeinsam überwinden, nicht einsam aussteigen

Die katholische Kirche hat mit dem Verdikt von Papst Franziskus und der Positionierung des Heiligen Stuhls für den Vertrag über das Verbot von Nuklearwaffen (TPNW) ihre Interimsduldung der nuklearen Abschreckung aufgegeben. Diese Haltungsänderung stellt katholisch orientierte Soldaten der Bundeswehr vor einen Gewissenskonflikt, bekennt sich doch Deutschland zur NATO als einem Bündnis, das seine letzte Sicherheitsgarantie in der Androhung des Atomwaffeneinsatzes vor allem durch die USA, aber auch durch die kleineren, autonom agierenden Atommächte Großbritannien und Frankreich sieht, um vor einem Angriff abzuschrecken. Zudem hält Deutschland – wie auch Belgien, Italien und die Niederlande – an der „nuklearen Teilhabe“ fest. Sie bedeutet, dass US-Atombomben in diesen Ländern gelagert werden und im Verteidigungsfall – nach der Freigabe durch den US-Präsidenten – durch nationale Kampfpiloten eingesetzt werden können.

Die deutsche Kommission Justitia et Pax hat die Positionsänderung der katholischen Kirche mit der Schrift Die Ächtung der Atomwaffen als Beginn nuklearer Abrüstung ausführlich begründet. Dabei konzentriert sie sich vor allem auf die nicht verantwortbaren Folgen von Atomwaffeneinsätzen für die Zivilbevölkerung, welche das humanitäre Völkerrecht verletzten und die ethischen Bedenken im Kern begründen.

Die Argumentation ist nicht neu, gibt aber Anlass, die lange aus der Öffentlichkeit verschwundene Diskussion um die nukleare Abschreckung wieder öffentlich und transparent auszutragen, zumal es hier um Fragen von existenzieller Bedeutung geht. Doch müssen die vielfältigen Dimensionen des komplexen Sachverhalts abgewogen werden, um verantwortbare politische Entscheidungen und individuelle Orientierung zu ermöglichen.

Historische Wurzeln der nuklearen Abschreckung

Im Zweiten Weltkrieg war die Zivilbevölkerung massiven Luftangriffen der Kriegsgegner ausgesetzt. Während sie anfangs als „Kollateralschäden“ der Bekämpfung militärischer Ziele in Kauf genommen wurden, umfasste die „strategische Bombardierung“ später Angriffe auf die Rüstungsindustrie, die Verkehrsinfrastruktur und die städtische Zivilbevölkerung. Die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 kennzeichneten den furchtbaren Höhepunkt, aber auch das Ende der alliierten „strategischen“ Luftkriegführung. Sie verfolgte den Zweck, den Gegner zur Kapitulation zu zwingen, indem nicht nur seine Kriegswirtschaft zerstört und seine logistischen Verbindungslinien unterbrochen wurden, sondern auch die Moral der Zivilbevölkerung durch hohe Verluste so zermürbt wurde, dass selbst eine autoritäre Staatsführung aufgeben musste.

Gespalten blieb jedoch das historische Urteil darüber, inwiefern solche Luftangriffe tatsächlich kriegsentscheidend waren und ob diese Strategie ethisch und politisch verantwortbar war, zumal sie offensichtlich schwere Völkerrechtsverletzungen darstellten. Schon im Koreakrieg (1950–53) gab es erste Anzeichen, dass die zivilisierte Welt vor einem solchen Kriegsbild künftig zurückschreckte. Das Phänomen der „Selbstabschreckung“ war geboren und mit ihm die Frage, ob die Androhung dieser Strategie glaubwürdig vor einem Krieg abschrecken würde. Doch blieb die vorher unvorstellbare Wirkung von Flächenbombardements und einiger weniger „Superwaffen“ vor allem in der angelsächsischen Welt als ein Mittel im Gedächtnis, das versprach, einen Krieg gewinnen zu können, ohne dabei auf dem Gefechtsfeld hohe militärische Verluste in Kauf nehmen zu müssen.

Mit dem Beginn des Kalten Krieges in Europa gewann diese Interpretation neue politische Bedeutung. Der Westen unter der Führung der USA und Großbritanniens befürchtete, dass die Sowjetunion gemeinsam mit ihren Verbündeten ihre hohe konventionelle Überlegenheit dazu nutzen könnte, Westeuropa zu überrennen. Dort schien es politisch und wirtschaftlich nicht vertretbar, genügend konventionelle Streitkräfte aufzustellen, um ein militärisches Gleichgewicht herzustellen. Vor diesem Hintergrund erschien der Rückgriff auf die Androhung der atomaren Eskalation als ein strategischer Ausweg, um vor einem Angriff abzuschrecken und den Frieden zu erhalten. Die erste Nuklearstrategie der USA und Großbritanniens drohte daher als Reaktion auf einen Angriff die Zerstörung der Bevölkerungszentren des Gegners an („counter-city“).

Konventionellen Streitkräften wies die Strategie der NATO anfangs nur eine „Stolperdraht“-Funktion zu.1 Sie sollten einen Angriff eindeutig feststellen und kurzfristig verzögern, bevor die alliierten Atommächte mit massiven Nuklearschlägen gegen die Industrie- und Bevölkerungszentren sowie die politische Führung des Gegners reagierten. Allerdings musste diese Überlegung revidiert werden, als deutlich wurde, dass auch die Sowjetunion in der Lage war, mit Atomwaffen kurzer und mittlerer Reichweite Westeuropa zu bedrohen. Seither war es ein westeuropäisches und vor allem deutsches Anliegen, einen Atomkrieg auf dem potenziellen Gefechtsfeld in Mitteleuropa ebenso zu vermeiden wie die Zerstörungen eines konventionellen Bewegungskrieges.2

Folglich musste die NATO ihre konventionellen Streitkräfte stärken, um einen Angriff möglichst weit „vorne“ abzuwehren und die Notwendigkeit einer atomaren Eskalation zu begrenzen oder gegebenenfalls zu kontrollieren. Die Aufstellung der Bundeswehr ab 1955 hat die konventionelle Lage des Bündnisses zwar erheblich verbessert, doch das grundsätzliche Dilemma nicht beseitigt. Gleichwohl baute die NATO darauf, dass das US-amerikanische Kernwaffenpotenzial über die atomare „Eskalationsdominanz“ verfügte, sodass die UdSSR keine wesentlichen militärischen Vorteile erzielen könnte, bevor sich ihre Verluste ins Unerträgliche steigerten.3 Um die Eskalation abstufen und konventionelle Angriffe zerschlagen zu können, ohne sofort das nukleare Inferno auszulösen, wurden den konventionellen Streitkräften „taktische“ Atomwaffen zugeordnet, die auf dem Gefechtsfeld und in der Verbindungszone bis zur sowjetischen Grenze gegen militärische Ziele eingesetzt werden konnten.4 Auch die strategischen Atomstreitkräfte konzentrierten sich nun auf militärische Ziele wie das Führungssystem, die Verbindungswege, die zentrale Logistik sowie die Luft- und Raketenstreitkräfte des Gegners („counter-force“).

Spätestens mit dem Ende der Kubakrise 1962 und der Entwicklung sowjetischer Interkontinentalraketen wurde allerdings deutlich, dass diese Strategie an ihre Grenzen stieß. Die Sowjetunion war auf dem Wege zur nuklearen Parität mit den USA. Sie konnte nun auch ohne geografisch vorgeschobene Mittelstreckenraketen das Kernterritorium der USA unter nuklearer Bedrohung halten. Mit der Entwicklung überlebensfähiger Komponenten der strategischen nuklearen „Triade“ – landgestützten Interkontinentalraketen (ICBM), seegestützten Langstreckenraketen auf U-Booten (SLBM) und schweren Kampfbombern mit interkontinentaler Reichweite – verfügte die Sowjetunion von nun an wie die USA über die strategische „Zweitschlagfähigkeit“. Sie bedeutet, dass auch dann, wenn der Angreifer einen „Erstschlag“ ausgelöst hat, der getroffene Staat noch immer über genügend strategische Atomwaffen verfügt, um das Kernland des Angreifers ebenfalls vernichtend zu treffen. Das Eskalationskonzept der NATO musste von nun an unter der Bedingung der gesicherten gegenseitigen Vernichtungsfähigkeit (MAD = Mutual Assured Destruction) formuliert werden.

Konzeptionelle Dilemmata der „erweiterten nuklearen Abschreckung“

Die NATO hat diesen strategischen Veränderungen jeweils durch die Anpassung ihrer Militärstrategie und die Stärkung ihrer konventionellen Kräfte Rechnung getragen. Die Strategie der „flexiblen Reaktion“ von 1968 sah ein dreistufiges Konzept vor, um vor einem Angriff abzuschrecken5: In der „Direktverteidigung“ sollte ein Angriff grenznah abgewehrt und eine nukleare Eskalation nach Möglichkeit vermieden werden; für den Fall, dass der Gegner den Angriff fortsetzte, drohte die NATO die „vorbedachte Eskalation“ an, also den selektiven „Ersteinsatz“ mit begrenzten Atomschlägen, um den Krieg zu beenden („intra-war deterrence“). Sollte der Gegner weiter eskalieren, so drohte ihm die „allgemeine nukleare Reaktion“ der NATO-Atommächte und ihrer Verbündeten.

Abschreckung bedeutete demnach die glaubwürdige Kommunikation der militärischen Fähigkeit und des politischen Willens, einen Angriff erfolgreich abzuwehren (denial) oder dem Angreifer unkalkulierbare und unannehmbare Schäden zuzufügen, die in keinem vernünftigen Verhältnis zu etwaigen Gewinnen der militärischen Aggression stehen (punishment). Dem lag die Annahme zugrunde, dass der Gegner die Absicht erkennen und rational handeln würde.

Seit den späten 1960er-Jahren stellen die nukleare Parität und strategische Zweitschlagfähigkeit der USA und der Sowjetunion (heute Russlands) das Eskalationskonzept der NATO vor ein kaum auflösbares konzeptionelles Dilemma. Einerseits ist es ein Gebot menschlicher Vernunft, dass beide Atommächte einen strategisch-nuklearen Schlagabtausch gegen ihre Kernterritorien („Sanktuarien“) und ihre kritische militärische und zivile Infrastruktur vermeiden müssen, da er zur gegenseitigen Vernichtung führen würde. Die wechselseitige Abschreckung vor dem strategischen „Erstschlag“ ist seither die Hauptaufgabe der „strategischen Triade“. Andererseits hielten die USA und die NATO am Konzept der „erweiterten Abschreckung“, also der Androhung der selektiven nuklearen Eskalation mit dem Einsatz von „taktischen“, aber auch weiterreichenden Atomwaffen fest, um einen konventionellen Angriff auf Westeuropa abzuschrecken. Mit zahlreichen „taktischen“ Atomwaffen waren allerdings auch die sowjetischen konventionellen Streitkräfte ausgerüstet. Darüber hinaus konnten sowjetische Mittelstreckenraketen und Fernbomber Westeuropa nuklear bedrohen.

Somit stand die Nuklearplanung der NATO vor der Aufgabe, ein Abschreckungskonzept zu formulieren, das einerseits dem etwaigen Angreifer das Risiko untragbarer Schäden androhte, andererseits aber die eigenen Risiken einer nuklearen Eskalation für so begrenzbar oder hinnehmbar erklärte, dass die Eskalationsdrohung nicht durch eine offensichtliche Selbstabschreckung ausgehebelt würde. Bei der Abfassung der politischen Richtlinien der NATO für die nukleare Einsatzplanung traten die Interessenunterschiede zwischen der Atommacht USA und den Staaten des „Gefechtsfelds Mitteleuropa“ jedoch deutlich zutage. Während die USA aus naheliegenden Gründen eine frühe strategische Eskalation zu vermeiden suchten, befürchteten Deutschland und seine unmittelbaren Nachbarn, dass die vorbedachte Eskalation eine atomare Eskalationsspirale auslösen und sich zu einem regional begrenzten Atomkrieg zulasten der Mitteleuropäer ausweiten könnte.6

Da es für dieses Dilemma keine eindeutige Lösung gab, entschied sich das Bündnis für eine Strategie der Ambivalenz, welche die Unkalkulierbarkeit der Risiken für einen Angreifer betonte, aber die wahrscheinlich untragbaren Folgen einer nuklearen Eskalation für die Verbündeten vernachlässigte. Eine Einigung auf ein bestimmtes, vorgeplantes Eskalationsmuster für den Fall eines überwältigenden konventionellen Angriffs war aus ihrer Sicht weder möglich noch erforderlich, sofern es gelang, den Gegner im Ungewissen zu halten und ihm die unberechenbaren Risiken der weiteren Eskalation aufzubürden. Voraussetzung dafür waren die Vielfalt der Optionen, die der NATO zur Verfügung standen, und die Annahme, dass der Gegner die Bündnisreaktion nicht vorhersehen konnte. Die „Eskalationsdominanz“ der Allianz sollte in jedem vorstellbaren Szenario gewahrt und so der potenzielle Aggressor abgeschreckt werden.7

Vor diesem Hintergrund hielten die USA ein breites Arsenal unterschiedlicher „taktischer“ (substrategischer) Nuklearwaffen für die NATO in Europa bereit, von U-Boot-Abwehrwaffen, Flugabwehrraketen, Atomgranaten für die Artillerie über Kurzstreckenraketen bis hin zu Freifallbomben, die von „Dual Use“-Kampfflugzeugen eingesetzt werden konnten. Zugleich wurde der NATO auch eine Anzahl strategischer Atomwaffen für planerische Zwecke zugeordnet. Besonders Deutschland legte Wert darauf, dass ein selektiver Ersteinsatz das politische Signal gab, dass eine nukleare Eskalation nicht auf das mitteleuropäische Gefechtsfeld begrenzt werden könne. Daher forderte es die konzeptionelle Einbeziehung strategischer Kräfte zu einem frühen Zeitpunkt.8 Die USA betonten dagegen die Notwendigkeit, einen Angriff in Mitteleuropa und an den europäischen Flanken notfalls mit taktischen Kernwaffen zu zerschlagen. Sie sollten nicht nur für eine „selektive Eskalation“ zur Verfügung stehen, sondern auch im Falle einer „allgemeinen nuklearen Reaktion“ zum Einsatz kommen.

Das Kompromisskonzept, sich auf nichts festzulegen, aber alles vorzubereiten, resultierte schließlich in der Bereitstellung von mehr als 7000 Atomwaffen der USA in Europa9, von denen 5000 in Westdeutschland gelagert waren. Für die Berechnung der erforderlichen Sprengköpfe musste die Vielfalt der Trägermittel ebenso berücksichtigt werden wie ihre regionale Verfügbarkeit, ihre operative Auflockerung und die Erfordernisse der Reservebildung, um etwaige Verluste auszugleichen.

Auch die Sowjetunion hielt etwa 3000 „taktische“ Atomwaffen für ihre Stationierungsstreitkräfte in Europa bereit.10 Zudem hielt sie Westeuropa mit Mittelstreckenraketen unter Bedrohung. Ihre Militärstrategie sah vor, im Kriegsfall mit schnellen und tiefen Angriffsstößen in die Offensive zu gehen. Dabei ging sie vom unvermeidbaren Einsatz von Kernwaffen aus. Hieraus ergab sich das Dilemma des Eskalationskonzepts der NATO: Es konnte vielleicht den eigenen Ersteinsatz begrenzen; doch konnte der Gegner reziprok reagieren, somit Lücken in die Verteidigung schlagen und den Angriff fortsetzen. Jedenfalls war seine Reaktion ebenso unberechenbar wie das Eskalationskonzept der NATO und die Gefahr der Zerstörung des „Gefechtsfelds“ nicht von der Hand zu weisen. Es war schwer vorstellbar, wie der Krieg zum Stillstand kommen sollte, wenn der Gegner nach der gleichen Logik operierte wie die NATO.

Nach Auffassung Frankreichs war (und ist) nur die Androhung von strategischen Schlägen gegen kritische Ziele im Kernland des Aggressors in der Lage, vor einem regionalen Atomkrieg abzuschrecken.11 Das war zwar nach dem strategischen Konzept der NATO nicht ausgeschlossen, jedoch sehr unwahrscheinlich, sofern die USA nicht bereit waren, amerikanische Städte aufs Spiel zu setzen, um deutsche Städte zu retten. Andererseits konnten sowjetische Angriffskräfte militärisch zerschlagen werden, wenn auch die USA skrupellos genug waren, das Gefechtsfeld Mitteleuropa zu zerstören. Die Frage war, für wie glaubwürdig die sowjetische Führung die eine oder andere Option hielt.

Hier hat die „Abkoppelungsdebatte“ ihren Ursprung. Sie dreht sich um die (west-)europäische Sorge, nicht mehr unter dem Schutz strategischer Atomwaffen der USA zu stehen, die dem eigenen Überlebensinteresse Vorrang geben mussten. Sie hat sich am Ende der 1970er-Jahre nach der Aufstellung der weitreichenden sowjetischen Mittelstreckenraketen SS-20 verschärft und schließlich zum Doppelbeschluss der NATO von 1979 geführt. Als Folge begannen die USA ab 1983 damit, 108 Mittelstreckenraketen des Typs Pershing II und 464 bodengestützte Marschflugkörper in Deutschland, Italien, Belgien, den Niederlanden und Großbritannien zu stationieren.12 Sie konnten kritische Ziele im sowjetischen Kernterritorium bis über Moskau hinaus treffen. Doch bot die NATO seit dem Harmel-Bericht von 1967 auch Dialog und Rüstungskontrolle an.13

Frankreich schied angesichts des Strategiewechsels der NATO 1967 aus der militärischen Integration und der Nuklearplanung der Allianz aus und verfolgt seither eine autonome Nuklearstrategie. (West-)Deutschland hielt am Status als Nichtnuklearstaat fest und schlug einen anderen Weg ein. Getrieben von der Sorge, dass die USA im Falle eines Angriffs auf die Bundesrepublik zu früh, zu spät, zu begrenzt, zu massiv oder gar nicht eskalieren würde, hat sie die Mitsprache in der Nuklearplanung vor allem durch das Mittel der „nuklearen Teilhabe“ gesucht.14 Hunderten deutscher Trägerwaffen – Kampfflugzeugen, Luftabwehrraketen, Artilleriegeschützen, Kurzstreckenraketen und Mittelstreckenraketen Pershing 1a – waren Atomsprengkörper der USA zugeordnet. Im Frieden standen sie unter der Verwahrung amerikanischer custodial teams; im Konfliktfall konnten sie jedoch von deutschen Verbänden eingesetzt werden, wenn der Präsident der USA ihre Freigabe angeordnet hätte. Damit konnten deutsche Trägerwaffen nicht nur das deutsche „Gefechtsfeld“ abdecken, sondern mit Jagdbombern und – als einziger Staat neben den USA – mit Pershing 1a auch das sowjetisch kontrollierte Glacis bis hin zur polnisch-sowjetischen Grenze.

Die „nukleare Teilhabe“ verfolgte mehrere Zwecke:

  • Die Bindung der USA an Deutschland, da im Falle eines Angriffes auch Truppen und Atomwaffen der USA unmittelbar betroffen gewesen wären und ihr Einsatz unvermeidbar schien;
  • die Risiko- und Lastenteilung im Bündnis, zumal auch Deutschland für den Atomwaffeneinsatz Mitverantwortung trug und durch seine geografische Lage potenzielles Zielgebiet war;
  • die Sicherung einer deutschen Sonderrolle in der Nuklearplanung der NATO neben den Atomwaffenmächten USA und Großbritannien;
  • die Schaffung eines zusätzlichen Risikos für sowjetische Streitkräfte, da unklar blieb, wann amerikanische Waffen für den Einsatz durch deutsche Trägersysteme freigegeben würden;
  • und nicht zuletzt ein „zweiter Schlüssel“ Deutschlands für den Atomwaffeneinsatz auf und von deutschem Boden, da die Trägermittel der Bundeswehr trotz ihrer operativen Zuordnung zur NATO im Kriegsfall nicht dem Präsidenten der USA, sondern letztlich dem deutschen Bundeskanzler unterstanden. Er konnte also „deutsche“ Atomeinsätze auch verhindern.

Veränderung der politischen Rahmenbedingungen und verpasste Chancen

Das Ende des Kalten Krieges, das mit der Reformpolitik von Präsident Gorbatschow und dem Dialogangebot des Westens eingeleitet worden war, bot die Chance, die militärische Bedrohung abzubauen und die Konfrontation durch eine künftige Sicherheitskooperation abzulösen. Ihr erster greifbarer Ausdruck war der INF-Vertrag vom Dezember 1987 zwischen den USA und der Sowjetunion, der den Besitz, die Produktion und den Test landgestützter Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 km verbot. Im Mai 1991 waren alle circa 2700 ballistischen Raketen und Marschflugkörper dieser Kategorie unter intrusiver Verifikation abgebaut.15 Im gleichen Jahr begrenzte das bilaterale START I-Abkommen die Zahl dislozierter strategischer Trägersysteme auf 1600 mit maximal 6000 Gefechtsköpfen.16

Dem INF-Vertrag folgte 1990 der KSE-Vertrag über die Reduzierung und Begrenzung konventioneller Streitkräfte in Europa. Er schuf ein militärisches Gleichgewicht zwischen den beiden damaligen Blöcken und führte zur Abrüstung von circa 50.000 vertragsbegrenzten Waffensystemen bis 1996. Russland und Deutschland trugen die Hauptlast der Reduzierungen.17 Weitere, auch freiwillige Absenkungen folgten bis zur Jahrtausendwende; die Zahl der abgebauten Waffensysteme stieg auf über 100.000.

Die Vereinigung Deutschlands, die Pariser Charta der KSZE und deren Umwandlung in die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der Rückzug russischer Truppen aus Mitteleuropa und dem Baltikum, die Auflösung des Warschauer Paktes und der Zerfall der Sowjetunion kennzeichneten den historischen Paradigmenwechsel. Damit war auch die Wahrscheinlichkeit eines Bündniskonflikts in Europa geschwunden und mit ihr die Notwendigkeit, eine Vielzahl von Kernwaffen für eine nukleare Eskalation vorzuhalten. Die Präsidenten Gorbatschow und Reagan waren sich einig, dass ein Atomkrieg nie gewonnen werden könne und nie geführt werden dürfe.

1991/92 verständigten sich die Präsidenten der USA und der Sowjetunion bzw. Russlands darauf, ihre taktischen Atomwaffen ohne vertragsrechtliche Vereinbarungen (fast) vollständig aus den Stationierungsländern abzuziehen und erheblich zu reduzieren. Allerdings hielten die USA noch circa 600 Freifallbomben in den Ländern der „nuklearen Teilhabe“ zurück, und dies auch aufgrund deutscher Bedenken.18 Bis heute ist die Zahl der stationierten Atomwaffen auf vermutlich 150 zurückgegangen, davon etwa 20 in Deutschland.

Obwohl von nun an das strategische Konzept der NATO19 betonte, dass unter den gegebenen Umständen die Option eines Nukleareinsatzes sehr weit entfernt sei, hielt sie grundsätzlich an der nuklearen Abschreckung fest und gab die Möglichkeit eines Ersteinsatzes nie formell auf.

Diese Haltung spielte auch eine Rolle bei der Osterweiterung der NATO, die ab 1999 zum Beitritt von bisher insgesamt 14 Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas führte. Den Bedenken Moskaus, dass NATO-Truppen und amerikanische Nukleargarantien näher an die russischen Grenzen heranrückten, das Gleichgewichtskonzept des KSE-Vertrags zerstörten und das Ziel der Sicherheitskooperation gefährdeten, trug die Allianz in der NATO-Russland-Grundakte von 1997 Rechnung. Sie fasste zunächst nur drei Beitrittsstaaten ins Auge und sicherte zu, keine zusätzlichen substanziellen Kampftruppen dauerhaft in den Beitrittsländern zu stationieren. Es gebe auch keine Planung, keine Absicht und keinen Grund, dort Atomwaffen zu stationieren. Zudem verpflichtete sie sich, den KSE-Vertrag an die neue Lage anzupassen, mit einer gestärkten OSZE einen gemeinsamen Sicherheitsraum ohne Trennlinien zu schaffen und auch die Sicherheitskooperation zwischen der NATO und Russland weiter zu festigen.20

Trotz dieser erneuten Bemühungen, durch Zurückhaltungserklärungen den strategischen Interessenausgleich zu bewahren, befürchtete Moskau nach der Jahrtausendwende, dass die USA ein neues geopolitisches Nullsummenspiel zum Nachteil Russlands begonnen hatten. Anlass dafür waren zunächst der Rückzug der Bush-Administration aus dem Vertrag über die Begrenzung strategischer Raketenabwehrsysteme von 1972 (ABM-Vertrag) im Jahre 2002 und ihre Ankündigung, eine strategische Raketenabwehr auf dem US-Kontinent, in Europa und zur See aufzubauen. Der Kreml sah darin den Versuch, langfristig die russische Zweitschlagfähigkeit auszuhebeln. Hatte er nach dem Terrorangriff auf die USA am 11. September 2001 noch seine Solidarität bekundet und den Afghanistaneinsatz unterstützt, so verurteilte er 2003 die Intervention im Irak, wie auch die Kosovo- und Libyen-Interventionen (1999/2011), als Völkerrechtsbruch und Abkehr von der regelbasierten Weltordnung.

Das KSE-Anpassungsabkommen (AKSE) wurde 1999 zwar von allen KSE-Vertragsstaaten unterzeichnet, aber nur von vier Staaten, darunter Russland, ratifiziert. Dass die USA in der Allianz Druck ausübten, um die Ratifikation des AKSE zu verhindern, gleichzeitig aber die NATO-Osterweiterung vorantrieb, Truppen in Rumänien und Bulgarien stationierte und schließlich den NATO-Beitritt der Ukraine und Georgiens forcierte, führte zu einer radikalen Politikwende in Moskau. Ende 2007 suspendierte es den „alten“ KSE-Vertrag, dessen Gleichgewichtskonzept obsolet war. Je näher die USA ihre militärische Präsenz an die russischen Grenzen heranschob wie in Georgien, desto nervöser reagierte Moskau und stärkte Separatistenregime in den postsowjetischen Territorialkonflikten. Der georgische Angriff auf Zchinvali und russische Peacekeeper in Südossetien im August 2008 und die Intervention Moskaus führten zu einem Tiefpunkt der Beziehungen mit dem Westen.21

Vorübergehend konnte die von Präsident Obama 2009 eingeleitete „Reset“-Politik wieder konstruktive Beziehungen zu Russland herstellen. Mit dem New START-Vertrag gelang es 2010, die weitere Reduzierung strategischer Atomwaffen zu vereinbaren. Er lässt noch maximal 1550 dislozierte Gefechtsköpfe für bis zu 700 strategische Trägersysteme zu. 100 weitere Träger dürfen in Reserve gehalten werden. Der Vertrag läuft im Februar 2021 aus. Er kann um fünf Jahre verlängert werden. Doch Präsident Trump zögert und will erst China einbinden.

Das Jahr 2014 markierte einen neuen tiefgreifenden Paradigmenwechsel in den Beziehungen zwischen dem Westen und Russland. In der Annahme, dass ein Erfolg des Maidan-Aufstands die Ukraine ins westliche Lager führen würde und die USA ihre militärische Präsenz bis zum Don und zu den Basen der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim ausdehnen könnte, annektierte Moskau völkerrechtswidrig die Krim und unterstützte Rebellen in der Ostukraine. Die Begründung, Landsleute schützen zu müssen, verstärkte latent vorhandene Ängste vor allem in den baltischen Staaten und Polen. Um ein ähnliches russisches Vorgehen an ihrer Nordostflanke abzuschrecken, ergriff die NATO militärische Rückversicherungsmaßnahmen.22 Sie intensivierte die Luft- und Seeraumüberwachung, verstärkte die schnellen Reaktionskräfte und stationierte begrenzte Kampftruppenkontingente im Baltikum, in Polen und in Rumänien. Seither steht die Frage der Nukleargarantien wieder auf der Agenda, und mit ihr kehren die Dilemmata der Eskalationstheorien des Kalten Krieges zurück.

Aktuelle politische und konzeptionelle Erwägungen

Die heutige politische und militärische Lage ist mit der im Kalten Krieg nicht vergleichbar. Die erweiterte NATO steht geografisch 700 bis 1000 Kilometer weiter östlich als im Jahr 1989. Sie ist Russland insgesamt konventionell überlegen, auch wenn russische Truppen gegenüber den baltischen Ländern operative Vorteile genießen. Doch hat Moskau Kräfte in der Ukraine und Syrien gebunden, muss seine wenigen Verbündeten stützen und hat nach der Streitkräftereform seinen Militäretat abgesenkt. Es kann und will keinen Bündniskrieg mit globalen Folgen riskieren, fürchtet vielmehr die strategische Destabilisierung durch Raketenabwehr und „prompt global strike“ und treibt den Rüstungswettlauf mit eigenen Rüstungsprojekten voran.

Während die operative Notwendigkeit für einen nuklearen Ersteinsatz der NATO nach wie vor sehr gering ist, hat sich das Dilemma der Eskalationslogik der „erweiterten Abschreckung“ verschärft. Das geografische Glacis, das die NATO und Russland im Kalten Krieg trennte, ist verschwunden. Atomeinsätze müssten entweder auf Bündnisgebiet oder im Territorium Russlands stattfinden. Atomangriffe gegen das „Sanktuarium“ einer nuklearen Supermacht sind jedoch mit dem hohen Risiko verbunden, dass ein reziproker Gegenschlag auf das Territorium des Angreifers erfolgt. Zwar haben die Rüstungskontrollabkommen SALT I/II, INF, START I, SORT und New START sowie unilaterale Reduzierungen substrategischer Waffen die Zahl und Vielfalt von Kernwaffen der USA und Russlands auf circa 20 Prozent der Bestände gesenkt, über die sie auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges verfügten. Doch halten beide Seiten noch immer jeweils mehr als 6000 Gefechtsköpfe, davon circa 3800 im aktiven Dienst. Dies sind circa 91 Prozent der weltweiten Atomwaffenbestände.23 Die „Geschäftsgrundlage“ der gegenseitigen gesicherten Zerstörungsfähigkeit hat sich nicht grundsätzlich verändert.

Daraus haben mehrere amerikanische Experten und Regierungsbeamte die Schlussfolgerung gezogen, dass die USA in der Lage sein müssten, einen regional begrenzten Atomkrieg zu führen und zu gewinnen und gleichzeitig vor der strategischen Eskalation abzuschrecken. Dabei tragen sie westlichen Analysen Rechnung, dass Russland versucht sein könnte, etwaige Gewinne eines Angriffs mit einer begrenzten nuklearen Eskalation zu sichern.24 Um dennoch die Glaubwürdigkeit der „erweiterten Abschreckung“ zu gewährleisten, sollten „low yield“-Gefechtsköpfe für strategische und substrategische Trägersysteme zur Verfügung stehen, um die Auswirkungen atomarer Einsätze begrenzen zu können. In diesem Kontext hat die Nuclear Posture Review der USA von 2018 die Entwicklung solcher Gefechtsköpfe für SLBM und seegestützte Marschflugkörper angekündigt. Auch die Freifallbomben B 61-3/4, die für die nukleare Teilhabe vorgesehen sind, erlauben variable Detonationsstärken. Die derzeitige Umrüstung auf die Version B 61-12 steigert zudem die Präzision und Abstandsfähigkeit der Bombe, die auch in Deutschland stationiert ist.25 Obwohl die operative Notwendigkeit eines Atomeinsatzes schwer zu begründen wäre, wächst somit in der Krise die Gefahr, dass ein begrenzter Atomkrieg für möglich gehalten wird, der zulasten von Verbündeten geführt würde. Sie ergibt sich aus dem nationalen Interesse der USA, einen vernichtenden strategischen Schlagabtausch zu vermeiden, aber die erweiterte Abschreckung im Konfliktfall durchzusetzen.

Weit deutlicher als im Kalten Krieg tritt jedoch heute die Gefahr der Verbreitung von Atomwaffen in den Vordergrund. Zwar sind nach seinem Ende die Atommächte Frankreich und China sowie die potenziellen Atommächte Südafrika, Ukraine, Belarus, Kasachstan und Brasilien dem Nichtverbreitungsvertrag (NVV) beigetreten, dem mittlerweile fast alle VN-Staaten angehören. Doch sind neue Atommächte entstanden, die außerhalb des NVV stehen: Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea. Zudem steht Iran im Verdacht, Spaltmaterial anzureichern, um Atomwaffen bauen zu können. Der „Iran-Deal“ (JCPOA) von 2015 hat diese Option unterbrochen und den Iran unter präzedenzlose Überwachungsmaßnahmen der IAEA gestellt. Mit dem Rückzug Präsident Trumps aus dem Abkommen hat sich der Konflikt wieder verschärft.26

Nicht nur die Fälle Iran und Nordkorea zeigen, dass der NVV unter Druck geraten ist. Dabei geht es nicht nur um Ausbrüche aus der nuklearen Ordnung, um regionale Machtansprüche durchzusetzen oder befürchtete Interventionen abzuschrecken. Vielmehr wächst die Unzufriedenheit vieler VN-Staaten mit der Stagnation der nuklearen Abrüstung, dem erneuten qualitativen Rüstungswettlauf, dem Wiederaufleben der nuklearen Abschreckung in den Militärdoktrinen und der fortwährenden Ungleichheit der Staatenwelt. Hier liegt das Hauptmotiv für den neuen Vertrag über das Verbot von Atomwaffen (TPNW), der die Ächtung vor allem mit den humanitären Folgen von Atomeinsätzen begründet.27

Zwar ist schwer zu bestreiten, dass militärisch „wirksame“ Atomeinsätze zur Wiederherstellung der Abschreckung im Kriegsfall und mögliche reziproke Reaktionen furchtbare Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung hätten und das Völkerrechtsgebot der Verhältnismäßigkeit militärischer Angriffe grob verletzen würden; jedoch könnten es gerade diese entsetzlichen Folgen einer Eskalation sein, deren Androhung vor dem Krieg abschreckt.

Eine letztgültige Beweisführung erscheint nicht möglich. Gleichwohl sollte den wiederbelebten Theorien über Optionen einer begrenzten Atomkriegführung mit Nachdruck entgegengetreten werden. Denn sie könnten im Konfliktfall die Schwelle zu einem begrenzten Ersteinsatz auch gegen eine gleichrangige Nuklearmacht senken und eine unkalkulierbare Eskalationsspirale in Gang setzen, und dies vor allem zulasten der betroffenen Regionen. Vor diesem Hintergrund sollten auch die Modernisierung der B 61-Bomben und das Konzept der nuklearen Teilhabe neu bewertet werden.

Die deutsche Diskussion darüber darf nicht auf die Frage eines Nachfolgemodells für den betagten Tornado-Jagdbomber verengt werden, der auch viele andere Aufgaben bewältigen muss.28 Vielmehr muss Klarheit darüber geschaffen werden, ob und inwieweit Deutschland die Nukleardoktrin der USA und Freigabeentscheidungen des US-Präsidenten beeinflussen kann, etwa über die Nukleare Planungsgruppe (NPG) der NATO. Ihr gehören auch Staaten an, die nicht über nuklearfähige Flugzeuge (sogenannte DCA) verfügen und keine Atomwaffen stationieren. Die NPG erörtert die Rolle von Atomwaffen im strategischen Konzept der Allianz und gibt im Konfliktfall ein Votum ab. Über die amerikanische Nukleardoktrin und die Freigabe von Atomwaffen kann sie aber nicht „mitentscheiden“.29 Diese Entscheidung liegt allein beim US-Präsidenten, und der ist zuerst den vitalen Interessen des amerikanischen Volkes verpflichtet.

Eine verantwortungsvolle Politik wird jedoch auch das Interesse am Zusammenhalt Europas und des Bündnisses berücksichtigen müssen. Trotz aller Zweifel an der Eskalationslogik kann nicht negiert werden, dass vor allem die mittel- und osteuropäischen Bündnispartner fest daran glauben, dass die Existenz amerikanischer Atomwaffen in Europa ihrem Schutz dient und die nukleare Teilhabe gerade Deutschlands als Schlüsselstaat und logistische Drehscheibe die USA an Europa bindet. Angesichts der aktuellen Krise würde ein deutscher Ausstieg aus der nuklearen Teilhabe kleinere Teilhabestaaten zur Nachahmung ermutigen, die NATO-Flankenstaaten aber entfremden und so zur Spaltung Europas und weiteren Destabilisierung der europäischen Sicherheitsordnung führen. Eine Vorwärtsstationierung von Atomwaffen in den NATO-„Frontstaaten“ unter Bruch der NATO-Russland-Grundakte wäre nicht auszuschließen.30 Russland würde dies als Provokation empfinden und reagieren.

Schlussfolgerungen

Der mahnende Hinweis auf die wahrscheinlichen humanitären Folgen von Atomeinsätzen ist legitim und aus kirchlicher und völkerrechtlicher Sicht notwendig und ethisch geboten. Doch darf eine politisch verantwortungsvolle Positionierung Deutschlands die Folgen eines unilateralen Ausscheidens aus der nuklearen Teilhabe nicht ausblenden. Das TPNW-Verbot der Mitgliedschaft in einem nuklearen Bündnis ist derzeit unvereinbar mit der Führungsrolle und Verantwortung Deutschlands für die Stabilität und Solidarität in Europa. Deutsche Politik darf nicht nur normative Ziele setzen, sondern muss mehrere Güter abwägen und mit konkreten, wirksamen und verantwortbaren Schritten agieren, ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren, die nukleare Eskalationslogik zu überwinden.

Dazu muss sie erstens die weitere politische und militärische Destabilisierung Europas verhindern. Zweitens muss sie Konzepten entgegentreten, welche die Option begrenzter Nuklearkriege fördern wollen, und im Bündnis dafür eintreten, die Rolle von Atomwaffen im strategischen Konzept zu beschränken. Und drittens gilt es, die Integrität des Nichtverbreitungsvertrags zu erhalten und einer Spaltung der NVV-Staatengemeinschaft in zwei gegensätzliche Lager entgegenzuwirken: eines, das seine Sicherheit weiterhin in der Nukleargarantie der USA sucht, und ein anderes, das den Willen der Atommächte zur Abrüstung bezweifelt und einen konkurrierenden Verbotsvertrag fördert. Daher ist Deutschland in der Rolle des Brückenbauers und des Motors für die Erneuerung der nuklearen und konventionellen Rüstungskontrolle gefordert.

In diesem Kontext ist die Verlängerung des New START-Vertrags dringlich, da er anderenfalls in neun Monaten ausläuft. Damit würde Zeit gewonnen für die Verhandlung eines Folgevertrags, der künftige strategische Stabilität definiert und neue technologische Entwicklungen und weitere wichtige Akteure berücksichtigt. Um nach dem Ende des INF-Vertrags eine Neustationierung landgestützter Mittelstreckenraketen in Europa zu verhindern, sollten die Bedingungen für ein Moratorium geprüft werden. Vor allem geht es darum, in den Konflikten innerhalb und außerhalb Europas deeskalierend zu wirken und stabilisierende Rüstungskontrollvereinbarungen zu fördern, um die Rolle von Atomwaffen für die Sicherheit Europas weiter zu reduzieren. Schon ein erneutes Bekenntnis zum Statement der Präsidenten Gorbatschow und Reagan wäre ein wichtiges politisches Signal: Ein Atomkrieg kann nie gewonnen und darf nie geführt werden.

1 Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (1970): Weißbuch 1970 zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage der Bundeswehr. Bonn, S. 27; NATO Informationsabteilung (Hg.) (1971): NATO. Tatsachen und Dokumente. Brüssel, S. 99 f.; Überblick bei Walpuski, Günter (1973: Verteidigung+Entspannung=Sicherheit. Texte und Materialien zur Außen- und Sicherheitspolitik. Bonn-Bad Godesberg, S. 15–22

2 Vgl. Bundesministerium der Verteidigung: Weißbücher Zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage der Bundeswehr. 1969, S. 20; 1970, S. 40; 1975/76, S. 21, 26 f., S. 87; 1979, S. 124; Militärgeschichtliches Forschungsamt (MGFA) (Hg.) (1975): Verteidigung im Bündnis. Planung, Aufbau und Bewährung der Bundeswehr 1950–1972. 2. Aufl. München, S. 180 f.; BMVg Fü H II 3 (2019): „Führungsrichtlinien für den Einsatz von Atomwaffen v. 18. Juli 1966“. In: Nübel, Christoph (Hg.) (2019): Dokumente zur deutschen Militärgeschichte 1945–1990. Bundesrepublik Deutschland und DDR im Ost-West-Konflikt. Berlin. Dok. 87, S. 375–383.

3 Zum strategischen Problem der sowjetischen MRBM siehe Lutsch, Andreas (2020): Westbindung oder Gleichgewicht? Die nukleare Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland zwischen Atomwaffensperrvertrag und NATO-Doppelbeschluss. Berlin/Boston, S. 69–94; zur Eskalationsdominanz auch Kahn, Herman (1966): Die Politik mit der Vernichtungsspirale. Deutsche Ausgabe, Berlin.

4 Van Cleave, William R.  und Cohen, S. T. (1978): Tactical Nuclear Weapons: An Examination of the Issues. New York, v. a. S. 55–63;  MGFA (1975), S. 47 f., S. 175 f.

5 NATO-Dokument MC 14/3 v. 16.01.1968, angenommen vom Military Committee am 13.9.1967 als MC 14/3: Overall Strategic Concept for the Defense of the NATO Area; vgl. auch MGFA (1975), S. 181; Nübel, Christoph (2019), Dok. 91 („Flexible Response“ und Bundeswehr), S. 393–403; vgl. auch Stratmann, K. P. (1981): NATO Strategie in der Krise? Militärische Optionen von NATO und Warschauer Pakt in Mitteleuropa. (Internationale Politik und Sicherheit, Bd. 5.) Baden-Baden, S. 59 ff.

6 Lutsch, Andreas (2020), S. 345–360, S. 388 ff., insbesondere S. 346–350, S. 355–357, S. 389–390; Nübel, Christoph (2019), Dok. 114 („Vorläufige Richtlinien für den defensiven taktischen Ersteinsatz von Atomwaffen durch die NATO“ – Ihre Bedeutung für die BRD), S. 515–520.

7 Vgl. Lutsch, Andreas (2020), S. 358 f.

8 Vgl. Lutsch, Andreas (2020), S. 348, Fußnote 14. 

9 Vgl. Lutsch, Andreas (2020), S. 357 mit Fußnote 63.

10 Insgesamt verfügte die UdSSR in allen strategischen Richtungen über etwa 21.700 taktische Atomgefechtsköpfe, davon 6700 für Heereskräfte, 3000 für die Luft- und Raketenabwehr, 7000 für die Luftwaffe und 5000 für die See- und Seeluftstreitkräfte. Zagorski, Andrei (2011): Russia’s Tactical Nuclear Weapons: Posture, Politics and Arms Control. Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik. IFSH Heft 156, Hamburg, S. 16, Table 2; vgl. auch Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abg. Dallmeyer u. a. und der Fraktion der CDU/CSU – Drucksache 9/653 – vom 30. Juli 1981, Anlage A. (Stand: 28.5.2020).

11 „Speech of the President of the Republic Emmanuel Macron on the Defense and Deterrence Strategy, 7.2.2020“. www.elysee.fr/en/emmanuel-macron/2020/02/07/speech-of-the-president-of-the-republic-on-the-defense-and-deterrence-strategy; vgl. Auch Tertrais, Bruno (2019): French nuclear deterrence policy, forces and future. Paris, Januar 2019, S. 31–39. www.frstrategie.org/sites/default/files/documents/publications/recherches-et-documents/2020/202004.pdf (Stand: 28.5.2020).

12 Lutsch, Andreas (2020), S. 736 ff.

13 MGFA (1975), S. 182.

14 MGFA (1975), S. 176–177; ausführlich bei Lutsch, Andreas (2020), S. 368–373, S. 379–401, S. 407–432.

15 Vgl. Richter, Wolfgang (2018): „Der INF-Vertrag vor dem Aus. Ein nuklearer Rüstungswettlauf könnte dennoch vermieden werden“. SWP-Aktuell 2018/A 63, November 2018. www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2018A63_rrw.pdf (Stand: 28.5.2020).

16 Kimball, Daryl und Reif, Kingston (Hg.) (2019): „U.S.- Russian Nuclear Arms Control Agreements at a Glance. Fact Sheets & Briefs“. Februar 2019, (Druck-)S. 2. www.armscontrol.org/factsheets/USRussiaNuclearAgreements (Stand: 28.5.2020).

17 „Schlussdokument der Ersten Konferenz zur Überprüfung der Wirkungsweise des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa und der Abschließenden Akte der Verhandlungen über Personalstärken“ (vom 31.5.1996). In: Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr (2006): Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) – Textsammlung. Bd. 2. Geilenkirchen, S. 29 ff.; vgl. auch Richter, Wolfgang (2019): „Erneuerung der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa. Vom Gleichgewicht der Blöcke zur regionalen Stabilität in der Krise“. SWP-Studie, Juli 2019, S. 14. www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2019S17_rrw.pdf (Stand: 28.5.2020).

18 Kimball, Daryl und Reif, Kingston (Hg.) (2019), (Druck-)S. 5.

19 NATO (2010): „Strategic Concept For the Defence and Security of The Members of the North Atlantic Treaty Organisation, Adopted by the Heads of State and Government in Lisbon“. (Active Engagement, Modern Defence.) 19th November 2010, No. 17-19, 26.

20 „Founding Act on Mutual Relations, Cooperation and Security between NATO and the Russian Federation“. Paris, 27.5.1997, Section IV. Political-Military Matters. www.nato.int/cps/en/natolive/official_texts_25468.htm (Stand: 28.5.2020).

21 Überblick bei Richter, Wolfgang (2019), S. 33 ff.

22 NATO (2014): „Wales Summit Declaration“. Presseverlautbarung 120/2014, 5.9.2014, Nr. 8, 16–23 www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_112964.htm (Stand: 28.5.2020). NATO (2016): „Warsaw Summit Communiqué“. Presseverlautbarung 100/2016, 9.7.2016, Nr. 36–41. www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_133169.htm ; NATO (2018): „Brussels Summit Declaration“. Presseverlautbarung 74/2018, 11.7.2018, Nr. 6, 47. www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_156624.htm (Stand: 28.5.2020).

23 Vgl. die Tabelle in Davenport, Kelsey und Reif, Kingston (2019): „Nuclear Weapons: Who Has What at a Glance. Fact Sheets & Briefs.“. www.armscontrol.org/factsheets/Nuclearweaponswhohaswhat (Stand: 28.5.2020).

24 U.S. Department of Defense, Office of the Secretary of Defense (2018): Nuclear Posture Review (NPR) 2018. S. 8, S. 30, S. 53 f.; Colby, Elbridge (2018): „Against the Great Powers: Reflections on Balancing Nuclear and Conventional Power“. In: Texas National Security Review, Nov. 27, 2018. tnsr.org/2018/11/against-the-great-powers-reflections-on-balancing-nuclear-and-conventional-power (Stand: 28.5.2020); Loukionova, F. A. (2017): „The Evolving Russian Concept of Strategic Deterrence: Risks and Responses“. In: Arms Control Today No. 47 (6), S. 15–20; Congressional Research Service (2019): „Russia’s Nuclear Weapons: Doctrine, Forces, and Modernization.“ August 5. crsreports.congress.gov R45861, S. 3–7 (Stand: 28.5.2020).

25 U.S. Department of Defense (2018), S. X ff., S. XIV, S. 22–23, S. 34–35, S. 48 f., S. 54 f., S. 61

26 Vgl. Azadeh, Zamirirad (2020): „Die Atomvereinbarung mit Iran. Gegenstand, Genese, Gefahren“. 15.5.2020. www.bpb.de/apuz/309940/die-atomvereinbarung-mit-iran (Stand: 28.5.2020).

27 Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons. UN General Assembly A/CONF.229/2017/8 of 7 July 2017, Preamble, Article 1 1. (a)–(g). 

28 Vgl. Vogel, Dominic (2020): „Tornado-Nachfolge: Fähigkeiten und Anpassungszeiträume sind entscheidend“. SWP-Aktuell Nr. 36, Mai 2020. www.swp-berlin.org/publikation/tornado-nachfolge-faehigkeiten-und-anpassungszeitraeume-sind-entscheidend/ (Stand: 28.5.2020).

29 Vgl. Lutsch, Andreas (2020), S. 368 ff., S. 407 ff.; S. 485 ff.; „Nuclear Planning Group (NPG)“. Updated 28 May 2019. www.nato.int>cps>topics_50069 (Stand: 28.5.2020).

30 Vgl. Pifer, Steven (2018):„US Nukes in Poland are a truly bad idea“. May 18, 2020. www.brookings.edu>2020/05/18 (Stand: 28.5.2020). (Die US Botschafterin in Warschau, Georgette Mosbacher, hatte am 15.5.2020 vorgeschlagen, die B 61-Bomben aus Büchel nach Polen zu verlegen.)

Zusammenfassung

Oberst a. D. Wolfgang Richter

Oberst a. D. Wolfgang Richter ist Mitglied der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Bis 2009 war er Leiter des militärischen Anteils der Ständigen Vertretung Deutschlands bei der OSZE in Wien, zuvor unter anderem Abteilungsleiter (globale und europäische Rüstungskontrolle) im Zentrum für Verifikationsaufgaben der Bundeswehr. Voraus gingen Verwendungen als Fallschirmjägeroffizier und im Generalstabsdienst, unter anderem im Bundesministerium der Verteidigung und beim NATO-Hauptquartier SHAPE in Mons (Belgien).

wolfgang.richter@swp-berlin.org


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